Читать книгу Die Erbschaft - Elisa Scheer - Страница 6

Kapitel 5

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„Nein“, antwortete ich, „ich hab ihn gestern mit der übrigen Post abgeholt. Da war noch alles in Butter – hab ich dummes Huhn wenigstens geglaubt. Nein, ich glaube nicht, dass er mich verklagt, weil ich meine drei eigenen CDs, die ich schon vor ihm hatte, mitgenommen habe und mein Fotoalbum.“

„Dann mach den Brief doch endlich mal auf!“

Ich drehte den Umschlag unentschlossen hin und her. „Von einem Rechtsanwalt Antrack hab ich noch nie gehört. Vielleicht hab ich irgendeine Rechnung nicht bezahlt? Aber ich wüsste auch nicht, was das sein sollte, ich hab seit Weihnachten nichts mehr gekauft, und da hab ich alles bar bezahlt. Ich glaube, das ist ein Irrläufer, die meinen gar nicht mich.“

Cora schnaufte. „Mach ihn auf oder ich tu´s! Was sollen denn die albernen Mutmaßungen? Es steht bestimmt drin, worum es geht!“

„Und wenn er gar nicht für mich ist? Dann hab ich einen fremden Brief geöffnet. Das hab ich nicht mal mit Christians Privatbriefen gemacht!“ „Aber er mit deinen schon, oder?“

„Nein, ich kriege keine privaten Briefe, außer von meiner Cousine in Niedersachsen. Na gut, ich mache ihn jetzt auf. Meinst du, ich soll wirklich?“

„Ist ja schlimmer als bei Günther Jauch! Ja, du sollst! Wenn er nicht für dich ist, ist das nicht dein Problem, wenn die ihn falsch adressieren. Los jetzt!“ Ich warf ihr einen zweifelnden Blick zu und schob den Zeigefinger unter die Lasche. Gutes Papier, stellte ich fest, als ich den Bogen entfaltete.

Dr. jur. Wolfgang Antrack

Rechtsanwalt

Avenariusgasse 14

Tel. 14 81 36

Sehr geehrte Frau Sarah Ulitz,

wir bitten Sie, wegen einer Erbschaftsangelegenheit umgehend mit uns Kontakt aufzunehmen, damit wir einen Termin vereinbaren können, um die Einzelheiten zu besprechen.

Mit freundlichen Grüßen,

W. Antrack

„Was für ein Blödsinn“, kommentierte ich und reichte den Bogen Cora, „wer sollte mir denn was vererben? Ich wusste doch, dass das ein Irrläufer ist!“

Cora las das kurze Schreiben und sah dann auf. „Sag das nicht! Jeder Mensch hat obskure Verwandte, die ihm irgendwelchen Schrott hinterlassen. Soll ich schnell da anrufen und einen Termin ausmachen? Für Montag, wenn´s geht?“

„Tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich wette mit dir, dass die gar nicht mich meinen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Gott, bist du stur!“ Im nächsten Moment wählte sie schon.

„Ja, grüß Gott, mein Name ist Cora Beckmann, ich rufe im Auftrag von Frau Ulitz an. Sie hat gerade Ihr Schreiben erhalten und möchte nun einen Termin vereinbaren.

- Montag um zehn? Gut, das passt ihr bestimmt.

- Sagen Sie – sind Sie sicher, dass sie die richtige Adressatin ist? Frau Ulitz bezweifelt, dass sie gemeint sein kann, sie behauptet, keine Verwandten zu haben.

- Moment, ich frage nach.“

Sie deckte den Hörer ab und zischte. „Sarah! Dein Geburtsdatum?“

„7. Oktober 1971“, zischte ich zurück, und sie wiederholte es in den Hörer.

„Tatsächlich? Das hab ich mir doch gleich gedacht.

- Nein, sie ist im Moment leider nicht verfügbar.

- Ja, vielen Dank, bis Montag dann.“

Cora legte auf. „Der meint sehr wohl dich! Wieviele Sarah Ulitz mit dem Geburtsdatum kann es in einem Kaff wie unserem schon geben?“

„Stimmt. Aber ich hab echt überhaupt keine Verwandten, bloß diese Cousine.“

Cora schenkte Saft nach. „Erzähl mir das mal genauer! Ich weiß nur, dass deine Mutter dich alleine großgezogen hat. Vielleicht hat dein Vater dir was vererbt?“

„Technisch unmöglich“, wehrte ich ab, „sie hat ja gar nicht gewusst, wie er heißt, also hat sie ihm auch nie sagen können, dass diese Fete Folgen gehabt hat.“

„Sie haben dich auf einer Fete produziert? Das nenne ich Party machen!“, kicherte Cora.

„Ja... bloß hat Mutti nachher ziemlich dumm geschaut. Und weil das eine kommerzielle Uniparty war, also ohne Einladungen, kannte keiner den Typen. Angeblich hieß er Oliver, aber das stimmte wohl gar nicht. Meine Oma war damals schon tot, und mein Großvater hat Mutti dann vor die Tür gesetzt, sie hat ihr Studium abgebrochen und sich mit Bürojobs durchgeschlagen. Der alte Sack muss schon seit Jahren tot sein und in der Hölle braten, keine Ahnung, wie er geheißen hat.“

„Ich nehme doch an, Ulitz, wie du und deine Mutter, oder?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Oder Mutti musste ihren Namen ändern.“

„Das hast du aus einem englischen Krimi, was? Bei uns geht das überhaupt nicht, das Personenstandsgesetz - oder weiß der Geier wie das heißt - ist viel zu streng. Nicht mal, wenn du Achselschweiß mit Nachnamen heißt, kennen die Behörden Erbarmen! Vergiss diese Theorie, der hieß Ulitz, genau wie du. Aber wenn der schon lange tot ist, wer bleibt dann noch?“

„Nur Irma. Sie ist eine Urenkelin von der Mutter meiner Großmutter, hat einen Pferdezüchter geheiratet und schon vier Kinder. Ich hab sie das letzte Mal gesehen, als sie geheiratet hat. Das ist fast zehn Jahre her. Das war´s, ich hab sonst keine Familie, keine Erbtanten, niemanden, der mir einen Stapel alter Bücher oder einen mottenzerfressenen Persianermantel hinterlassen würde. Also muss das alles ein Irrtum sein, auch wenn der Name stimmt.“

„Pass auf, wir werden das am Montag ja sehen. Soll ich mitkommen?“

„Ja, bitte – ach nein, du musst ja auch mal was arbeiten, ich stehle dir schon genug Zeit.“

„Sarah, du bist so albern, dass es schon brummt. Du stiehlst mir überhaupt keine Zeit, das würde ich gar nicht zulassen. Wenn ich keine Zeit habe, dann sage ich dir das schon. Am Montag kann ich mir locker noch mal freinehmen. Ich hab mindestens hundert Überstunden angehäuft!“

Ich umarmte sie trübsinnig. „Du bist so lieb zu mir!“

„Das wärst du umgekehrt doch auch, oder?“

Ich versuchte, mir die umgekehrte Situation vorzustellen. „Christian hätte getobt, wenn ich mir frei genommen hätte. Und wenn du in unserem – ach, Blödsinn, in seinem – Gästezimmer wohnen würdest, wäre er eifrig bemüht, dich da schnellstens wieder rauszukriegen. Ich alleine – das wäre natürlich was anderes...“

„Jetzt geht es ja darum, was du alleine tätest. Wenn mir Freddys Mutter mit ihrem albernen Herzen mal den letzten Nerv geraubt hat, werde ich bei dir kampieren. Blödsinn, warum sollte ich? Das hier ist doch meine Wohnung, meine ganz allein. Ich glaube, du bist ansteckend, ich werde schon ganz wirr im Kopf.“

Sie stand auf. „Hast du Hunger?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Sag bloß, du willst abnehmen, bis du in deine neuen Jeans passt!“

„Ich hab bloß keinen Hunger, mir ist das alles auf den Magen geschlagen. Ein Schnaps wäre mir lieber."

„Den kriegst du aber nicht, sonst noch was, es ist ein Uhr mittags! Komm, ich mache die tiefgefrorene Lasagne in der Mikrowelle heiß, und dann teilen wir sie uns.“

Bäh! Aber als Gast muss man höflich sein; ich deckte brav den Tisch und schob mein Lasagnestück danach auf dem Teller hin und her. Cora besah sich das eine Zeitlang, dann schickte sie mich ins Bett: „Du brauchst ein Schläfchen, das war wohl alles ein bisschen viel für dich. Pass auf, nachher gehen wir ins Ratlos, der Name passt zu deiner Stimmung. Hannah geht sicher auch mit. Dort kriegst du ein Bier, bis dahin hast du vielleicht wirklich mal Hunger, Hannah erzählt von den Idioten, die sie so kennen gelernt hat, wir spielen und blödeln ein bisschen, du kriegst noch ein Bier... Wie klingt das?“

„Der Teil mit dem Bier klingt gut“, gab ich zu und trug meinen Teller nach draußen.

Mittagsschlaf – das hatte ich nicht mehr gemacht, seitdem ich in die zweite Klasse gekommen war! Wahrscheinlich konnte ich überhaupt nicht schlafen, nicht mit den Sorgen, die ich mir machen musste. Ich war aber durchaus willens, es zu probieren, schälte mich aus der Seidenbluse und dem Tweedrock und kuschelte mich unter die Bettdecke. Was hatte ich falsch gemacht? Lag es daran, dass ich zu pflegeleicht gewesen war? Mich Christians Vorstellungen immer gefügt hatte? Wäre ich interessanter gewesen, wenn ich ab und zu auch mal eigene Positionen vertreten hätte? Oder hätte ihn das nur irritiert? Hätte ich auch mal auf meine eigenen Interessen achten sollen? Hatte ich denn überhaupt noch eigene Interessen gehabt? Was war mir bis gestern so durch den Kopf gegangen? Der Haushalt, die Arbeit, Christians Erfolg, die Hoffnung, dass er mich eines Tages heiraten und ich Kinder von ihm haben würde... Wie ich mit den knapp dreihundert Euro, die mir im Monat so blieben, eine Garderobe und ein Auftreten finanzieren konnte, die Christian keine Schande machten, wie ich ihm das Leben angenehm machen konnte.

Wenn ich einen Mann hätte, der sich nur nach meinen Interessen richtete – würde mir das gefallen? Nein, das wäre sterbenslangweilig. Hatte Christian sich mit mir gelangweilt? Warum hatte er nichts gesagt? Er wusste doch, wie bereitwillig ich mich ihm zuliebe geändert hätte, vor fünf Jahren hatte ich mich schließlich auch ummodeln lassen.

Oder war das gerade das Langweilige, dass ich auch nur widerborstig geworden wäre, weil er das gewollt hätte? War ich zu fügsam? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie hätte ich sein müssen, um Christian auf Dauer zu fesseln? Rätselhafter? Unberechenbar? Aber wenn ich gelegentlich mal widersprochen hatte, hatte er nicht unbedingt begeistert reagiert, eher genervt, und mir in seinem überlegenen Tonfall erklärt, warum meine Ansicht nicht richtig war. Dann hatte ich wieder nachgegeben, weil er ja ohnehin besser Bescheid wusste. Wie hätte ich in dieser Situation reagieren müssen, um sein Interesse zu wecken? Schwer zu sagen...

Als Cora an meine Tür klopfte, wachte ich nur mühsam wieder auf. War ich doch tatsächlich eingeschlafen! Und ich hatte einen seltsamen Traum gehabt, in dem eine sehr zickig aussehende Frau einen Kinderwagen herumschob. Ob das die stilvolle Charlotte war? Ich hatte ja keine Ahnung, wie sie wirklich aussah. Cora klopfte wieder und trat ein. „Gut, du bist wach! Ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil du nicht geantwortet hast. Gut geschlafen?“

„Geht so. Ich glaub, ich hab von der Edeltussi geträumt. Dabei kenn ich die überhaupt nicht!“

„Das lässt sich ändern!“ Coras dunkle Augen funkelten aufgeregt. „Wir kriegen das alles noch raus, pass bloß auf.“

„Nein, das will ich nicht, das macht man nicht. Und nachher denkt Christian nur, ich trauere ihm noch nach. Der ist eingebildet genug.“ Ich dehnte und reckte mich und kletterte aus dem Bett. Cora musterte mich. „Schönere Wäsche brauchst du auch mal. Wer hat dir denn diesen schlichten hautfarbenen Kram eingeredet?“

„Dreimal darfst du raten“, antwortete ich müde und öffnete den Kleiderschrank.

„Ist ja nicht auszuhalten! Wetten, die Edeltussi hüllt sich in Seide und Spitze?“

„Wahrscheinlich. Die muss ja wohl auch nicht mit dreihundert Euro im Monat die Dame von Welt spielen.“

Cora stand auf. „Was hast du für eine BH-Größe?“

„75 B, warum?“

„Ich hab eine Garnitur, da sitzt bei mir der BH ein bisschen schief, und zum Wegschmeißen ist sie zu schade. Jetzt werde ich sie endlich los – hoffentlich!“ Sie eilte aus dem Zimmer und war nur ein Blinzeln später wieder da, mit einer Handvoll champagnerfarbener Seide und grauer Spitze.

„Das sieht ja toll aus! Und das willst du nicht mehr?“

„Nein, ich hab schon ewig an den BH-Bügeln herumgebogen, aber sie sind mir an den Seiten zu eng. Bitte, schaff mir das Zeug vom Hals, ich kann es doch nicht in die Altkleidersammlung werfen!“

Wer konnte da widerstehen? „Gerne. Aber vorher dusche ich erst noch mal, ja? Nach dem Schlafen brauche ich das.“ Als ich zurückkam, probierte ich die Garnitur – sie saß wie angegossen und ich fühlte mich richtig verrucht, obwohl an der Wäsche nichts Aufreizendes war, kein Stringtanga oder sonstige Erotikdetails. Einfach nur schön, wie in einer Seifenoper bei reichen Leuten. Spontan umarmte ich Cora. „Danke! Man fühlt sich gleich ganz anders!“

Ich zwängte mich in die hellblauen Jeans und zog mir das lavendelblaue Sweatshirt über. Strümpfe, Ballerinas – ein Blick in den Spiegel: Ich sah völlig anders aus, lässig und vergnügt, jünger auch, fand ich.

„Morgen gehen wir ein bisschen Wäsche kaufen, ja? Mit einem BH und zwei Slips kommst du nicht weit genug. Ich weiß, wo es nette und nicht allzu teure Sachen gibt. Und denk dran, solche Wäsche muss man in einem Wäschenetz waschen, wenn du sie in die Maschine gibst. Netze liegen neben den Waschpulvertaps im Küchenschrank. Sag mal, du blühst ja richtig auf!“

Ich drehte mich fasziniert vor dem Spiegel. „Tolles Gefühl. Und ich sehe ganz anders aus!“

„Jetzt siehst du richtig aus, finde ich. Komm, wir treffen Hannah um halb sechs im Ratlos, und es ist schon zehn nach fünf.“

Das Ratlos war nicht allzu weit weg. Ich war schon oft daran vorbeigekommen, hatte es aber noch nie betreten, denn Christian hielt nichts von solchen Studentenkneipen, wie er sie mit abfälligem Unterton zu nennen pflegte.

Mit fiel auf, dass Christian alles, was nicht in seine Vorstellung vom richtigen Leben passte, mit diesem etwas abfälligen Ton bedachte. Mich mittlerweile sicher auch!

Von einem Vierertisch in der Ecke winkte jemand. „Da ist Hannah! Komm, bevor sie den Tisch nicht länger sichern kann!“ Cora zog mich hastig in die entsprechende Richtung. Erst als wir saßen, hatte ich Gelegenheit, mich in dem Lokal umzusehen. Gemütlich! Leicht vergammelt, aber gemütlich. Erinnerte mich an meine ersten Semester, solides Holzmobiliar, alte Veranstaltungsplakate, neben der Theke eine Tafel, auf der die Tagesgerichte standen, Currysalat, Champignontoast, gefüllte Paprika, gebackener Fisch mit Kartoffelsalat... den Rest konnte ich auf die Entfernung nicht entziffern, weil jemand wohl gemerkt hatte, dass die Tafel schon fast voll war und dementsprechend immer kleiner gekritzelt hatte.

Hannah sah sehr sympathisch aus, groß, kräftig, braune, halblange Locken, grünliche Augen, vergnügte Miene. Sie hatte einen Zettel vor sich liegen und einen Stift wie eine Zigarette im Mundwinkel hängen.

„Du hast schon angefangen?“, fragte Cora neugierig. „Hast du schon was gefunden?“

„Ja, eins. Warum öffnen die Leute in Krimis Türen immer mit Kreditkarten? Es ist doch total peinlich, mit der kaputten Karte hinterher zur Bank zu schleichen. Man kann schließlich alte Telefonkarten nehmen!“

Ich verstand gar nichts und schaute wahrscheinlich entsprechend dumm. Cora lachte. „Wir sammeln Rätsel des Alltags, das soll eine neue Webseite werden. Jedes Rätsel muss mit Warum beginnen. Du kannst uns helfen, das lenkt dich nur ab.“

Ich überlegte. „Warum sind Männer so blöd?

„Nein, das ist zu allgemein. Du musst die Situation genauer beschreiben. Ich weiß was!“

„Nämlich?“ Hannah nahm den Stift aus dem Mund und hielt ihn schreibbereit. „Warum spucken Männer auf den Boden?

„Um ihr Terrain zu markieren. So wie Hunde an alle Ecken pinkeln“, antwortete ich mechanisch.

„Echt? Woher weißt du das?“, fragte Hannah neugierig. „Hab ich mal irgendwo gelesen.“

„Wenn man bedenkt, dass Männer ja eine ziemlich niedrige Lebensform sind, klingt das durchaus plausibel“, murmelte Hannah und schrieb die Frage auf, samt Antwort in Stichpunkten. „Warum gelten Blondinen als doof?“. schlug Cora vor. „Hm, gut. Aber weißt du die Antwort?“

„Nein, das stellen wir zur Diskussion.“

„Warum macht ihr das?“, wollte ich wissen, nachdem wir bestellt hatten. „Das ist doch bloß Umfeld für Werbebanner, um an der Werbung zu verdienen. Gibt extra Kohle. So was hab ich schön öfter gemacht“, erklärte Cora.

„Ah ja. Ich weiß noch was! Warum fangen im Fernsehen alle amerikanischen Telefonnummern mit 555 an?“

„Stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen! Gute Frage.“ Hannah schrieb mit. „Sollen wir die Fragen nach Themen sortieren?“

„Ja, wenn wir mehr als vier Fragen haben. Wir können ja nicht jede Woche nur vier Fragen zur Diskussion stellen. Und wir müssen die Antworten sammeln und vielleicht eine Belohnung für die lustigste Antwort aussetzen.“

„Und wenn wir die ultimative Antwort haben, schreiben wir sie dazu und sperren die Frage. So wird der Einsender berühmt... Ist das nicht Belohnung genug?“

„Geiznickel. Ein Buch oder so kann man als Belohnung schon noch opfern. Ich kümmere mich dafür um Werbekunden“, versprach Cora.

Ich dachte fieberhaft nach. Ultimative Fragen mussten sich doch finden lassen! Warum, warum... „Warum geht immer alles schief, wenn man es besonders eilig hat? Das wollte ich immer schon mal wissen.“

„Weil man, wenn man es eilig hat, herumhudelt. Aber die Frage ist in Ordnung.“ Hannah schrieb sie auf. Die Bedienung brachte drei Bier, zweimal Fisch und für mich einen Champignontoast. Er schmeckte ausgezeichnet, obwohl ich nicht viel Hunger hatte.

„Sag mal, du hast doch auch über JobTime eine Stelle gefunden, oder?“, fragte ich Hannah zwischendurch.

„Stimmt. Macht total viel Spaß. Mein Studium war der letzte Mist, stell dir vor, ich hab Philosophie studiert, völlig sinnlos. Und der erste Einsatz bei JobTime hat sich gleich als Dauerstellung entpuppt. Naja, ich bin noch in der Probezeit, aber nicht mehr lange.“

„Hoffentlich finde ich auch schnell was Dauerhaftes“, murmelte ich.

„Was hast du vorher gemacht?“

„Die Buchhaltung im Steuerbüro meines Freundes, aber er hat mir gestern erzählt, dass er die Frau fürs Leben kennen gelernt hat. Und das war´s dann wohl!“

„Ganz schön heavy“, kommentierte sie und warf mir einen mitleidigen Blick zu. „Ja, in zehn Minuten alles weg – Wohnung, Job, Liebe, Lebensplanung. Bloß gut, dass ich Cora hab, die richtet mich wieder auf.“

„Und einen neuen Job hast du schon wieder?“

„Leider bloß Ablagearbeiten. Solange Christian mir kein Zeugnis gibt, komme ich an Finanzjobs nicht mehr heran.“

„Der schreibt dir eins, und wenn ich´s aus ihm rauswürgen muss“, versprach Cora finster.

„Dein Ex scheint ja eine mehr als obskure Gestalt zu sein“, stellte Hannah fest.

„Peinlich, wenn einem das erst im Nachhinein auffällt, was?“ Ich trank einen großen Schluck Bier.

„So was merkt man oft erst ganz am Ende“, tröstete Hannah. „Ich kann dir da Sachen erzählen!“

„Nicht schon wieder der Ökofuzzi!“, stöhnte Cora, „die Story kenn ich schon.“

„Dann geh derweil aufs Klo“, sagte Hannah mitleidlos, „ich finde, die Story ist für Sarah durchaus hilfreich.“

Cora verschwand ärgerlich in den hinteren Regionen, und Hannah erzählte mir eine wahre Räuberpistole über einen Kurt, der sich vor lauter Ökologie schließlich nicht mehr gewaschen und nur noch Sojabohnenbrei gegessen hatte. Ich kicherte beim dramatischen Finale und wurde auch noch mit der Geschichte von Lorenz belohnt, der der Ansicht war, emanzipierte Frauen (die er im Prinzip gut fand), müssten ihre Männer durchfüttern und sich auch sonst um alles selbst kümmern. „Wozu hast du ihn dann noch gebraucht?“

„Das hab ich mich gegen Ende auch gefragt“, gab Hannah zu, „und dann hab ich diese Frage an ihn weitergereicht. Erst war er baff, dann hat er auf seine Liebeskünste hingewiesen, die pro Monat höchstens einen Zehner wert waren, und dann wurde er sauer: Typisch Frau, dass ich nur auf meinen Nutzen schaue! Und dann hab ich ihn rausgeschmissen.“

„Emanzipation heißt schließlich auch, dass man von der Opferrolle wegkommt“, steuerte ich bei und staunte über die Weisheit, die mir seit gestern so zuflog. Welche Rolle hatte ich denn Christian gegenüber eingenommen? Da hatte ich mir doch wirklich alles bieten lassen! Ich trank mein Bier aus und bestellte umgehend ein neues. Cora kam vom Klo zurück und tadelte die Bedienung. „Birgit, ihr wolltet doch das Klo mal renovieren? Da ist ja immer noch nichts passiert!“

„Ja mei“, seufzte Birgit, „es gibt immer was Dringenderes zu tun. Ostern, vielleicht.“

„Oder Pfingsten oder nie, was? Ihr bastelt wohl immer noch an der Wohnung herum?“

„Ja, aber jetzt ist sie ziemlich fertig und wunderschön geworden. Irgendwann machen wir mal eine Fete, an einem Sonntag, sonst können wir ja nie. Noch was zu essen? Schmeckt es dir nicht?“, fragte sie mich.

Ich fuhr zusammen. „Doch, köstlich, aber ich habe keinen rechten Appetit.“

„Liebeskummer?“

„So ähnlich“, gab ich zu, und Birgit nickte. „Moment!“

Kurz darauf kam sie mit drei Gläsern Prosecco zurück. „Geht aufs Haus. Trinkt darauf, dass der Mistkerl die Hölle durchmacht, ja?“ Ich musste lachen, wir stießen auf Christians kommende Nöte an und kippten den Prosecco auf Ex, Dann schüttete ich mein Bier hinterher.

„Sarah, wenn du derartig säufst und so wenig isst, bist du im Handumdrehen hackedicht“, mahnte Cora leise, aber mir war das egal, ich wollte ja heute Nacht schlafen und nicht wieder darüber nachdenken, was ich bei Christian falsch gemacht hatte. „Warum glauben Frauen immer, dass sie eine Beziehung versiebt haben?“, fragte Cora Hannah, die das sofort aufschrieb und dann nachdenklich am Kugelschreiber kaute. „Weil man Frauen zur sozialen Kompetenz erzieht und Männer nicht?“

„Oder weil bei Frauen die Hirnhälften stärker vernetzt sind, so dass sie sozial wirklich kompetenter sind?“, schlug Cora selbst vor.

„Kann durchaus sein“, murmelte Hannah und notierte das. Ich winkte Birgit und hielt mein leeres Bierglas hoch. Übrigens hatte Cora Recht gehabt, man gewöhnte sich an die engen Jeans; seit dem ersten Hinsetzen, das sich wie ein Schlag in den Magen angefühlt hatte, hatte der Druck merklich nachgelassen. „Warum müssen Frauen schön sein, aber nicht klug?“, fragte Hannah jetzt.

„Das ist uralt“, tadelte Cora, „weil Männer besser gucken als denken können.“ Ich kicherte trotzdem, ich kannte den Spruch noch nicht. Ah, mein neues Bier! Und Birgit hatte sicherheitshalber ein Tütchen Chips mitgebracht: „Damit du den Alkohol auch verträgst!“

Ich bedankte mich und riss das Tütchen auf. Lecker, Walker´s mit Tomatengeschmack, die waren schwer zu kriegen, das wusste ich, denn Christian hatte phasenweise darunter gelitten, kein englischer Anwalt zu sein und mich meine Einkäufe nur noch im British Store erledigen lassen. Natürlich nur, bis ihm aufgefallen war, wie teuer das kam. Danach war Schluss mit edelster Orangenmarmelade, feinstem Tee und Salt&Vinegar-Chips; englische Anzüge liebte er freilich heute noch, wenn er auch nur einen einzigen besaß, und der war zu seinem Leidwesen nicht in der Savile Row maßgeschneidert, sondern von Harrod´s von der Stange.

Coras Finger entführten einen schönen großen Chip. „Ich weiß was! Aber das ist nicht mehr ganz jugendfrei.“

„Lass hören“, verlangte Hannah begierig. „Na gut. Warum können Frauen keine Größen schätzen?“

„Warum?“, wollte ich wissen. Cora hielt ihren Zeigefinger hoch. „Weil man ihnen immer einredet, das seien zwanzig Zentimeter!“

Verstand ich nicht. Hannah guckte einen Moment verblüfft, dann prustete sie hilflos in ihr Bier. „Der ist super!“, verkündete sie, sobald sie wieder sprechen konnte. Ich schaute immer noch ratlos drein, bis Cora mein Gesicht sah. „Sarah, denk nach! Wo wären Männer immer gerne besser bestückt, als sie es von Natur aus sind?“

Ach so! Ja, wirklich lustig, vor allem nach drei Bier und einem Prosecco.

Hannah und Cora sammelten noch ein bisschen weiter, während ich mich auf mein nächstes Bier konzentrierte und dazu die Chips aufaß. Viele waren es nicht, und meinen Zustand konnten sie auch nicht mehr retten, ich hatte ganz nett einen sitzen.

Gegen elf warf Cora mir einen schrägen Blick zu. „Sarah, du musst ins Bett, du bist besoffen.“

„Bin ich nicht“, protestierte ich schwächlich. Betrunkene Frauen, das hasste Christian wie die Pest. Der Gedanke brachte mich dazu, noch ein Bier zu bestellen, aber Birgit kam ohne Bier an unseren Tisch.

„Sarah, ich glaube, du hast genug. Du wirst dich morgen grässlich fühlen, geh lieber heim.“

Alle wussten mal wieder alles besser, aber na gut, ich war wirklich müde. Mühsam erhob ich mich. Geradestehen konnte ich noch, und ich kam auch ohne Hilfe in meinen Mantel, aber die anderen hatten Recht – für heute war es genug. „Danke, war ein lustiger Abend“, nuschelte ich zu Hannah und zahlte meine Zeche. Cora nahm meinen Arm und dirigierte mich zur Tür hinaus, während ich Hannah und Birgit noch zuwinkte.

Die kalte Nachtluft traf mich wie ein Schlag, und plötzlich wurde mir schwindlig. „Ist dir schlecht?“, fragte Cora besorgt. „Nein, ich hab nur einen Sauerstoffrausch. Geht gleich wieder. Tut mir Leid, dass ich mich so betrunken habe, du wärst sicher gerne noch länger geblieben, nicht?“

„Macht nichts, wir gehen noch öfter hierher. Hauptsache, du hast dich amüsiert. Hast du doch?“

„Ja“, gab ich zu. „Hannah ist nett. Und euer Spiel ist witzig. Darf ich weiter mitsammeln?“

„Musst du sogar! Wir wollen mindestens so bekannt werden wie die Weicheiliste.“

„Kenn ich nicht“, murmelte ich träge und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Cora schnaufte. „Sag mal, an der Seite deines Christian hast du wohl sämtliche Trends verpasst, was?“

„Wahrscheinlich. Christian liebt das zeitlos Schöne. Und das Internet wird nur beruflich benutzt, um steuerrechtliche Grundsatzurteile abzurufen. Zu Hause hatte er gar keinen Anschluss. Nur ich, für den Laptop, falls er mal schnell Informationen brauchte.“

„Ach, dein Laptop war also auch nur für das Büro da?“

„Klar, aber ich hab ihn selbst bezahlt, also hab ich ihn auch mitgenommen. Da hab ich lange gespart. Und fast meine ganzen Rücklagen verheizt. Das war vor zwei Jahren. Aber er wird sicher Angst haben, dass ich Firmensoftware drauf hab. Ach, er ist so ein Schwein… aber die Rechnung ist in meinem Ordner, ätsch!“

„Dieser Christian ist wirklich unglaublich. Ich denke, wir tun ihm doch noch was an!“

„Nein. Nur wenn er anfängt!“

Cora brummte und schloss die Haustür auf. Immerhin schaffte ich die Treppen in guter Haltung und plumpste danach eher ungraziös ins Bett, gerade, dass ich es noch schaffte, mich auszuziehen und mir flüchtig Gesicht und Zähne zu säubern.

Am nächsten Morgen ging es mir wirklich nicht besonders gut, und ich nahm Coras Orangensaft-mit-Aspirin dankbar entgegen, als ich im Nachthemd in die Küche geschlurft kam. „Schnapsdrossel“, neckte sie mich.

„Sprich nicht so laut“, murrte ich, „aber immerhin habe ich prima geschlafen und weder von Christian noch von seiner Edeltussi geträumt.“

„Na, dann war´s das doch wert. Trink das aus, dusch dich schön lange und zieh dich an, wir wollen doch Wäsche kaufen gehen!“

„O Gott, eine Umkleidekabine ertrage ich heute nicht!“, stöhnte ich, und Cora lachte etwas hämisch.

Nach der Dusche ging es mir aber schon deutlich besser, und nach einem spärlichen Frühstück und mehreren Bechern Kaffee konnte ich dem Gedanken an Seide und Spitze schon eher ins Auge sehen. In der engen Umkleidekabine im Silk&Velvet brach mir zwar mehrfach der Schweiß aus, aber ich probierte brav jeden BH, den Cora mir durch den Vorhang reichte. In dem trüben Licht sah ich wieder mal aus wie zwanzig Jahre älter, und ich bereute jeden Schluck Bier von gestern. O Gott, ich sollte lieber nicht an das Bier denken! Ich guckte schließlich nur noch, ob die BHs saßen und wich jedem Blick in mein bleiches, verquollenes Gesicht aus. Als ich vier wirklich schöne Garnituren gefunden hatte – und pro Stück (ein BH und drei Slips) etwa fünfundvierzig Euro, das war auch nicht so teuer, fand ich, jedenfalls billiger als der hautfarbene Omalook, den Christian anständig gefunden hatte – war ich mit den Nerven am Ende.

„Hoffentlich treffe ich nicht Christian irgendwo“, murmelte ich an der Kasse, „ich sehe heute wirklich aus wie ausgespien. Nachher denkt er noch, ich hab Liebeskummer.“

„Hast du doch auch“, antwortete Cora und verstaute die Wäsche in der Tüte, die die Kassiererin uns lustlos zugeschoben hatte. „Ja, aber eigentlich bin ich eher wütend.“

„Und verkatert. Das gibt sich wieder. Etwas Make-up könnte dir aber nicht schaden, komm, wir schauen ins Kaufhaus!“

Ich folgte Cora brav und wählte ein leichtes Make-up, Wimperntusche und grünlich-bräunlichen Lidschatten aus, außerdem ein Shampoo, das den Haaren extra Glanz verleihen sollte. Neben der Kosmetikabteilung waren die Sonderangebotstische; während Cora noch bei den Parfums herumsuchte, wandte ich mich den Stapeln von Sweatshirts und Polohemden zu und wurde fündig – ein schönes Sweatshirt in blassem Türkis und zwei Polos in Gelb und Apricot. Hoffentlich überlebten die die Waschmaschine, aber sie machten einen ganz soliden Eindruck. Bunte Söckchen im Zehnerpack nahm ich auch gleich noch mit – unter Jeans brauchte ich ja nun wirklich keine edlen Strumpfhosen. Geriet ist jetzt langsam in einen Kaufrausch? Waren das Frustkäufe? Wahrscheinlich, aber der Trostfaktor war wirklich ziemlich hoch, fand ich und gönnte mir auch noch eine preiswerte und ziemlich peppige Umhängetasche.

An der Tür traf ich Cora wieder, die mich angrinste. „Komm, wir gehen Salat essen, dann siehst du gleich wieder fit aus. Oder geht Christian manchmal ins Salads & More?“

„Nein, ich glaube nicht, dass er das kennt. Mit Mandanten geht er gerne ins Médoc oder ins Charlie´s, ansonsten isst er lieber zu Hause. Da muss er kein Trinkgeld geben“, fügte ich boshaft hinzu. Cora lachte vergnügt. „Deine Lebensgeister erwachen ja wieder! Ich glaube, langsam schätzt du ihn richtig ein. Komm, ich lad dich ein!“

Wir schaufelten uns die Teller voll, und ich aß tatsächlich mit gutem Appetit, aber danach wurde ich schon wieder müde und sehnte mich nach einem Mittagsschläfchen. Den Nachmittag verbrachte ich in einem betörend duftenden Schaumbad – Cora hatte wirklich verlockende Flaschen auf ihrem Badewannenrand stehen – und dann im Morgenmantel, mit Feuchtigkeitscreme im Gesicht und Gurkenscheiben auf den Augen, auf dem Sofa, wo ich das Fernsehprogramm nur akustisch verfolgte und mich damit amüsierte, aus dem spitzem Gekreische zu schließen, worum es in dem Film ging. Irgendein Katastrophenquark mit einem Flugzeug, wahrscheinlich Airport, siebzehnter Teil.

Sobald Gurke und Creme genügend gewirkt hatten, stopfte ich meine getragene Wäsche (vorschriftsmäßig mit Netz) in die Maschine. „Nie wieder Oberhemden bügeln und leinene Tischdecken“, seufzte ich glücklich, als ich die Maschine eingeschaltet hatte, und trug den Wäscheständer ins Gästezimmer.

„Vergiss dein Leinenkleid nicht“, rief Cora mir zu. „Ja, aber das ist nur für mich, und wenn ich es nicht bügeln will, dann kann ich´s auch lassen. Ziehe ich eben was anderes an!“ Ich saß auf meinem Bett und schnitt die Preisschilder von den neuen Garnituren. Natürlich sollte man sie vor dem ersten Tragen waschen, aber das konnte ich nicht – so schön und neu waren sie eben nur vor der ersten Wäsche! Da nahm ich lieber Appreturrückstände in Kauf.

Der Schrank sah jetzt schon richtig gut aus, so, als hätte ich genug anzuziehen, um eine Arbeitswoche zu überstehen. Und lauter Klamotten, in denen Christian mich nicht wieder erkennen würde! Warum war ich auf einen solchen Idioten fünf Jahre lang hereingefallen? Und warum hatte ich mich von ihm so ausnehmen lassen?

Ich legte mich aufs Bett, sobald ich die neue Wäsche im Schrank verstaut und die nassen Klamotten aufgehängt hatte, und dachte nach. Hatte er mich ausgenommen? War das alles aus seiner Sicht nicht ganz normal gewesen? Wir hatten zusammen gelebt, zusammen gearbeitet – in einem ästhetischen Ambiente, wie er sich sein Leben eben vorstellte – und dann hatte er sich in eine andere verliebt. Was hätte er machen sollen? Darauf verzichten? Bei mir bleiben, obwohl er mich nicht mehr liebte? Hätte ich das getan? Wohl kaum... Welche Reaktion hätte ich erwartet, wenn ich ihm eine derartige Eröffnung gemacht hatte? Dass er wortlos seine Sachen gepackt hätte und verschwunden wäre? Oder hätte er mich fragen sollen, wie mir das Ganze vorstellte? Hätte er um mich kämpfen sollen? Ich wusste es selbst nicht, ich wusste nur, dass ich nicht anders hatte handeln können – ein bisschen Stolz musste ich schließlich noch zeigen dürfen. Hätte ich um eine Abfindung feilschen sollen? Mich benehmen wie eine Ehefrau, von der man sich scheiden lassen will? Hätte ich schon vor vier oder fünf Jahren auf einer Heirat bestehen sollen, um im Falle einer Trennung finanzielle Ansprüche zu haben? Aber Christian hatte mir nie angeboten, mich zu heiraten. Und diese Charlotte wollte er nun heiraten. Warum? Da gab es verschiedene Möglichkeiten, überlegte ich, die Arme im Nacken verschränkt und an die Decke starrend:

a) Er liebte sie so rasend, dass er sie durch die Heirat für sich sichern wollte. Gefiel mir nicht.

b) Er kriegte sie nicht ohne Heirat.

Blödsinn, wie war sie denn dann schwanger geworden?

c) Sie war eine gute Partie.

Vielleicht hatte sie Geld - und ganz sicher hatte sie gute Beziehungen. Wenn die ganze noble Verwandtschaft sich bei ihm die Steuererklärung machen ließ, hatte Christian so ziemlich ausgesorgt. Im Vergleich zu ihr war ich der totale Nobody.

d) Sie wollte ohne etwas Schriftliches nicht mit ihm zusammen arbeiten und er brauchte sie.

Gut, das hatte was – immerhin war sie genau wie Christian selbst fertige Betriebswirtin und nicht nur eine ordinäre Studienabbrecherin wie ich. Ja, das erschien mir überzeugend.

Alle Gründe hatten etwas Deprimierendes, wenn auch Punkt b) albern war. Aber eins war klar – sie hatte etwas, was ich nicht hatte, entweder ein faszinierenderes Wesen, einen eindrucksvolleren Background (na, das war nicht weiter schwierig!) oder die bessere Ausbildung. Dagegen konnte ich nicht an, und nachgerade fragte ich mich, ob ich das überhaupt noch wollte.

Hatte es denn Sinn, sich pausenlos abzurackern, um fremden Ansprüchen zu genügen, wenn man jederzeit von der Konkurrenz mühelos überholt werden konnte? Sogar wenn ich diese stilvolle Charlotte aus dem Feld geschlagen hätte, eines Tages wäre eine elegante Komtesse mit Prädikatsexamen oder die Tochter eines Staatsministers mit eigener Brokerkarriere und Millionenvermögen aufgetaucht und Christian hätte mich ohnehin abserviert.

Ich sollte mich in meine Nische zurückziehen, beschloss ich, Einzimmerappartement mit IKEA-Möbeln, Jeans und Sweatshirts, einfache Bürojobs, ab und zu ein Weibertratsch im Ratlos und ein friedliches Privatleben. Kein Mann im Bett war zwar ein bisschen fad, aber dafür wurde ich auch nicht angeblafft, wenn die Bettbezüge bloß aus billiger Baumwolle waren oder der Frühstückstee aus Beuteln aufgegossen wurde. Vielleicht sollte ich mir einen Vibrator zulegen, der meckerte wenigstens nicht rum, dass ich keinen Stil hatte.

Sehr fesselnd lag meine Zukunft aber nicht vor mir – ich hatte vergessen, dass die IKEA-Regale wahrscheinlich nicht nur mit Weiberrromanen (typische Frustlektüre), sondern auch mit irgendwelchem geerbten Tinnef vollgestopft sein würden. Ich sollte mich wohl unmittelbar nach dem Rechtsanwaltsbesuch erkundigen, wo der nächste Flohmarkt stattfand!

Fast das ganze Wochenende verbrachte ich mit solchen trüben Gedanken. Ab und zu versuchte Cora mich hochzuscheuchen, aber das Wetter war zum Kotzen, meine Gedanken waren kaum besser, und ich sah wirklich keinen Grund, aufzustehen und mich anzuziehen: Ich duschte am Sonntag nur flüchtig und schlurfte dann den halben Tag im Morgenmantel herum, zappte ein bisschen durch die Programme und lag dann wieder appetitlos auf dem Gästebett herum. Cora gab irgendwann auf, weil ohnehin ihr Freddy erschien und ihre Aufmerksamkeit erforderte.

Ich versuchte, das Gekicher und Geseufze aus dem Schlafzimmer zu überhören und dachte wieder darüber nach, was ich bei Christian falsch gemacht haben könnte. Hätte ich mich weiterbilden sollen? Kultivierter sein sollen? Vielleicht Kurse machen, die mir ein umfassendes Wissen über Kunst und Musik vermittelten, so dass ich auf Vernissagen hätte kenntnisreich auftreten können, als Dame von Welt sozusagen... Hätte ich mir Background verschaffen sollen? Sicher taten das viele im Jetset, peppten ihren Namen ein bisschen auf, gaben dezent mit prominenten Bekannten an, achteten auf elitäre Adressen, logen, wenn es um die Nobelinternate ging, die sie angeblich besucht hatten... Ich hatte vor Jahren mal ein Buch gelesen, das einem nicht ganz ernst gemeinte Tipps zur Imageverbesserung gab. O wie oben hatte es geheißen – oder so ähnlich. Hinreißend lustig und boshaft, aber vielleicht nicht hundertprozentig zur Nachahmung zu empfehlen...

Das wäre natürlich das Allerkomischste – wenn sich die vornehme Charlotte als ehrgeizige Aufsteigerin entpuppte, die eigentlich aus der Hochhaussiedlung Mönchenpark oder vom Kreuz West stammte! Dann würde ich wirklich sehr gerne Christians Gesicht sehen... Am besten vergaß ich ihn und zeigte ihm langfristig, dass ich sehr gut auch alleine zurechtkam, und vor allem, dass ich alleine ganz anders lebte und alle seine erzieherischen Maßnahmen (Das große Buch der feinen Lebensart) völlig umsonst gewesen waren. Oder würde er, falls wir uns jemals wieder trafen, nur denken Schade, wieder völlig abgesunken? Was ging es mich eigentlich an, was Christian von mir dachte? Dass ich ihm langfristig nicht gut genug gewesen war, wusste ich ja schließlich!

Andererseits, die Macht der Liebe... Ach, an der Stelle war ich doch schon mal gewesen, Schluss jetzt!

Am Sonntagabend raffte ich mich mühsam auf und bügelte meine Wäsche, denn für den Anwaltsbesuch wollte ich mich doch etwas geschäftsmäßiger anziehen; ich dachte an das graue Tweedkostüm, graue Pumps und die blassgelbe Seidenbluse, die noch verknittert auf dem Wäschegestell hing. Aber darunter nicht hautfarbenes strammes Lycra (anscheinend hatte Christian mich doch für zu dick gehalten, wenn er mir dauernd derartige Panzer empfohlen hatte), sondern ebenfalls zartgelber Satin mit schmalen weißen Spitzenkanten. Das Gefühl hauchdünner Wäsche auf der Haut würde mir vielleicht mehr Selbstbewusstsein verleihen...

Die Erbschaft

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