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MI, 22.10.2003

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Ich spulte meine Geschichtsstunde recht routiniert ab, weil ich sie ja gestern schon gehalten hatte, und staunte dabei wieder über die Unterschiede zwischen den beiden neunten Klassen: Wo sich gestern mehr oder weniger kenntnisreiche Diskussionen entsponnen hatten, herrschten heute absolute Ruhe und eifriges Mitschreiben, als rechneten die Armen mit einem Extemporale. Das war eigentlich keine so blöde Idee, überlegte ich. Aber am Freitag? Am letzten Schultag vor den Herbstferien? Ach was, Herbstferien, das war doch nichts Besonderes. Ich merkte mir das Ex vor und übte gleich noch ein bisschen das Verständnis von Fragen und die richtige Art der Beantwortung. Das verständnissinnige Grinsen von einigen Mädchen in den vorderen Reihen zeigte mir, dass die Botschaft angekommen war. Ich grinste zurück und wünschte weiter frohes Schaffen, als ich nach dem Läuten und dem obligatorischen Ruf „Tafeldienst!“ das Zimmer verlassen hatte.

Im Sekretariat saß nur Frau Schneider, die „Mutter vons Janze“, wie sie sich selbst einschätzte. „Na, Frau Prinz, was kann ich denn für Sie tun?“

Ich beugte mich vertraulich über den Tresen. „Meinen Sie, Sie könnten mir eine Schulbescheinigung ausstellen?“

„Logisch. Wofür brauchen Sie sie denn?“

„Für meine Bank. Sonst glauben die mir nicht, dass ich wirklich einen Job habe. Ich möchte, dass die mir den Dispo ein bisschen erweitern. Ich meine, irgendwann muss doch mein Gehalt mal anlaufen, oder? Wenigstens im neuen Jahr oder so.“

Sie ließ den Stift fallen, den sie in der Hand gehalten hatte, ihr Doppelkinn zitterte vor Entrüstung. „Soll das heißen, dass Sie noch gar kein Gehalt bekommen haben?“

„Richtig. Ich dachte, das ist normal?“

„Normal? Das ist eine Frechheit ersten Ranges. Aber vereidigt hat man Sie schon, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nur am Beginn der Referendarzeit.“

„Mussten Sie im Sommer noch mal zum Gesundheitsamt?“

„Nein, da war alles in Ordnung. Ich meine, was soll auch sein, ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich habe Untergewicht und ich habe während der Referendarzeit keinen Tag gefehlt.“

„Lobenswert – bis auf das Untergewicht.“ Sie musterte mich strafend und musste dann lachen. „Essen kostet Geld“, klagte ich und schaute möglichst erbarmungswürdig drein.

„Ich rufe bei der Bezügestelle an“, verkündete sie finster und griff zum Hörer. In den nächsten Minuten hatte ich das Vergnügen, zuzuhören, wie sie mehrere Sachbearbeiter nach allen Regeln der Kunst zusammenfaltete und so lange herumscheuchte, bis anscheinend ein wichtiges, bisher fehlendes Dokument wie durch Zauberhand wieder aufgetaucht war. „Und warum haben Sie uns nicht informiert? Was glauben Sie eigentlich, wovon unsere Beamten leben sollen, während Sie Ihre Arbeit nicht machen? - Was heißt hier Rücklagen? Haben Sie sich mal angeschaut, mit welchen Almosen Referendare abgespeist werden? Das ist schon nicht mehr die übliche Schikane, das ist schon Grausamkeit. Und da wundern Sie sich, dass Ihnen der Nachwuchs ausgeht? - Sie geben diesen Wisch jetzt auf der Stelle in die Post. Wenn er am Freitagmorgen nicht da ist, haben Sie mich wieder in der Leitung, und dann gibt es erst richtig Ärger. Und eine Abschlagszahlung an Frau Prinz veranlassen Sie auch sofort. - Nein, damit warten Sie nicht mehr, die Unterlagen sind doch vollständig, haben Sie gesagt. Oder? - Na bitte. Nein, jetzt sofort! Wenn sich erst einmal unser Chef einschaltet, droht Ihnen eine Dienstaufsichtsbeschwerde. – Doch, das wissen Sie auch selbst.“

Sie legte wieder auf und sah mich triumphierend an. „So, denen habe ich aber Beine gemacht! Die Bestallungsurkunde wird jetzt sofort ausgefertigt und zur Post gegeben. Sie hatten Ihren Lebenslauf verlegt und waren zu faul, sich deshalb zu rühren.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht zu fassen! Die hätten doch bloß mal hier anrufen müssen, dass hätte ich ihnen einen neuen Lebenslauf geschickt. Stattdessen lassen die mich verhungern.“

Frau Schneider zog eine Schublade auf und reichte mir eine Mozartkugel. „Hier, zur Überbrückung! Und, wollen Sie die Bescheinigung jetzt immer noch?“

„Sicherheitshalber.“, lutschte ich zufrieden. „Stellen Sie sich vor – die Post...“

„Auch wieder wahr. Also gut!“

Sie zog ihre Tastatur näher heran, rief ein offizielles Briefformular der Schule auf und begann zu tippen. Der Drucker surrte, sie zog das Blatt heraus, unterschrieb schwungvoll und drückte den Schulstempel darunter.

„Und das Dienstsiegel auch noch. Macht ordentlich was her!“ Auch das Staatswappen wurde auf das Blatt gedrückt. „So, hier! Am besten machen Sie sich aber auch ein paar Kopien davon.“ Selig eilte ich zum Kopierer. Das musste die Bank doch beeindrucken! Und vielleicht war das gar nicht mehr nötig?

Im Lehrerzimmer herrschte gewaltige Unruhe: Der Hausmeister hatte zwei weitere Tische hereingestellt und alle anderen etwas dichter zusammen geschoben. An einem der neuen Tische saßen Nadja und Frau Ernst und winkten mir hektisch zu. Ich stürzte mich sofort auf den Platz neben Nadja. „Ist ja Klasse! Ein richtiger Tisch – für uns?“

„Drei Leute passen noch dazu. Mal schauen, wer noch Bedarf hat. Und mal schauen, was die Bernrieder dazu sagt!“ Ich musste kichern. Frau Ernst reichte mir an Nadja vorbei eine kühle Hand. „Hallo, ich bin Verena. Du heißt Eva, nicht?“

„Genau. Und jetzt mit diesem Platz fühle ich mich hier fast schon akzeptiert."

„Jörndl hat anscheinend den Aufstand geprobt“, stellte Nadja zufrieden fest. „Zeit war´s ja auch!“ Ein etwas pummeliger junger Mann mit braunen Locken, den ich bisher immer nur von weitem gesehen hatte, kam heran. „Gibt´s bei euch noch Platz? Der Wackelstuhl in der Ecke ist irgendwie nicht so komfortabel.“

„Hau dich her, Theo“, antwortete Verena. „Mathematiker sind ja eine verträgliche Bande. Aber dein blödes R3-Modell lässt du bitte draußen, sonst können wir uns hier nicht mehr rühren.“

Theo zog ein Gesicht. „Aber ich würde es dir auch mal leihen!“

„Ich brauch´s in diesem Jahr aber nicht. Stell das Ding aufs Fensterbrett, da nervt es nicht so.“

Nadja zog eine Packung Schokokekse aus der Tasche, riss sie auf und legte sie in die Mitte. „Greift zu, schließlich haben wir was zu feiern!“

„Vor allem ich“, verkündete ich, während Theo sich sofort eine Handvoll Kekse schnappte. „Frau Schneider hat die Bezügestelle dermaßen zusammen geschissen, jetzt kommt hoffentlich bald mein Gehalt.“

„Ach, du auch?“, bedauerte mich Verena. „ich hab damals auch kaum gewusst, wie ich mich weiter finanzieren soll. Gott sei Dank hatte ich noch ein paar illegale Nachhilfeschüler.“

Theo kaute genussvoll. Man konnte sich vorstellen, woher er sein gemütliches Aussehen hatte. Und die Hamsterbäckchen, genau richtig, um hineinzukneifen! Kaum hatte er heruntergeschluckt, nahm er sich noch zwei Kekse. „Noch nicht gefrühstückt?“, erkundigte sich Nadja etwas spitz und schob die Schachtel mehr in meine Richtung. Ich nahm mir einen Keks und biss zierlich ab. Morgen sollte ich dann wohl auch mal etwas mitbringen. Bloß Aldi-Kekse, aber um meinen guten Willen zu zeigen...

Nadja winkte in Richtung Tür. „Bea, Bea, hier! Wir haben einen Tisch! Los, schnell, komm her!“ Beatrice Heinze rannte förmlich auf uns zu, ihr Pferdeschwanz wehte hinter ihr her. „Einen richtigen Tisch! Wir müssen nicht mehr den Zigarrengestank in der Chemievorbereitung aushalten!“ Sie musterte Verena und Theo. „Das ist ja ein richtiger Mathematikertisch. Bloß Frau Prinz und du, Nadja – ihr fallt aus dem Rahmen.“

Nadja sah mich an. „Sollen wir das dulden, Eva? Nicht, dass wir als Nichtmathematiker hier wieder vertrieben werden.“

„Wir waren doch zuerst hier“, gab ich zu bedenken. „Da können wir auch großzügig sein. Solange man uns nicht diskriminiert.“

„Ihr habt es gehört“, verkündete Nadja. „Setz dich schon, Bea. Und vergiss nicht, du bist auch Chemikerin!“

„Theoretisch ja. Ich hab eine einzige Chemieklasse, und das sind die Pfeifen aus der 11 b.“

„In Geschichte sind die gar nicht so schlecht“, wandte ich ein, obwohl ich das Ex noch nicht korrigiert hatte. Die Tür flog auf und die Bernrieder baute sich zornbebend vor unserem Tisch auf. Angesichts von fünf Augenpaaren, die sie gelassen betrachteten, fiel ihr aber anscheinend so schnell nichts Vernichtendes ein, so dass sie sich schließlich darauf beschränkte, zu behaupten, im Lehrerzimmer sei das Essen verboten. „Seit wann das denn?“, wunderte sich Theo. „Hier essen doch alle, und die Rechner stehen nebenan. Apropos... ich muss meine Mails checken.“

„Ich auch“, behauptete Bea und erhob sich. Die Bernrieder wurde noch etwas röter und drehte sich abrupt um.

„Warum regt sie sich über die Mails auf?“, erkundigte ich mich flüsternd bei Nadja und Verena. Verena kicherte. „Weil sie immer noch nicht mit einem Rechner umgehen kann. Peinlich, was? So alt ist sie doch wirklich noch nicht.“

„Wie alt ist sie denn eigentlich? Ich schätze sie auf Anfang vierzig, aber ob das stimmt...“ Ich zuckte die Achseln.

„Lässt sich alles feststellen“, antwortete Nadja, ging zum Bücherregal, das mit einer erstaunlichen Sammlung von veralteter Literatur aufwarten konnte, und holte ein dickes blaues Buch heraus.

„Hier, das Philologenjahrbuch. Gucken wir mal nach...“

Sie blätterte ein wenig herum. „Da haben wir sie ja!“ Sie zeigte erst Verena, dann mir die Seite, auf der alle Lehrer am Leisenberger Albertinum aufgelistet waren.

Bernrieder, Christa D G E 13.09.1964

„Die Frau ist erst neununddreißig?“, zischte ich entrüstet. „Dann geht sie ja erst in fünfundzwanzig Jahren in Pension. Das überleb ich nicht!“

„In dreißig“, verbesserte Verena. „Bis dahin werden die unsere Arbeitszeit kräftig verlängert haben. Danach hast du dann noch zehn stressfreie Jahre vor dir.“

„Und am Tag nach der Pensionierung kratze ich ab“, fügte ich düster hinzu.

„Das wäre der Bezügestelle natürlich am liebsten“, gab Nadja mir Recht, „es ist aber noch keine Vorschrift.“

„Ich werde hundert und lass die bluten“, nahm Verena sich vor.

Nach der Pause saß ich wieder glücklich an unserem Tisch und wartete darauf, dass jemand in meine Sprechstunde kam. Am liebsten hätte ich die Tischplatte gestreichelt, so sehr freute ich mich darüber, endlich in dieser Schule einen festen Platz zu haben. Ich legte das Material von der ersten Stunde dekorativ vor mich hin und aß in aller Ruhe mein Leberwurstbrot.

Jetzt hätte ich mit dem Geschichtsex anfangen können, jetzt hatte ich einen Arbeitsplatz! Aber jetzt hatte ich es natürlich zu Hause gelassen. Dann erfand ich eben ein neues Ex, für die Neunte am Freitag. Vielleicht für beide Neunten? Nein, die anderen rechneten nicht damit, das fand ich dann doch gemein. Ich wollte sie für ihr Diskutieren nicht auch noch bestrafen. Obwohl, das Grundwissen hatten wir ja aufgeschrieben. Und bei der Diskussion hatten sie auch gut aufgepasst, also warum eigentlich nicht? Wenn ich die Fragen so formulierte, dass sie auch ihre Meinung schreiben konnten? Ich holte mir ein vergilbtes Schulaufgabenblatt aus dem Vorraum und machte mir Notizen.

Schön, dass die Bernrieder gerade mal nicht da war, die Atmosphäre war richtig friedlich. Und wenn ich jetzt wirklich für meine Arbeit auch noch bezahlt wurde – dann war doch alles gut!

Theo setzte sich zu mir. „Hast du mal einen Euro?“ Ich fischte die Einkaufswagenmünze aus meiner Jeanstasche. „Wozu brauchst du den?“

„Bloß zum Rubbeln.“ Er legte einen geöffneten Umschlag vor sich hin und fischte allerlei Werbeunterlagen heraus. „Da kann man ein Mercedes-Cabrio gewinnen, wenn die frei gerubbelten Zahlen zu dem passen, was auf diesem Pappautoschlüssel steht.“

„Wetten, sie passen?“

„Meinst du?“

„Machst du das zum ersten Mal? Die passen immer, schließlich wollen die Leute doch, dass du den Kram einschickst, womöglich auch noch was bestellst, um deine Gewinnchancen zu erhöhen. Welche Firma ist das eigentlich?“

Theo hielt im Rubbeln inne und drehte den kleinen Prospekt um. „Men´s World. Irgendwelche Klamotten. Aber das Sweatshirt ist gar nicht so schlecht, oder?“

Er hielt mir die Titelseite hin: Ein ganz normales dunkelblaues Sweatshirt ohne alles, 50 % Baumwolle, 50 % Polyester – für neununddreißig Euro.

„Standard. Und dafür ziemlich teuer“, kritisierte ich. „So was kriegst du im Horizont für fünfzehn. Dann hast du zwei und immer noch neun Euro übrig, für fünf Paar Socken oder so. Oder fürs Sparschwein.“

Theo verzog das Gesicht und rubbelte weiter. „Tatsächlich, die Nummer passt! Klasse!“

Er trennte die Karte heraus und füllte sie in perfekter Lehrerschrift aus, klebte den Pappschlüssel und das freigerubbelte Feld auf und holte sich einen Umschlag aus dem Vorraum. Ich sah fasziniert zu, wie er den Umschlag adressierte. „Hast du zufällig auch noch eine Briefmarke?“ Damit konnte ich leider nicht dienen, aber Frau Tetzner hatte eine. „Jetzt musst du bloß noch daran denken, den Umschlag auch rechtzeitig einzuwerfen.“

„Kein Problem, das mach ich gleich auf dem Heimweg. Neben unserem Parkplatz ist ein Briefkasten. Meinst du, man kann mit so einem Mercedes auch in die Schule fahren?“

„Warum nicht?“, fragte ich erstaunt. „Naja – erstens fährt der Chef bloß einen Opel – und was, wenn Schüler auf mich sauer sind und mir den Lack zerkratzen? Schau mal, was das für ein schöner Lack ist!“

Ich bewunderte pflichtgemäß die schwarz schimmernde Schönheit auf dem Foto und wunderte mich insgeheim: Glaubte Theo wirklich, er habe den Wagen schon so gut wie in der Tasche? Wahrscheinlich gewann er einen Packen Geschirrtücher oder gar nichts! Ganz schön naiv, der Gute. Er verwahrte den Umschlag in der Sakkotasche und steckte den herumliegenden Euro ein.

„Hey!“, begehrte ich auf. „Das war aber mein Euro!“

„Echt?“ Er guckte erstaunt. „Na gut, stimmt wohl.“

„Was heißt hier wohl?“, fragte ich und beeilte mich, die Münze zu verstauen. „Du hast ihn dir doch erst vor ein paar Minuten ausgeborgt, um dieses Feld frei zu rubbeln. Schon vergessen?“

„Nein, nein, stimmt schon. Jetzt mach keinen Stress, wegen einem Euro!“

Kelchow, der gerade vorbei ging, warf mir einen prüfenden Blick zu. War ich jetzt hier als Geiznickel verschrien? Aber solange ich noch keine Einnahmen hatte, zählte wirklich jeder Euro, und wieso sollte ich Theo durchfüttern? Der sah sowieso gut genährt aus. So ein Schusselkopf, bestimmt hatte er auch schon wieder vergessen, dass er der Tetzner eine Briefmarke schuldete.

„Ich mach doch keinen Stress“, behauptete ich deshalb bloß. Jetzt hätte ich schon Kekse dabei haben sollen, um ihn zu besänftigen, aber dazu musste ich erst einkaufen. Ich rechnete im Kopf kurz nach – vier Euro durfte ich heute wieder ausgeben, Leberwurst und Vollkornbrot hatte ich noch, Süppchen auch noch... für Mandarinen und eine Schachtel Kekse musste es locker reichen, da musste sogar noch etwas für meine Blechdose übrig bleiben.

Ich schrieb meine Notizen für die beiden Exen noch einmal säuberlich ab und steckte sie in die Tasche, dann warf ich die Entwürfe weg und steckte meine Notenlisten wieder ein. Da kam ja doch keine Mutter mehr, die Stunde war schon fast vorbei.

Ich ließ mir von Herrn Drehm, dem Systembetreuer, mein Passwort geben und loggte mich zum ersten Mal ins Schulsystem ein. Wie nicht anders zu erwarten, war meine Mailbox gähnend leer, aber der Gedanke, etwas zu können, was die blöde Bernrieder nicht konnte, begeisterte mich. Als ich an diesem Tag nach Hause kam, fühlte ich mich schon deutlich besser. Mit der kostbaren Schulbescheinigung eilte ich sofort nach der Öffnung zur Bank und schaffte es, der Sachbearbeiterin klar zu machen, dass ich bestimmt zweitausend Euro netto verdienen würde. Daraufhin erweiterte sie meinen Dispokredit – mit Genehmigung des Filialleiters – auf sechstausend Euro, und ich nahm mir im Stillen vor, so schnell wie möglich das Konto ins Plus zu bringen, um denen keinen Cent Zinsen zu schenken. Im Gegenteil, ich wollte ja auch etwas verdienen! Also erkundigte ich mich nach den hauseigenen Fonds, ließ mir reichlich Prospekte geben und kehrte zufrieden mit mir – nach einem kleinen Umweg zu Aldi – nach Hause zurück.

Die 11 b war nicht ganz so gut in Geschichte, wie ich es nach den Unterrichtsbeiträgen vermutet hatte – auch hier gab es einige Leute, die nicht imstande zu sein schienen, sich eine Frage richtig durchzulesen und zu überlegen, welche Faktenauswahl als Antwort passte. Von den Leuten, die mir mein eigenes Tafelbild hinklatschten, anstatt eigene Erklärungen zu liefern, ganz zu schweigen! Ich korrigierte bis fünf, rechnete ab (Durchschnitt 3,41, nicht so toll, fand ich) und bereitete die Stunden für Donnerstag vor. Die Packung Nusskekse (günstig, nur 79 Cent) war dabei das wichtigste Utensil, als zweitwichtigstes folgte ein Arbeitsblatt für die achte Klasse: französischer Absolutismus, der Plan von Versailles, die Entmachtung des Adels und was eben sonst noch so wichtig war. Kaum war ich damit fertig – der Drucker arbeitete noch - klingelte mein Telefon. Meine Mutter, welche Überraschung!

„Lange nicht mehr gehört“, kommentierte ich auch, ohne nachzudenken.

„Du könntest mich ja auch mal anrufen“, konterte sie sofort. Hätte ich bloß den Mund gehalten! „Ich hatte total viel zu tun“, redete ich mich schwächlich heraus. „Ach was! Ich denke, du bist Lehrerin? Dann hast du doch nachmittags schon frei, oder?“

„Nein, hab ich nicht“, antwortete ich zornig. Blödes altes Vorurteil! „Was glaubst du eigentlich, wann ich korrigiere und wann ich mich vorbereite?“

„Vorbereiten? Das macht man doch auch bloß einmal für jede Klasse, und dann hat man das schönste Leben. Aber die Lehrer jammern ja immer, und jetzt fängst du auch noch damit an.“

„Wenn das so toll ist, warum bist du nicht Lehrerin geworden?“

„Das weißt du doch ganz genau! Wie hätte ich mit einem Baby am Hals studieren sollen?“

„Das haben andere auch geschafft. Aber egal. Was gibt´s denn?“

„Wieso muss es etwas geben?“

„Weil du nicht anrufst, wenn nichts anliegt“, erklärte ich mühsam beherrscht.

„Ach so, ja. Du müsstest mal auf den Friedhof gehen, das Grab schaut unmöglich aus. Kauf ein paar Eisbegonien und bepflanze es neu. Du weißt ja, bald ist Allerheiligen, und ich will mich nicht schämen müssen.“

„Das Grab schaut nicht unmöglich aus“, widersprach ich, „ich war doch erst vor zwei Monaten da.“

„Hast du den trockenen Sommer vergessen?“

Ach ja. Was kosteten wohl Eisbegonien? Und warum musste immer ich das machen? Weil es dein Vater ist, ich kannte die Antwort zur Genüge.

Und dein Mann war keine gute Replik, denn dann folgte unweigerlich Davon hab ich auch gerade viel gehabt.

Ich seufzte. „Gut, am Samstag. Vorher kann ich nicht, ich muss noch überall ein Ex schreiben. Und gucken, wo Eisbegonien günstig sind.“

„Sei nicht so geizig, immerhin war er dein Vater, auch wenn du ihn nicht gekannt hast!“

„Ich bin nicht geizig, ich bin pleite. Der Staat hat mir noch kein Gehalt gezahlt.“

„Tja – du wolltest ja unbedingt Beamtin werden!“ Sie legte auf. Ich schnitt dem Telefon eine wütende Grimasse und wühlte im Schrank nach der Plastiktüte mit meinen Mini-Gartengeräten, die ich nur für den Friedhof brauchte.

Mich hätte ja schon mal interessiert, wie mein Vater so gewesen war. Und wie er ausgesehen hatte. Aber meine Mutter war nach seinem Tod so wütend gewesen, dass sie alle Fotos vernichtet hatte. Und Großeltern hatte ich schon lange keine mehr. Ich wusste gerade mal, dass er Roland geheißen hatte und Polizeianwärter gewesen war. Einundzwanzig und meine Mutter noch nicht ganz zwanzig, als ich zur Welt kam. Sie waren gerade zwei Monate verheiratet gewesen, und als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten (an der schweren Geburt war sowieso ich schuld), hatte er Dienst. Danach wollte er ins Krankenhaus fahren, um mich zu besichtigen, aber er war auf der eisglatten Straße – es war Januar – ins Schleudern gekommen und gegen einen Baum geprallt. Jede Hilfe war zu spät gekommen. Das hatte meine Mutter ihm nie verziehen.

Überhaupt, alle waren immerzu an allem schuld. Mein Vater hatte sich aus purer Bosheit das Genick gebrochen, und ich war aus purer Bosheit zur Welt gekommen. Als sie mir das am Tag meiner Abiturfeier schon wieder vorgeworfen hatte, hatte ich gekontert: „Hättest du eben Kondome gekauft!“

Daraufhin war sie wenigstens so lange still gewesen, dass ich in Ruhe meine paar Sachen packen konnte. Seitdem verkehrten wir nur noch telefonisch miteinander. Ich durfte mein „Elternhaus“ nicht betreten (das Reihenhäuschen, das sie von ihren Schwiegereltern geerbt hatte) und ich hätte sie bei mir auch nicht reingelassen, sie hätte ohnehin nur alles in Grund und Boden kritisiert und mir die Laune verdorben. Aber ihre Art, so zu tun, als hätte ich ihr das ganze Leben verdorben – Himmel, sie war noch keine fünfzig und sah bestimmt immer noch gut aus! – nagte doch an mir. Was konnte ich schließlich dafür, ich hatte nicht darum gebettelt, gezeugt zu werden!

Warum sie nichts arbeitete, verstand ich auch nicht. Um mich hatte sie sich nie viel gekümmert, ich wurde sehr schnell zur Selbständigkeit erzogen. Sicher, sie bezog eine Rente von der Polizei, ihre Eltern schossen etwas zu, die Eltern meines Vaters ebenfalls – aber dass sie sich nicht langweilte?

Also musste ich am Freitag irgendwo günstige Eisbegonien erstehen (und einen kleinen Sack Erde vielleicht auch) und am Samstag gärtnern. Zum Friedhof fuhr auch bloß ein ziemlich umständlicher Bus. Das ärgerte mich jetzt wieder. Typisch Mutter, kaum fühlte man sich mal so richtig wohl und zufrieden, versaute sie einem die Laune. Das konnte sie wirklich gut!

Um mich wieder aufzumuntern, zog ich die Fondspropekte aus der Tasche, studierte sie gründlich und schaute mir diejenigen, die sich vernünftig anhörten (und das waren beileibe nicht alle) im Internet an. Manche waren in den letzten Jahren böse abgestürzt, aber jetzt schien sich die Lage trotz aller politischen Unkerei wieder etwas zu entspannen.

Ich kritzelte herum und schrieb mir zum tausendsten Mal auf, wie hoch meine Fixkosten waren, wie viel ich jeden Monat von meinem Dispo abzahlen wollte und wie viel mir nach Adam Riese von den vermuteten zweitausend Euro übrig bleiben musste. Für zweihundert Euro im Monat konnte ich mir schon etwas leisten, vielleicht einen internationalen Aktienfonds und einen gemischten, teils Renten, teils Aktien, teils Termingelder. Klang vernünftig. An zehn Prozent Rendite im Jahr glaubte ich zwar auch nicht, aber seinen Wert würde das Geld doch wohl wenigstens behalten?

Konnte ich sonst noch etwas verkaufen? Ich sah mich in meiner bescheidenen Bude um – putzen sollte ich mal wieder – und fand nichts mehr. Flohmarktkram hatte ich ohnehin nicht, was da war, brauchte ich wirklich, und zumeist war es für einen Verkauf auch schon zu schäbig.

Okay, sobald das Geld da wäre, würde ich immer zu Monatsanfang die Fonds ordern und dann versuchen, weiterhin mit vier Euro am Tag auszukommen. Heute hatte ich verbraucht... zwei Euro vierzehn, Kekse und Mandarinen. Ich aß zwei Mandarinen und kochte mir eins der Sofort-fertig-Süppchen in einem Teebecher, dazu gab es eine Scheibe Vollkornbrot und sicherheitshalber eine Vitamintablette. Offenbar war ich die einzige Neue an der Schule, die bis jetzt noch keinen Tag krank gewesen war (aber schon zwölf Vertretungen gehalten hatte) – und das sollte auch so bleiben. Wenn sie mich schon nicht mochten, sollten sie mich wenigstens respektieren!

Die heiße Tomatensuppe war recht lecker, wenn man die versprochenen Croutons auch mit der Lupe suchen musste.

Gesättigt und wieder einigermaßen mit meinem Leben versöhnt lehnte ich mich zurück. In ein paar Jahren hätte ich ein solides kleines Polster auf der Bank und dann konnte ich auch über so etwas wie eine Rentenversicherung nachdenken. Und sobald ich gut bei Kasse war, würde meine Mutter wahrscheinlich auf meine Kosten in ein teures Pflegeheim wollen... Na, das hatte noch Zeit! Und konnte man nicht sagen Sie hat mich meine Ausbildung alleine finanzieren lassen, jetzt soll sie gefälligst in ein Städtisches Heim?

Nein, wahrscheinlich nicht, dann stünde ich beim Sozialamt wie eine Rabentochter da. Ich verbannte den Gedanken energisch aus meinem Kopf, um mir die Laune nicht auch noch selbst zu verderben.

Medusas Ende

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