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FR 24.10.2003

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Ich lag in der dritten Stunde, erschöpft von einer Doppelstunde Faust I, im Lehrerzimmer auf der Lauer, um zu gucken, ob die Massen zorniger Frauen (plus ein Mann mit einem Riesenterminplaner unter dem Arm), die sich im Wartebereich vor dem Lehrerzimmer drängelten, alle zur Bernrieder wollten, die sich im Nebenraum des Lehrerzimmers schon mit der ersten Mutter unterhielt (scharfe Töne drangen durch die undichte Tür), als vom Sekretariat angerufen wurde – ich sollte mal eben zum Chef kommen.

Was war denn jetzt los? Ich schnappte mir mein Notizbuch und eilte den Gang entlang. Frau Schneider wies auf die gepolsterte Tür, die vom Sekretariat zum Allerheiligsten führte; ich klopfte zaghaft und trat ein.

„Sie wollten mich sprechen, Herr Oberstudiendirektor?“ Immerhin wusste ich, was sich gehörte! „Frau Prinz? Ja, setzen Sie sich doch!“

Im Direktorat war es dämmerig, schwere Vorhänge schlossen das trübe Oktoberwetter aus, auf dem Schreibtisch brannte eine Lampe mit länglichem grünen Schirm, wie man sie aus amerikanischen Anwaltsfilmen kannte. So was stand wohl auch im Lesesaal der Bodleian Library?

„Ja, Frau Prinz... ich habe hier Ihre Ernennungsurkunde zur Beamtin auf Probe... mir war gar nicht aufgefallen, dass das so lange gedauert hatte... warum haben Sie denn nichts gesagt?“

„Man hat mir gesagt, das sei normal. Ich dachte, der Staat wollte eben noch eine Zeitlang die Zinsen kassieren, bevor er mich bezahlt.“

Silberbauer räusperte sich und schob seine randlose Brille wieder hoch. Da hatte ich eben wohl etwas Falsches gesagt? „Nun – wie dem auch sei... ich entnehme dem, dass mit gleicher Post auch eine Bezügemitteilung an Sie herausgegangen ist. Aber nun wollen wir erst einmal zum feierlichen Akt schreiten. Würden Sie bitte aufstehen?“

Ich erhob mich gehorsam und sprach ihm die Eidesformel nach, die komischerweise anders lautete als die der Referendare, die ja zu Beamten auf Widerruf ernannt wurden. Dabei verbiss ich mir mühsam das Lachen, weil die Situation so albern wirkte. Dass ich auf den Zusatz „So wahr mir Gott helfe“ verzichtete, trug mir einen kurzen scharfen Blick ein, aber wenigstens keinen Kommentar. Ich leistete die nötigen Unterschriften, erhielt ein Exemplar der Ernennungsurkunde und einen kühlen, trockenen Händedruck und war in Gnaden entlassen.

Draußen hätte ich Frau Schneider am liebsten umarmt. „Ich bin verbeamtet! Ich existiere! Ich kriege sogar Geld für meine Arbeit! Mensch, Frau Schneider, ohne Sie hätte das noch ewig dauern können!“ Sie lachte. „Schon recht, Kindchen. Die Lahmärsche in der Bezügestelle brauchen ab und zu etwas Feuer unterm Hintern. Na, jetzt ist ja alles klar, Frau Studienrätin!“

„z.A.“, fügte ich hinzu, „aber immerhin, nicht?“

Sie winkte ab. „Ich bin seit fast dreißig Jahren an dieser Schule, und hier ist noch keiner als z.A. gestorben. Und nur eine einzige hat vier Jahre gebraucht, um die Lebenszeitverbeamtung zu kriegen, und die war so dumm, dass wir alle heilfroh waren, als sie Zwillinge gekriegt und aufgehört hat zu arbeiten.“

Ich grinste. „Zwillinge hab ich nicht eingeplant!“

„Wozu auch? Von den Schülern hört man nur Gutes über Sie.“

Das war ja fast noch besser als die Urkunde! Jetzt musste ich aber dringend zurück ins Lehrerzimmer und gucken, ob ich schon eine Bezügemitteilung in meinem Fach hatte. Und wie fertig die Bernrieder schon war – eine böse Mutter nach der anderen... Haha! Ich tanzte den Gang entlang und brachte kaum den Schlüssel ins Schloss, weil ich so unruhig war. „Wollen Sie alle zu Frau Bernrieder?“, konnte ich mir angesichts der schweigenden Versammlung, die mir bei meinen Aufschließversuchen zusah, nicht verkneifen.

Allgemeines Nicken. „Ich werde es ihr sagen.“

„Nicht nötig, sie weiß Bescheid“, sagte der Mann mit dem Terminplaner. Oh, der hatte sogar eine Ausgabe von BayEUG und GSO unter dem Arm. Arme Bernrieder...

In meinem Fach lag ein Umschlag, der aus hundert Prozent ungebleichtem Altpapier hergestellt zu sein schien und mir schon fast in der Hand zerbröselte.

Ich riss ihn mühelos auf und entfaltete das Formular. Zweitausenddreihundertfünfzig nach Abzug von Steuern und Soli regulär, plus eine Abschlagszahlung von viertausend Euro – damit war ich im Plus! Ich konnte mir sogar einen Videorecorder kaufen! Nur falls mal eine Faustinszenierung auf 3sat lief, natürlich. Und für die guten Sachen auf arte. Na, so eilig war das nicht. Und noch war das Geld ja nicht auf meinem Konto eingetrudelt. Oder doch?

Ich eilte in den Silentiumraum und fiel vor einen der Rechner. Ungeduldig wetzte ich auf dem Stuhl herum, bis ich in mein Bankprogramm eingeloggt war – da, tatsächlich! Sechstausenddreihundertfünfzig – nicht übel! Heute Nachmittag würde ich gleich die Fondsaufträge erteilen. Eva Prinz auf dem Weg zu einer bürgerlichen Existenz! Und ich würde die Wohnung gründlich putzen. Und beide Exen korrigieren. Und alle Noten ausrechnen.

Das Leben war doch schön... ich loggte mich wieder aus und setzte mich nach draußen, wo ich durch die Tür weiterhin hören konnte, wie sich die Bernrieder gereizt verteidigte, bis der Chef persönlich das Lehrerzimmer betrat, die Bernrieder samt wütender Mutter aus dem Nebenraum holte und vor der Lehrerzimmertür (die dankenswerterweise nicht von selbst ins Schloss fiel) verkündete, die umstrittene Schulaufgabe sei kassiert. Daraufhin löste sich die Schlange wie durch Zauberhand auf, nur der Terminkalendermann und eine Mutter blieben übrig; beide verlangten auf der Stelle einen Termin beim Chef. Er warf der Bernrieder einen bösen Blick zu und nahm mit einem deutlichen Seufzer die erbosten Erziehungsberechtigten mit in sein Oxfordzimmer.

Ich feierte den Augenblick mit einem großen Bissen trockenem Vollkornbrot. Zu Aldi würde ich heute auch noch gehen, nachdem ich auf der Bank war. Und mal richtig einkaufen! Nicht zu teuer natürlich, schränkte ich sofort wieder ein und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die Bernrieder durchs Lehrerzimmer tigerte und nach einem Opfer Ausschau hielt. Immer wenn ihr Blick in meine Richtung glitt, vertiefte ich mich wieder in meine Unterlagen und war ganz furchtbar beschäftigt.

Bevor sie anscheinend doch misstrauisch werden konnte, kam Gott sei Dank jemand anderes herein – Helga Schwarz, eine etwas gestresst wirkende Teilzeitkraft mit vier kleinen Kindern. Erdkunde und Deutsch. Die Bernrieder stieß auf sie nieder wie der Habicht auf die Henne. „Sie wollte ich gerade sprechen!“

Die Schwarz stoppte mitten im Lauf. „Huch? Ja bitte, worum geht´s denn?“

„Sie haben noch gar kein Projekt für den Deutschunterricht angemeldet!“

Was sollte das denn jetzt?, fragte ich mich. Seit wann musste man Projekte anmelden? Und seit wann vor allem ging das die Bernrieder auch nur das Geringste an?

„Doch“, behauptete die Schwarz sofort, „sogar zwei. Aber ich hab die Unterlagen der Frau Zeitler gegeben, weil sie doch die Fachbetreuerin ist. Dass Sie das übernommen haben, wusste ich ja gar nicht. Moment mal, ich hab aber von allem noch Kopien, die können Sie natürlich gerne haben.“ Sie begann in ihrer umfangreichen Tasche herumzuwühlen. Spielzeug, Babypuder, Bücher, Zettel – alles Mögliche quoll heraus, bis sie eine Mappe hervorzog, sie aufklappte und zwei zusammengeheftete Konvolute herausnahm. „Hier bitte! Schon kopiert. Ich hab ja noch das Original. Sehen Sie, hier, für die Siebte – eine Lektüreprojekt zum „Weißen Ritter“, das passt dann auch genau zum Lehrplan in Geschichte, mit dem Kollegen hab ich mich auch schon abgesprochen, und für die Zehnte einen Lernzirkel zu moderner Lyrik, das Material für die Stationen ist hinten angeheftet. Wir dachten über eine Kooperation mit Musik nach, was mögliche Vertonungen betrifft, und außerdem... Expressionismus und Zwölftonmusik, da gibt es ja auch Verbindungen...“ Sie redete und redete, ohne einmal Luft zu holen, und die Bernrieder stand leicht betäubt da, die völlig nutzlosen Materialien in der Hand. Ich grinste in meine Schultasche hinein.

„Wissen Sie, ich bin ja so froh, einmal ein richtiges Fachgespräch führen zu dürfen! Kinder sind ja wirklich was Entzückendes – hab ich Ihnen überhaupt schon Fotos von meinen vier Süßen gezeigt? – aber immer bloß zu Hause, ich hab´s ja nicht mehr ausgehalten, und jetzt, wo sogar Annika in den Kindergarten gekommen ist – mit knapp zweidreiviertel, stellen Sie sich vor, so ein weit entwickeltes Kind! Und schon völlig sauber! – kann ich doch endlich wieder wissenschaftlich arbeiten. Gut, bloß elf Stunden, aber ich kann ja jedes Jahr ein bisschen was draufsatteln, nicht, und in paar Jahren bin ich dann wieder eine richtige Vollzeitkraft. Mein Mann unterstützt mich dabei ja auch, er ist wirklich ein Schatz. So was ist ja total wichtig, meinen Sie nicht auch? Das haben Sie doch sicher auch früher schon erlebt.“

Oh, oh, dachte ich, böser Patzer! Aber die Schwarz quasselte weiter, ohne den Fettnapf auch nur wahrzunehmen, wobei ihre winzigen braunen Löckchen aufgeregt zitterten. „... und ich dachte, wir könnten doch sicher mal bei einem Projekt zusammen arbeiten. Zum Beispiel was mit Lyrikübersetzungen in der Oberstufe, Shakespearesonette vielleicht. Oder etwas über Anglizismen und Germanismen, da gibt´s ja so viel. Im Spiegel war erst ein Artikel darüber, dass die Leute diese englischen Werbeslogans zum Teil gar nicht verstehen und dann denken Come in and find out heißt Komm rein und find auch wieder raus. Zum Schießen, was? Ich hab den Artikel aufgehoben, wenn Sie wollen, leg ich Ihnen eine Kopie ins Fach. Ja? Oder bei den kleineren – Übersetzungsübungen zu Harry Potter, die sind doch eh total scharf auf den neuen Band, und im Internet gibt´s doch diese Übersetzungswebsite...“

Wieder ein Fettnapf. Sie latschte vergnügt quer hindurch und stieg wieder an Land: „... das wäre dann mal wirklich was Aktuelles, bloß halt nur einmal verwendbar, und wir müssten schnell sein, denn wenn der neue Band erstmal raus ist, interessiert sich höchstens noch die Oberstufe für das Original. Wir könnten uns aber auch mit Französisch zusammentun, etwas Dreisprachiges, meinen Sie nicht? Das wäre doch mal wirklich eine tolle Idee, oder? Ach, Frau Bernrieder, ich bin Ihnen ja für dieses Gespräch so dankbar – und Sie haben ja auch schon so viele Jahre Erfahrung, da kann ich doch noch richtig was lernen, gerade weil ich jetzt doch fast zehn Jahre raus war aus dem Geschäft und vorher bloß zwei Jahre im Schuldienst geschafft habe.“

Ich rechnete kurz nach und kam zu dem Ergebnis, dass die beiden mindestens gleichaltrig sein mussten, wenn die Schwarz nicht sogar älter war. Aber die Art, wie sie die Bernrieder immerzu als ältere, erfahrenere Kollegin respektierte, war regelrecht subtil. War die Frau so raffiniert oder so naiv? Dazu der Hinweis auf die nicht vorhandenen Kinder (dass die Bernrieder solo war, wusste ich von Nadja) und – am allerbesten – auf ein Internet-Projekt... göttlich!

Die Bernrieder schluckte kurz. „Sehr nett, ja. Ich fürchte, ich muss jetzt dringend -“ Damit entfloh sie, die Kopien immer noch in der Hand. Die Schwarz bemerkte meinen Blick und zwinkerte mir unmissverständlich zu. Von wegen naiv!

Bevor ich sie ansprechen konnte, kam Nadja herein, der ich natürlich unbedingt hastig und halblaut berichten musste, was sich eben ereignet hatte, und mitten in ihre begeisterte Reaktion hinein läutete es zur Pause und das Zimmer füllte sich – die Schwarz aber verschwand, wahrscheinlich hatte sie Aufsicht. Danach enteilte ich in die Fünfte, mit denen ich weiter übte, wie man den Höhepunkt ausschmückte und dass es nicht notwendig war, Telefonklingeln mit „Ring, ring“ wörtlich zu zitieren, und marschierte dann weiter in meine beiden neunten Klassen, wo ich zwei Exen einheimste und mit neunundfünfzig Ergüssen zum Kaiserreich in die Ferien entschwand. Nadja stand im Lehrerzimmer, als ich kam, um meinen Anorak zu holen, und erzählte, sie würde die ganze Woche in London verbringen, Verena wollte mit ihrem Freund eine Woche an irgendeinem Strand herumliegen, DomRep wahrscheinlich. Auch gut, ich musste mich erst einmal in Ruhe an meine neuerdings so geordneten Verhältnisse gewöhnen. Ich wünschte beiden schöne Ferien, winkte Theo zu, der verloren herumstand und wahrscheinlich nach einer weiteren Keksschachtel Ausschau hielt, kassierte einen düsteren Blick von Wallner, den ich mit gerümpfter Nase quittierte, und ließ beim Hinausgehen der Bernrieder fast die Tür ins Gesicht fallen. „Oh, Verzeihung, ich hatte Sie gar nicht gesehen... Schöne Ferien, Frau Bernrieder!“ Ich grinste breit und harmlos und registrierte zufrieden, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Merkwürdigerweise sagte sie aber nichts Bissiges. Ob Verena Recht hatte – dass sie nur boshaft wurde, wo sie Schwäche witterte?

Fast konnte sie einem leidtun, überlegte ich auf dem Weg zum Bus, eben noch die allmächtige Königin des Lehrerzimmers, alles zitterte vor ihr, und dann überreizte sie einmal ihr Blatt und alles fiel über sie her. Ich war mir nicht sicher, ob ihr Fehler darin bestanden hatte, so vehement das überflüssige Sprachlabor zu verteidigen und damit Jörndl in eine Ecke zu drängen, oder ob die überzogene Schulaufgabe, die Silberbauer zum Handeln gezwungen hatte, der größere Fehler gewesen war. Tiefer Fall. Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen... der Deutschlehrer an sich verfügt ja über einen reichen Schatz an Plattitüden!

Ich stieg in Selling aus, sah auf die Uhr – exakt Viertel vor zwei, perfekt! – und marschierte siegessicher in die Bank. Die Sachbearbeiterin, bei der ich erst vorgestern weinerlich meinen Dispo hatte erweitern lassen, lümmelte unbeschäftigt am Tresen herum. Ich fischte meinen Gehaltsnachweis aus der Tasche und verkündete großspurig, ich wollte ein Depot eröffnen. Immerhin grinste sie nicht, sondern blieb ganz sachlich.

„Und woran hatten Sie da so gedacht?“

„An Fondssparpläne, und zwar New Sciences, Geldmarkt 1 und den Sorglos-Fonds. Jeweils für hundert Euro im Monat.“

Sie nickte. „Eine ausgewogene Mischung. Nun gut....“ Sie wuchtete doch tatsächlich eine kleine Reiseschreibmaschine auf den Tresen und spannte ein Formular ein. Ich wunderte mich ein bisschen über das altmodische Equipment. Sie schien das zu spüren, denn sie lächelte verlegen. „Unser Server spinnt heute leider. Ich übertrage das, sobald er wieder läuft, natürlich sofort ins System.“ Sie tippte eifrig, fragte nach meinen persönlichen Daten, erbat drei Unterschriften und veranlasste sofort den ersten Ankauf. Ich musste mir einen längeren Vortrag über den Unterschied zwischen Ankauf- und Rückkaufpreis, Ausgabeaufschläge, Classic Fonds und Trading Fonds und die Vorzüge der hauseigenen Fondsgesellschaften anhören. Bevor sie mir auch noch erklären konnte, was Hedgefonds waren (wer wollte das wissen?), stoppte ich sie. „Danke, das ist mir alles klar. Und wenn ich Fragen habe, kann ich ja vorbeikommen.“

„Jederzeit. Schön, dass Ihre Geldsorgen jetzt ein Ende haben. Sie könnten den Überschuss auf Ihrem Konto auch in einen Sparvertrag überführen – wir hätten da ein Angebot... ab dreitausend Euro vier Prozent Zinsen...“

Ja, und wenn ich wieder ins Minus rutsche, kassiert ihr zwölf. Bin ich blöd?

„Nein, danke“, antwortete ich süß. „Ich bin so ganz zufrieden.“

„Und möchten Sie noch etwas mitnehmen?“

„Nicht nötig, ich hab noch genug“, wehrte ich ab. Für den Aldi reichte es allemal. Hochzufrieden deckte ich mich mit Streichwurst, Streichkäse, Obst, Vollkornbrot, zwei Tüten Chips (Sonderangebot, nur 49 Cent!) und weil Ferien waren und ich es mir verdient hatte, einer Tafel Rahmschokolade mit ganzen Mandeln ein. Ach ja, Klopapier und Waschpulver nahm ich auch noch mit. Mit der Schultasche und dem unvermeidlichen Jutebeutel wurde das etwas unhandlich, und ich war ziemlich froh, als ich meine Wohnungstür aufschließen und wenigstens das Klopapier fallen lassen konnte.

Zehn vor drei – und vor mir lag eine ganze freie Woche!

Was sollte ich bloß alles tun? Andere verreisten oder kümmerten sich um Eltern, Geschwister und/oder Liebhaber, richteten ihre Wohnung neu ein oder leisteten sich eine neue Garderobe.

Und ich? Himmel, kam jetzt etwa ein Anfall von Selbstmitleid? Verdammt, ich hatte Ferien, ein Dach über dem Kopf, zwei volle Einkaufstüten, ein Konto im Plus, sogar ein mickriges Depot und nette Kolleginnen. Was wollte ich denn noch? Das wusste ich auch nicht so recht, aber nachdem ich noch schnell brav meine Einkäufe verräumt hatte, hatte ich so richtig Lust, mir ein bisschen Leid zu tun.

Vielleicht konnte mir ein Mittagsschläfchen gut tun? Das hatte ich mir doch eigentlich verdient, oder? Ich könnte natürlich auch die Schokolade essen, die enthielt doch irgendwelche Glückshormone, hieß es. Aber Schokolade, ohne etwas zu lesen? Und ich hatte absolut keine Lust, mich jetzt in die Städtische Bücherei zu schleppen.

Eigentlich sollte ich ja putzen und die beiden Exen korrigieren, und das zügig, ermahnte ich mich, aber ich war absolut unfähig, damit anzufangen. Stattdessen starrte ich leer vor mich hin, bis ich mich doch endlich wieder ermannte. Vielleicht einen kleinen Spaziergang, um mir anzuschauen, wie die reicheren neunzig Prozent der Leisenberger so wohnten? Und auf dem Rückweg ein paar Schmöker, am besten von der So-machte-ich-meinen-blöden-Exlover-fertig-Sorte. Die Bücherei war auf diesem Gebiet recht gut sortiert, was Rückschlüsse auf das Privatleben der beiden Bibliothekarinnen zuließ. Und vielleicht irgendeinen Leb-Glücklich-Ratgeber und ein paar Krimis...

Ich zog den Anorak wieder an, steckte Geldbeutel und Schlüssel in die ausgeleerte Jutetasche und machte mich auf den Weg. Draußen war es windig und anfallsweise sonnig, dann wieder dicht bewölkt. Ein dramatischer Himmel, die Wolken jagten nur so von West nach Ost, und der Lichtwechsel verlieh Selling stellenweise einen richtig unheimlichen Charakter, speziell an der Alten Fabrik, in der jetzt eine Art Event-Halle untergebracht war. Aber wie in diesem Moment die Sonne auf den verrußten alten Schornstein schien und ihn schwefelgelb aufleuchten ließ vor dem dunkelgrauen Himmel: toll!

Meine Laune hob sich wieder, und ich beschloss, mir öfter solche – kostenlosen – Eindrücke zu gönnen. In der Kölner Straße entdeckte ich einen neuen Laden, der Sonderangebote in Asianudeln führte. Wider besseres Wissen holte ich mir drei Päckchen mit Entengeschmack, obwohl ich das Zeug doch kannte und wusste, dass es kaum nach Ente schmeckte, sondern mehr oder weniger nach nichts, höchstens nach undefinierbarer Brühe. Trotzdem, drei Mahlzeiten für den Wasserkocher!

Von der Kölner Straße führte eine neue Seitenstraße weg, quer durch die Rheinlandsiedlung, die in den letzten Monaten fertig geworden war. Schicke Wohnungen nach dem, was die Bautafeln zeigten. Zwei oder drei Zimmer – auf die Dauer wäre das nicht schlecht. In fünf Jahren vielleicht, aber die Kaufpreise waren für mich unerschwinglich.

Sogar wenn ich fünf Jahre lang so weiter lebte wie bisher, hätte ich dann höchstens – hm – fünf mal zwölf mal dreihundert... – achtzehntausend Euro. Klasse, das war kein Eigenkapital, das war ein Witz. Da musste schon ein neuer Börsenboom her! Und in zehn Jahren? Sechsunddreißig... na gut, vierzig mit etwas Renditeglück. Immer noch höchstens zwanzig Prozent. Ich seufzte und fand mich damit ab, dass es bei mir zu einer Eigentumswohnung nie reichen würde. Höchstens, wenn ich mir so ein Winzappartement wie meine jetzige Wohnung kaufen würde, die musste für unter hundert hergehen, glaubte ich. Aber mein Leben lang in so einer Schuhschachtel? Deprimierender Gedanke!

Natürlich, wenn ich mich mit einem Mann zusammentäte... ja, und dann ginge mein bisschen Kapital noch für seine Eigentumswohnung drauf und ich war die Blöde! Ich hatte genug einschlägige Romane gelesen, um zu wissen, wie so etwas lief.

Aus eigener Erfahrung wusste ich es nicht. Meine paar Freunde bisher hatten zwar auch nichts gehabt, aber sie hatten eigentlich nie versucht, mich abzuzocken. Höchstens arbeitstechnisch: Das kannst du doch gleich mitwaschen. Ansonsten hatten wir die Pleite gelebt, jahrelang, und mit irgendwelchen Idiotenjobs – Briefe sortieren, Hunde ausführen, Semmeln oder Obst verkaufen, Keller entrümpeln, Werbesendungen kuvertieren – notdürftig den Kopf über Wasser gehalten. Manchmal hatte ich mir ausgemalt, eine reiche Verwandte – natürlich väterlicherseits – würde mir ein Vermögen vererben, aber dann war mir eingefallen, dass meine Mutter garantiert Anspruch darauf erheben würde, weil man sie ja gezwungen hatte, mich achtzehn Jahre lang zu ernähren. Der Rechtsstreit hätte mich wahrscheinlich noch den letzten Pfennig gekostet! Gut, dass mein Vater dem Vernehmen nach gar keine Verwandten mehr gehabt hatte. Ganz sicher wusste ich das zwar nicht, aber was sollte ich tun? Eine Anzeige schalten Ist jemand mit Roland Prinz (1954-1975) verwandt? Da würde sich doch jeder Trottel melden, der glaubte, etwas abstauben zu können! Und was hatte ich schon davon, wenn ich ein paar Verwandte ausgrub? Meine Mutter war meine einzige Verwandte, und sie animierte nicht dazu, nach weiteren Exemplaren zu suchen.

Nein, ich wollte meine Ruhe haben.

Aber wozu eigentlich? Um ziellos durch Selling zu schlendern, das welke Laub mit den Füßen aufzuwirbeln und nicht zu wissen, warum ich so diffus unzufrieden war, obwohl es mir heute deutlich besser ging als noch zu Wochenanfang? Vermisste ich meine Notlage vom Montag? Als ich noch wusste, warum ich mir leidtun konnte? Als ich wirklich noch das arme Waisenkind war? Ich war wirklich albern! „Reiß dich zusammen!“, ermahnte ich mich und schritt etwas zügiger aus. Sollten beim Walking nicht auch irgendwelche Endorphine oder so ähnlich freigesetzt werden? Offenbar war ich dafür nicht zügig genug unterwegs, jedenfalls stellte sich die geforderte gute Laune fürs erste nicht ein.

Ich beschloss, den Weg abzukürzen und gleich in die Bibliothek zu gehen und mir allerlei Kitsch auszuleihen. Und dann würde ich ein bisschen putzen, das erste Ex wenigstens halb durchsehen und mir dann mit irgendeinem Schmachtfetzen und der Mandelschokolade einen schönen Abend machen. Genau, das war überhaupt das Allerbeste – und hatte ich es mir nicht verdient? Dieser Entschluss hob meine Laune nun doch etwas, und als ich in der Bibliothek einen ordentlichen Stapel zum Ausleihschalter trug, der dem volksbildenden Charakter dieser Büchereien keine besondere Ehre machte, freute ich mich schon richtig aufs Schmökern.

Medusas Ende

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