Читать книгу Medusas Ende - Elisa Scheer - Страница 6

DO, 23.10. 2003

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Welch ein Genuss, in die Schule zu kommen und seinen Krempel sofort auf seinen eigenen Tisch zu knallen, in Ruhe den Anorak loszuwerden und sich dann auf einen Stuhl zu setzen, bei dem niemand sagte He, da sitzt aber seit zehn Jahren Dr. Sowieso, da dürfen Sie sich doch nicht einfach hinsetzen! Die Bernrieder schaute zwar muffig, als ich fröhlich – und ziemlich laut – einen guten Morgen wünschte und dann zum Kopierer eilte, um das Blatt für die Achte durchzunudeln, aber sie sagte nichts. Auch Kelchow, der gerade neben ihrem Tisch stand, warf mir einen eher düsteren Blick zu, bevor sie sich wieder eine recht interessanten Aktion widmeten: Hunderteuroscheine zählen.

Während ich dem Kopierer zusah, wie er langsam und unter unmutigem Ächzen ein Blatt nach dem anderen ausspuckte, überlegte ich, was die beiden wohl mit so viel Geld taten. Und woher sie es hatten!

Verena stellte sich neben mich, ungeduldig mit einer Exangabe wedelnd. „Brauchst du noch lange? Ich will nämlich in der ersten Stunde die 6 e überraschen!“

„Gleich fertig. Was machen die Bernrieder und der Kelchow mit der ganzen Kohle? Die zählen da, als müssten sie die Beute aus einem Bankraub teilen.“

„Wahrscheinlich Geld für den USA-Austausch. Der Kelchow fliegt im Februar mit dreißig Elftklässlern nach Little Rock. Und die Bernrieder koordiniert hier den ganzen Austausch, egal, wohin. Im Juni kommen dann die Amis zu uns.“

„Interessant!“ Ich fischte meine Vorlage von der Glasplatte und stellte alles auf Standard. „Hier, bitte! Wohin gibt´s denn noch Austauschfahrten?“

Sie legte ihre Vorlage ein, tippte die Anzahl ein und startete. Dann überlegte sie. „Nach Versailles, nach Allessandria – das ist irgendwo bei Mailand – und nach Brno. Da will aber immer keiner hin.“

„Brünn? Tschechien? Nicht übel. Das würde mich mal reizen, ich war noch nie im ehemaligen Ostblock.“

„Mensch, dann sag´s dem Silberbauer, der adoptiert dich auf der Stelle!“

„Wenn ich endlich meinen Eid leisten darf. Wann findet die Fahrt denn da statt?“

„Ich glaube, kurz nach Ostern. Und ihr kommt praktisch gleich mit den Tschechen zurück. Vor Pfingsten ist alles überstanden. Elfte Klassen, glaube ich. Oder zehnte. Frag den Silberbauer. Scheiße, schon zwanzig vor acht, ich hab ja Frühaufsicht! Ciao!“

Die Idee gefiel mir, auch wenn ich dann sicher mehr mit der Bernrieder zu tun hätte, als mir lieb sein konnte. Aber vielleicht war sie ja froh und dankbar, wenn sich jemand den Brünn-Austausch freiwillig ans Bein band. Und aus meiner 11 b würden sicher einige gerne mitfahren.

Ich absolvierte die ersten drei Stunden routiniert – schade, dass niemand zu einem Unterrichtsbesuch gekommen war, die Stunden waren richtig vorzeigbar gewesen, was ja schließlich nicht täglich vorkam.

Als ich in der großen Pause ins Lehrerzimmer zurückkehrte und mich hastig auf meinen Platz stürzte, damit ihn mir keiner streitig machen konnte, merkte ich erst, als ich die Nusskekse auf den Tisch stellte, dass ich mitten in einen gewaltigen Krach geraten war. Die Bernrieder natürlich – im Clinch mit der Englisch-Fachbetreuerin, Frau Reimes. Worum es ging, war mir trotz eifrigem Lauschen zunächst nicht recht klar, nur, dass beide Damen nicht mit persönlichen Spitzen sparten, was Frau Bernrieders soziale Defizite und Frau Reimes´ Übergewicht betraf. Ich war nicht die einzige, die begeistert zuhörte – auch alle anderen saßen, ihre Brotzeit in der Hand, da, als säßen sie mit Popcorn im Kino.

„Aber von Disziplin verstehen Sie natürlich nichts“, schoss die Bernrieder den nächsten Pfeil ab, „Sie haben ja nicht einmal Selbstdisziplin genug, um für einen erträglichen Anblick zu sorgen.“

Das war schon heftig – die Reimes war etwas pummelig, gut, aber sie kleidete sich geschickt und wirkte sehr gepflegt. Während ich noch überlegte, ob ich etwas sagen sollte, und mich über meine Feigheit ärgerte, hielt Nadja ein bordeauxfarbenes Notenbüchlein hoch und rief „Rote Karte! Tiefschlag!“

Die Reimes feixte kurz, die Bernrieder schnauzte: „Halten Sie sich bloß da raus!“

„Wenn Sie unter Disziplin Ihren Kasernenhofton verstehen, damit kann ich wirklich nichts anfangen“, fuhr die Reimes dann die Bernrieder an. „Vor Ihnen haben die Schüler bloß einen Heidenschiss, und damit schafft man auch keine gedeihliche Lernatmosphäre. Oder glauben Sie, es ist Zufall, dass bei Ihnen reihenweise ansonsten erfolgreiche und fleißige Schüler wegen Englisch durchfallen – Schüler, die bis dato keinerlei Schwierigkeiten mit diesem Fach hatten? Ich habe mir diese Schulaufgabe angesehen, und das Niveau wäre schon für einen Leistungskurs happig. Für eine Zehnte ist es absolut übertrieben. Der Text ist jenseits des Weltverständnisses von Sechzehnjährigen, und die Aufgaben sind nahezu unlösbar. Dazu haben Sie noch dermaßen gnadenlos korrigiert, dass mich der Durchschnitt von 5, 31 nicht wundert. Sie werden diese Schulaufgabe zurückziehen, Frau Bernrieder, und bevor Sie sie wiederholen, legen Sie mir die Angabe bitte vor.“

„Ich denke nicht daran! Ich geh zum Chef!“

„Erstens ist der immer noch auf der Direktorentagung, und zweitens hat er mich gestern Morgen vor seiner Abfahrt gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Glauben Sie, er legt Wert darauf, dass ihm erboste Eltern die Bude einrennen, wenn er überhaupt nichts in der Hand hat?“

„Eltern!“, schnaubte die Bernrieder. „Erst setzen sie dämliche Kinder in die Welt, und dann glauben sie, sie könnten das Abitur auf dem Beschwerdeweg einklagen.“

„Mit solchen Vorlagen könnten sie das auch. Die Schulaufgabe war wirklich voll daneben. Sie wird kassiert, und wenn Sie es der Klasse nicht sagen, tue ich´s. Ob das Ihre Position in der Klasse natürlich festigt...“

„Das wagen Sie nicht!“

„Wollen Sie´s drauf ankommen lassen?“ Die Reimes lächelte gelassen, aber man merkte, dass sie einen eisenharten Kern hatte. Mit zornrotem Gesicht stürzte die Bernrieder nach draußen. Ich grinste versonnen. „Hätte ich nicht gedacht, dass jemand der Frau mal so kräftig eins auf die Nase gibt. Klasse!“

Nadja grinste auch. „Die Reimes traut sich eben. Aber offenbar war die Schulaufgabe dermaßen über dem Niveau, dass ihr gar nichts anderes übrig geblieben ist. Die Bernrieder ist furchtbar, ich warte immer darauf, dass irgendein Schüler mal eine Dummheit macht, weil er nicht mehr weiter weiß. Wir lassen uns ja schon alles raushängen, dass sie zu jedem von uns kommen können, wenn sie von der Bernrieder schikaniert werden, aber ob sie sich das trauen? Und der Silberbauer selber – der delegiert so was an jeden, der sich über diesen Feldwebel beschwert. Dann sprechen Sie doch selbst mal mit ihr, das ist seine ständige Antwort. Dabei müsste er mal ran. Und einen Eintrag in die Personalakte! Sie bringt Unfrieden ins Kollegium, sie hat das Sozialverhalten eines wütenden Nilpferds und die pädagogischen Talente eines Schleifers bei den Marines. So kann es doch nicht weiter gehen!“

„Hat sie denn gar keine Fans?“

„Der Kelchow verteidigt sie manchmal etwas matt. Der Jörndl hat Angst vor ihr, aber die Sache mit den Tischen zeigt doch, dass er sich auch nicht alles gefallen lässt. He, Nusskekse! Die guten von Aldi! Die ess ich auch am liebsten!“ Sie griff zu, und ich schämte mich nicht länger meines preisbewussten Einkaufsverhaltens. Theo stieß wie eine Mastgans, die sich für einen Raubvogel hält, auf unseren Tisch hernieder und langte in die Keksschachtel. „Super! Ich hab grad so einen Hunger!“

„He, friss die nicht alle auf“, schimpfte Nadja lachend, „Verena und Bea wollen vielleicht auch noch welche!“

„Dann sollen sie nicht herumtrödeln.“

„Die haben Aufsicht!“ Sie schlug ihm auf die Finger. „Außerdem sitzt dein Pulli schon ganz schön stramm. Apropos, eben hast du vielleicht was verpasst...“ Sie tratschte ihm mit gesenkter Stimme alles über den eben gehörten Streit, fast wörtlich. Ich staunte über ihr perfektes Gedächtnis und assistierte, wo es nötig war – meist musste ich nur bestätigen, dass es wirklich so gewesen war.

Theo schaffte es, beim Zuhören fast alle Kekse zu verdrücken, ich konnte nur staunend zusehen. „Ob ihre Macht jetzt gebrochen ist?“, überlegte Verena, die mittendrin hereingekommen war und Theo jetzt auf die Hand schlug, bevor er sich auch noch den letzten Keks nahm. „Das ist meiner!“

„Wäre ja zu schön“, meinte Nadja versonnen. „Eva, irgendwie hast du das ausgelöst. Wie du vorgestern so waisenkindartig hier herumgestanden bist – das muss in Jörndl verschüttete Beschützerinstinkte geweckt haben. Na, und wenn einer aufmuckt, werden die anderen natürlich auch frech.“

Ich kicherte. „Meinst du ehrlich?“

„Wer weiß?“

Theo verzog sich wieder, um noch etwas nachzuschlagen. „Was machst du heute Abend?“, fragte Verena mich, kaum, dass er außer Hörweite war.

Ich zuckte die Achseln. „Zu korrigieren habe ich ausnahmsweise nichts. Putzen könnte ich mal, aber das dauert höchstens zehn Minuten. Warum?“

„Wir gehen um acht ins Ratlos. Komm doch mit! Nicht lange, auf ein, zwei Bierchen und vielleicht was zu essen.“

„Superidee“, fand Nadja. „Du musst unbedingt mitgehen. Das Ratlos wird dir gefallen, bestimmt!“

„Ich kenne das Ratlos“, antwortete ich beleidigt. „Ich bin von hier, schon vergessen? Wir haben da unser Seminarende gefeiert. Ich hab bloß kein Geld, um dort was zu essen. Erst, wenn die endlich mal gezahlt haben.“

„Dann leihen wir dir eben was. Oder du isst vorher zu Hause, wie du willst. Das Bier ist da nicht so teuer. Kommst du?“

„Klar. Ich muss auch mal wieder vor die Tür. Und da geht sogar ein direkter Bus hin.“

„Hast du kein Auto?“, fragte Verena ganz entsetzt. Ich schüttelte den Kopf. „Arm wie die sprichwörtliche Kirchenmaus. Für ein Auto hat es nie gereicht, ich bin ja schon froh, dass ich ziemlich billig an den Führerschein gekommen bin.“

„Wie kommt man da billig ran? Meine Eltern haben damals für mich ein Schweinegeld abgedrückt, und dann bin ich auch noch beim ersten Mal durchgefallen“, erinnerte sich Nadja.

„Eine Schulfreundin hatte einen riesigen wüsten Garten und einen geduldigen Bruder. Der hat mit mir endlos geübt, dann hab ich bloß noch zehn Stunden gebraucht. Inklusive Sonderfahrten. Ich glaube, der Fahrlehrer war auch noch ein Kumpel von dem Bruder. Jedenfalls hätte ich mir das Ganze sonst nie leisten können. Für eine Fahrstunde hab ich vier Stunden beim Bäcker verkauft, und aufs Abi lernen musste ich irgendwann ja auch mal.“

„Harte Jugend“, stellte Verena fest und zog ein mitfühlendes Gesicht.

Ich lachte etwas unfroh. „Was einen nicht umbringt... jedenfalls hab ich´s geschafft, und das ist doch die Hauptsache. Also, heute Abend um acht? Ich freu mich. Bestellt ihr einen Tisch?“

„Ich mach´s“, sagte Nadja, „sonst stehen wir wieder den ganzen Abend an der Theke, und da kann man sich nicht in Ruhe unterhalten. Zu tratschen haben wir schließlich genug.“

Verena lachte so schallend, das Wallner, der in seiner Ecke gelesen hatte, aufstand, zu uns kam und sie daran erinnerte, dass manche Leute hier auch arbeiten wollten. „Der Silentiumraum ist nebenan, da wo die Rechner stehen“, entgegnete Verena sofort etwas pampig. „Wir pflegen hier das kollegiale Klima, aber davon verstehen Sie wohl nichts.“

Er verzog einen Mundwinkel minimal, was ihn noch mürrischer wirken ließ als sonst. „Ganz schön kess, Frau – äh – Ernst.“

„Oh, Sie kennen meinen Namen? Ich fühle mich geschmeichelt.“

„Seien Sie in Zukunft von etwas weniger – äh – aufdringlicher Fröhlichkeit“, bat er kühl und wandte sich ab. „Der hat wohl Angst, das könnte ansteckend sein und sogar ihn mal zu einem freundlichen Gedanken verführen“, tuschelte Nadja, sobald er sich einige Schritte entfernt hatte. Er drehte sich kurz um, als habe er das noch gehört, fixierte Nadja kurz und ging zurück zu seinem Platz.

Nadja kicherte unterdrückt. „Kneif du nur den Arsch zusammen!“

Das verstand er Gott sei Dank wohl nicht mehr.

„Warum ist der so miesepetrig?“, erkundigte ich mich leise.

„Keinen Schimmer. Irgendwer hat mal gesagt, Schicksalsschlag, jemand anderes, natürliche Muffigkeit. Er tut aber keinem was, außer dass er keinen leiden kann. Besonders keine Frauen.“

„Schwul?“, erkundigte ich mich noch leiser.

„Nö, glaub ich nicht.“

„Aha. Frauen sollen gefälligst daheim bleiben?“

„Barfuß und schwanger am Herd?“, sekundierte Verena mir. Nadja hob die Hände, Handflächen demütig nach oben gerichtet. „Ich weiß es doch auch nicht. An Frauen – jungen Frauen – meckert er eben bevorzugt herum, scheint es.“

„Ich mag keine Typen, die in keine Schublade passen, sondern unordentlich herumliegen“, klagte Verena. „Wir müssen ihn beobachten.“ Das fand ich nun auch wieder übertrieben. Der Wallner ging uns doch wirklich nichts an.

Nach einer weiteren Stunde in der siebten Klasse (Hinführung zum Investiturstreit) konnte ich nach Hause fahren, wo ich mich sehr befriedigt umsah. Leerer Schreibtisch, herrlich! Nach den Allerheiligenferien standen zwar zwei Schulaufgaben an, aber doch wenigstens mit einer Woche Abstand, und heute musste ich bloß den Unterricht für morgen vorbereiten und mir zwei Exen ausdenken, aber die Notizen hatte ich doch schon. Und vielleicht ein Grammatikspiel für die Fünfte.

Ich vertilgte das übliche Leberwurstbrot, verzichtete darauf, den heutigen Überschuss von drei Euro dreiundsechzig in die Blechdose zu werfen, weil ich ja später wenigstens ein Bier finanzieren musste, und machte mich an die Arbeit.

Eigentlich hatte ich doch einen tollen Job, stellte ich fest, als ich mit allem fertig war und es draußen gerade erst zu dämmern begann. Noch nicht mal sechs Uhr, und ich war schon fertig! Ich beschloss, das übliche Lehrerjammern in Zukunft zu unterlassen, damit bediente man bloß Klischees, und für das Burnout-Syndrom war ich wirklich noch zu jung. Ob die Bernrieder an so was litt? Aber müsste sie dann nicht bleich und lustlos durch die Schule schleichen anstatt alle zu schikanieren? Ob sie die Schulaufgabe wohl zurückzog? Musste sie ja, wenn sie nicht wollte, dass die Reimes sie vorführte. Und so, wie die Reimes heute dreingeschaut hatte, wäre es ihr ein richtiges Festessen, das war mal klar.

Ich warf mich auf mein Bett, verschränkte die Arme im Nacken und sah an die Decke. Wie schnell sich die Situation ändern konnte! Noch am Montag hatte ich mich wie das Stiefkind der Nation gefühlt, und jetzt war ich so richtig akzeptiert. Nicht bei der Bernrieder natürlich, aber bei Nadja, Verena und Theo. Und die waren doch nett. Gott, was dieser Theo so wegfuttern konnte - zum Schießen! Ich hatte einen eigenen Platz im Lehrerzimmer, nette Klassen und vielleicht bald sogar ein Gehalt. Was wollte ich mehr? Ja, und meine Mutter wollte nicht, dass ich sie besuchte. Auch das war unbedingt unter die positiven Dinge zu rechnen, so zielstrebig, wie sie einem die Laune zu verderben pflegte.

Ich wälzte mich wieder vom Bett und griff zum Telefon. Mal hören, wie sich Leonie in München so eingelebt hatte! Leonie war da und klang entnervt.

„Bist du im Stress?“, erkundigte ich mich mitfühlend.

„Kannst du laut sagen!“, stöhnte sie. „ich hab zwei Schulaufgaben auf einmal zu korrigieren, morgen schreibe ich noch eine Grundkursklausur -“

„Was denn, so früh schon?“

„Ich versteh´s auch nicht, aber so steht es eben im Klausurplan, und unsere Kollegstufenbetreuerin besteht darauf, dass die Termine eingehalten werden, egal, wie bescheuert sie sind. Ich hab die Iphigenie noch nicht mal richtig durch!“

„Doof“, stimmte ich ihr zu.

„Und morgen Abend ist auch noch eine Schulparty, und sie haben mich gekeilt, Aufsicht zu machen. Von zehn bis eins, bis ich da rauskomme, fährt auch keine U-Bahn mehr.“

„So viel zur Weltstadt München“, feixte ich, froh, in einem ungetarnten Kuhkaff zu arbeiten. „Weltstadt!“, höhnte Leonie. „Das kannst du echt vergessen. Das einzige, was hier Weltstadtniveau hat, sind die Mieten. Was ich für diese popelige Zweizimmerwohnung zahle, das glaubst du nicht!“

„Nämlich?“

„Neunhundert Euro! Kalt! Das ist doch eine Frechheit, oder? Aber so, wie die Schule liegt, mag ich auch nicht weiter draußen wohnen, dann fahre ich mich dumm und dämlich.“

„Du hast also schon Gehalt gekriegt? Wie viel?“, erkundigte ich mich gespannt.

„Klar, etwa zwodrei netto. Nach Abzug aller Fixkosten reicht es gerade noch für trockenes Knäcke dreimal täglich. Wieso, kriegst du weniger?“

„Bis jetzt hab ich noch gar nichts bekommen. Aber unsere Sekretärin hat diese Dödel in der Bezügestelle so angeschnauzt, dass die jetzt ihren Arsch hoffentlich mal hochgekriegt haben. Ich lebe zurzeit von vier Euro am Tag und davon, dass die Bank mich weiter überziehen lässt. Und vom Verkauf meines Firmungsschmucks, aber der war nicht wirklich was wert.“

Leonie kicherte. „Erinnerst du dich noch an dieses riesige Kreuz auf dem Foto von meiner Firmung?“

„Das, das aussah, als sei es passend zu Ottos Kaiserkrone entworfen worden?“

„Genau das. Ich dachte, ich verscheuere es – Tante Herta ist ja längst tot, die Gute – und finanziere so meinen Umzug nach München. Und was stellt sich raus? Der Materialwert beträgt keine zwanzig Euro. Alles falsch! Ich hab´s in meiner Wut auf den Wertstoffhof gebracht.“

„Die werden sich gefreut haben! Ich hoffe, du hast es korrekt in den Extracontainer für nachgemachte Krönungskreuze geschmissen?“

„Nein, ein Angestellter wollte es haben, für den Fasching. Soll er doch als Papst gehen, wenn es ihn glücklich macht. He, aber an unserer Schule gibt es pfundweise schnuckelige Junglehrer, man hat die freie Auswahl.“

„Beneidenswert. Bei uns ist die Ausschussquote hundert Prozent. Bei den Männern wenigstens.“

„Naja, ein paar gibt es schon, die es schaffen, gleich im ersten Satz ihre Freundin zu erwähnen“, gab Leonie zu. „Die kann man dann auch streichen. Aber nett sind sie eigentlich alle.“

„Bei uns gibt es ein paar echt seltsame Gestalten, das glaubt man kaum.“ Ich erzählte ihr von der Bernrieder und dem Aufstand gegen sie, und sie amüsierte sich prächtig.

Zwo drei, dachte ich, nachdem wir uns verabschiedet hatten. Mehr, als ich erwartet hatte. Oder gab es für München so was wie einen Ortszuschlag, weil dort alles so teuer war? Dann könnte ich aber wenigstens zwoeins – oder zwozwo... für einen weiteren Fonds musste es auf jeden Fall noch reichen! Ich kramte meine Prospekte wieder aus der Schublade und studierte sie. Vielleicht einen spekulativeren... hier, New Sciences, ein bisschen Medizinforschung, ein bisschen Internet, ein bisschen Logistik. Das musste doch alles langsam wieder im Kommen sein? Ich schaute den Chart nach. Tatsächlich, grob abgestürzt seit 2000 und jetzt erholte er sich langsam, war aber immer noch recht billig – der Anteil für siebzehn Euro. Der Tiefpunkt hatte bei sechs gelegen, der Start bei zwanzig. Am Montag würde ich die Daueraufträge festmachen, ganz bestimmt! Nein, erst sollte ich mal ein Einkommen aufzuweisen haben. Sonst machte ich mich ja total lächerlich.

Im Ratlos war mal wieder Hochbetrieb. Ich war noch nicht oft hier gewesen, aber wenn, dann war es jedes Mal gesteckt voll gewesen. Ob das an den zivilen Preisen lag, dem guten Essen oder den netten Wirtsleuten, wusste ich nicht und es war mir auch egal. Hauptsache, ich fand endlich Freunde unter meinen Kollegen! Nadja und Verena winkten von einem kleinen Fenstertisch, dessen dritten Stuhl sie anscheinend eisern verteidigt hatten. Hastig setzte ich mich, bevor wieder jemand mit Ich-darf-doch-Blick nach der Lehne greifen konnte.

„Schön, dass du da bist“, sagte Nadja, und Verena nickte. Die Bedienung tauchte hinter mir auf und ich bestellte ein Helles, aber nichts zu essen. So dicke hatte ich es wieder auch nicht! In einer Ecke entdeckte ich Leute, die ich aus meiner Referendarzeit kannte, und winkte ihnen zu.

„Wer ist das?“

„Welche vom Leo“, antwortete ich. „Das war meine Seminarschule. Nette Leute dort.“ Verena nickte. „Wir haben mal mit denen ein gemeinsames Projekt veranstaltet. Da läuft manches besser als bei uns.“

„Das liegt an der Chefin“, behauptete Nadja. „Die greift auch mal durch, wenn´s sein muss. Und sie weiß, wo sie mit ihrer Schule hin will. Der Silberbauer – das ist ein besserer Konkursverwalter. Der hat doch längst aufgegeben.“

„Im Geist ist der immer noch in Oxford“, fügte Verena hinzu.

„Der hat in Oxford studiert? Edel!“, staunte ich.

„Ach wo. Hätte er wohl gerne. Er hat vielleicht mal eine Pauschalreise dahin gemacht, und seitdem lebt er so, wie er sich Oxford vorstellt. Sanfte Gelehrsamkeit, gedämpftes Licht, getäfelte Wände. Schau dir bloß mal das Direktorat an!“

„Da war ich noch nie“, bekannte ich, „ich hab ja immer noch nicht geschworen.“

„Dann guck dir seine Krawatten an. Alle mit Wappen. Unser kleiner Hochstapler.“

„Ich glaube, ich habe ihn nur bei der ersten Konferenz von weitem gesehen. Kümmert der sich eigentlich um gar nichts?“

„Kaum. Wenn man zu ihm geht und sich beklagt, tut er vielleicht was, aber die Arbeit macht der Jörndl fast alleine. Die Hausmann ist nicht da und der Wettig scheint langsam zu vertrotteln, das siehst du ja an diesen abartigen Vertretungsplänen. Nein, der Silberbauer sitzt die Zeit bis zur Pensionierung einfach ab und hofft, dass nichts Ernsteres passiert.“

„Deshalb hat die Reimes ja so gute Karten“, fügte Verena hinzu. „das einzige, wovor der Silberbauer Schiss hat, sind wütende Eltern. Und die Schulaufgabe von der Bernrieder muss echt ein Skandal gewesen sein.“

Ich sah betont auf die Uhr. „Zwölf nach acht – und wir sind beim Thema. Gute Zeit!“ Verena lachte. „Ja, diese Frau hat zumindest Unterhaltungswert. Aber nimm sie auf keinen Fall ernst, ihre Gegner formieren sich ja schon, wie dir aufgefallen sein dürfte. Und wenn man zu ihr unverschämt ist, fällt ihr meistens nichts ein. Sie beißt nur zu, wo sie Schwäche wittert.“

Sie unterhielten mich mit allerlei Anekdoten, denen ich entnehmen konnte, dass die Bernrieder sich wirklich bei allen unbeliebt gemacht hatte; nur Kelchow schien nichts gegen sie zu haben. „Ob sie so unsicher ist, dass sie dauernd um sich beißen muss?“, überlegte ich schließlich, nachdem ich mich köstlich amüsiert hatte. „Sie ist einfach ein Besen“, tat Verena sie ab. „Und jetzt reden wir mal nicht von der Schule, das ist ja wie auf einer Teenieparty. Hey, da kommt unser Essen, sehr gut!“

Ich nahm einen homöopathischen Schluck von meinem Bier und betrachtete mir das überbackene Sandwich und den Currysalat. Sah sehr lecker aus. Wenn mein Konto ausgeglichen war, dann – ja dann! Ich dachte an das Vollkornbrot in meinem Magen – das musste reichen, auch wenn keine Leberwurst mehr da gewesen war. Eigentlich hatte ich auf Leberwurst auch gar keine Lust mehr. Morgen würde ich mir was anderes kaufen – Teewurst? Sardellenpaste? Remoulade aus der Tube? Erdnussbutter war billig – aber so schmeckte sie eben auch.

„Woran denkst du?“, fragte Nadja mit vollem Mund.

Ich zuckte die Achseln. „An nichts Besonderes. Schmeckt´s?“

„Super!“, antwortete sie mit vollem Mund. „Mal probieren?“ Sie hielt mir eine Gabel voll hin. Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin noch total satt vom Abendessen. Mir reicht das Bier.“

Nadja schob sich die Gabel selbst in den Mund. „Wer nicht will, der hat schon. Pass auf, ich wette mit euch, dass morgen noch jemand gegen die Bernrieder aufsteht!“

„Wer?“, fragte Verena sofort.

„Keine Ahnung. Aber jetzt kommt jeden Tag jemand dazu.“

„Nach morgen gibt´s erst mal eine Woche Ferien“, gab ich zu bedenken, „da kann so mancher Mut verpuffen.“

„Oder jemand steigert sich in seine Wut so richtig rein. Da knallt´s noch mal, sie hat sich einfach mit zu vielen angelegt. He – hat sie nicht morgen Sprechstunde? In der dritten? Im Lehrerzimmer?“

„In der dritten hab ich frei. Soll ich zählen, wie viele mordlüsterne Mütter aufkreuzen?“, bot ich an.

„Ja, unbedingt. Ich glaube, nach der Stunde ist die Gute schon ein Stückchen kleiner. Und der Silberbauer ist auch wieder da. Auch wenn er von alleine nichts auf die Reihe kriegt – wenn die Reimes ihn heiß macht, kassiert er die Schulaufgabe sofort. Also, Leute – morgen Komödienstadel!“

Ich lachte. So musste man den Affenzirkus sehen! Bloß würde ich jetzt jedes Mal, wenn ich die Bernrieder sah, Zenzi denken und albern kichern.

„Und wer ist der Hoferbe? In solchen Stücken gibt´s immer eine Magd und einen Hoferben.“

Verena schüttelte sich. „Die müssten sich dann ja kriegen... Mal sehen, wen hassen wir so sehr, dass wir ihm ein happy end mit der Bernrieder antun?“

„Wallner“, schlug ich vor. „Der hat mich auch schon blöd von der Seite angequatscht.“ Verena schüttelte den Kopf. „Der Griesgram! Ja, aber so blöd ist er auch wieder nicht. Den aalglatten Kelchow? Nein, der fällt tot um. Nadja, dein Bremml! Dann erstickt sie wenigstens schnell!“

Nadja grinste. „Gut, aber bis auf diese billigen Zigarren ist der Bremml ganz okay. Und für einen Hoferben ein bisschen zu alt.“

Wir waren uns zwar einig, dass alle Männer an der Schule mehr oder weniger doof waren, aber so schlimm, dass er mit Zenzi Bernrieder auf einem Einödhof enden musste, war auch wieder keiner. Bei unserer Revue amüsierten wir uns aber köstlich, und als Verena auf die Uhr sah, staunten wir nicht schlecht, dass es schon auf halb elf zuging. Wir zahlten hastig (das Bier 2.20, das war doch wirklich zivil – trotz Trinkgeld blieben mir noch 1.13 für die Blechdose) und ich eilte winkend zum Bus.

Medusas Ende

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