Читать книгу Grundreinigung - Elisa Scheer - Страница 6
Fünf
ОглавлениеDie Familie saß vollzählig um die Kaffeetafel. Ich ließ meinen Blick wandern: Meine Eltern sahen recht vergnügt drein – weil sie ihre Brut komplett um sich versammelt hatten? Ariane zog ein mürrisches Gesicht, wie es einer Siebzehnjährigen zukam, und popelte abwechselnd an ihrem schwarzen, abgesplitterten Nagellack und an einem total zerkrümelten Stück Marmorkuchen herum, Annika wirkte deprimiert und sagte gar nichts, Geli erzählte von einer Spanischvorlesung, die sie tief beeindruckt hatte, und Mama tat so, als verstünde sie etwas davon.
Meine Eltern! Hatten vier Töchter und gaben allen einen Namen mit A, als seien wir ein Wurf junger Hunde! Post an A. Holler hatte uns vor große Probleme gestellt, solange wir noch alle hier wohnten, aber Geli und ich hatten ja mittlerweile etwas Eigenes: Geli wohnte mit zwei Freundinnen zusammen in einer etwas vergammelten Dreizimmerwohnung in der Altstadt, und ich hatte mein winziges Appartement.
Annika hätte im Sommer auch ihr Abitur und würde dann so rasch wie möglich ausziehen, konnte ich mir vorstellen, also blieben meine Eltern nur noch auf Jani sitzen, die erst in der elften Klasse war und sich gerade im Grufti-Look gefiel. Hatte man das denn immer noch? Eine entsprechende Frage würde aber nur meine Uninformiertkeit und mein Spießertum zeigen, also sagte ich lieber nichts. Bei Spießertum fiel mir aber etwas anderes ein.
„Ich hab Heiner rausgeschmissen“, verkündete ich also mitten in einen Monolog über Calderón. „Sehr gut“, lobte mein Vater, „ich konnte diesen Angeber noch nie leiden. Was war der Anlass?“
„Er wurde mir zu teuer, er hat ja immer erwartet, dass ich sein Leben mitfinanziere. Und jetzt, wo ich den tollen Job erst im April antreten kann...“ So verpackte man unangenehme Nachrichten geschickt! Oder doch nicht?
„Was?“ Mama fuhr auf, Calderón war vergessen. „Du hast die Stelle noch gar nicht?“
„Nein, es gibt eine halbjährige Besetzungssperre. Im Moment putze ich für meinen Lebensunterhalt.“
„Du putzt?“ Geli kicherte, wahrscheinlich dachte sie an das heillose Chaos, das immer in meinem Teeniezimmer geherrscht hatte.
„Ja, eigentlich ist das ganz interessant. Obwohl es ja schon Spinner gibt...“
Ich gab ein paar Geschichten über die Rössel zum Besten und erzählte dann auch von der grausigen Villa Kampmann. Allgemeines Gelächter – nur Annika verzog keine Miene. Papa überlegte halblaut. „Kampmann – Kampmann, den Namen hab ich doch schon mal gehört?“
„In welchem Zusammenhang?“ Der mürrische Kerl interessierte mich ja doch! Vielleicht erfuhr ich hier, warum er so mürrisch war? „Weiß ich nicht mehr. Da war was... ich komm jetzt nicht drauf. Heißt er – Moment – äh – Clemens?“
„Ja, ich glaube schon“, tat ich unwissend. „Der war mal an der Uni“, steuerte Geli bei, „aber das war vor meiner Zeit. Da gab´s irgendwelchen Ärger.“
„Weshalb?“ Jetzt wurde ich richtig neugierig. „Weiß ich auch nicht, aber ich kann mich mal umhören. Es muss ein richtiger Skandal gewesen sein.“
„Vielleicht hat er was mit einer Studentin angefangen“, schlug Jani vor.
„Das wäre doch kein Skandal gewesen“, winkten Geli und ich ab.
„Echt? Also, wenn bei uns ein Lehrer mit einer Schülerin poppt, dann ist die Kacke schon ziemlich am Dampfen“, verteidigte sich Jani.
„A-ri-a-ne! Bitte nicht solche Wörter bei Tisch!“ Mama klang direkt scharf.
„Ja, aber an der Uni ist das nicht verboten. Man kann schließlich immer den Prof. wechseln, oder?“ Ich nickte zu Gelis Ausführungen und dachte über ein zweites Stück Kuchen nach. Lieber nicht, Heiners Frechheiten spukten mir immer noch im Kopf herum. „Schriftsteller ist er, oder?“, überlegte Papa weiter. „Krimis, glaube ich...“
„Ihr habt Sorgen!“, fauchte Annika unvermittelt los, schob krachend ihren Stuhl zurück und rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Wir sahen ihr konsterniert nach. „Was hat die denn? Liebeskummer?“, fragte ich.
„Null Punkte in der Matheklausur“, erläuterte Mama. „Ich kenne mich zwar mit diesen neuen Noten immer noch nicht so aus, aber es hört sich übel an.“
„Null Punkte ist eine Bombensechs“, erklärte Geli freundlich. „Und sie hat schon zweimal die Hürde gerissen, also hat sie Angst um ihr Abitur. Ist doch logisch!“
Damit war mein Putzjob natürlich vergessen. Wir überlegten, wie man Annika helfen konnte. Leider waren wir alle keine Mathecracks, wenn es auch bei Geli und mir für einen Dreier immer gereicht hatte. Jani war ganz gut, aber sie kannte den Stoff ja noch gar nicht. Schließlich fiel Geli ein Kommilitone ein, der Mathematik studierte und angeblich ganz toll erklären konnte. Zusammen stiegen wir die Treppe hinauf. Annika lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. „Na, habt ihr jetzt von meiner Schande gehört? Ich fall durchs Abi, wenn das so weiter geht! Oder ich werde gar nicht erst zugelassen.“
„Du schreibst doch noch eine Klausur, oder?“ Annika brummte zustimmend. „Soll ich den Holger mal fragen, ob er mit dir übt?“
„Holger – und wie noch?“
„Holger Reuss, warum?“
„Der Reuss? Der, bei dem der halbe Kurs sitzt? Der ist endlos ausgebucht, das kannst du vergessen.“
„Wart´s ab. Ich kenne ihn ganz gut. Hast du die Klausur noch?“
Unwirsche Kopfbewegung in Richtung Schreibtisch. Es sah gar nicht gut aus, alles rot, überall Fehlzeichen, und vorne am Rand stand schwungvoll O P. = 6. Am Ende der letzten Seite las ich Katastrophal! So kann es nicht weiter gehen, Annika! Das konnte einem das Wochenende schon verbittern.
„Du Arme...“
„Ich bin eben zu blöd für Mathe“, murmelte Annika.
„Quatsch!“, widersprach Geli. „Holger sagt, Mathe kann jeder, wenn man es ihm richtig beibringt. Wieso sitzt denn der halbe Kurs bei ihm? Weil der Pfister nicht erklären kann, oder?“
„Du hast den Pfister?“, hauchte ich entsetzt. „Scheiße, bei dem wäre ich auch mal fast durchgefallen, in der neunten. Das ist doch der letzte Chaot!“
„Wem sagst du das“, seufzte Annika. Geli zog ihr Handy aus der Tasche und ging zum Telefonieren auf den Flur. Nach zwei Minuten war sie wieder da. „Morgen um sieben Uhr abends, bei ihm. Okay?“
„Ernsthaft? Ist ja toll!“ Annika lebte wieder auf. „Wie hast du das gemacht?“
„Tränendrüse. Um sieben wäre er eigentlich fertig, aber er quetscht dich noch dran. Du sollst alles mitbringen, auch die Klausur, und dann will er mal sehen. Aber du sollst dich auf blöde Termine einstellen, die guten sind schon fest vergeben.“
„Macht nichts, ich würde auch um Mitternacht hingehen. Hauptsache, er bringt mich über die Hürde!“
Wieder ein Problem gelöst! Wir trabten die Treppe wieder herunter. „Dass du Heiner abserviert hast... Ich fand ihn eigentlich ganz süß“, stellte Geli unterwegs fest. „Ja, äußerlich schon. Aber er ist ein Schmarotzer und wahnsinnig eingebildet. Nur er weiß, was Kultur ist, wir anderen sind spießige Banausen, nur dazu gut, das Genie zu umsorgen. Das wird einem irgendwann dann doch zu blöde.“
„Mir kam er eigentlich schon ganz schlau vor. Weißt du noch, seine bösartigen Kommentare, als Titanic im Fernsehen lief?“
„Ja, weiß Gott. Und wir sollten uns alle so einen experimentellen Film aus Tunesien stattdessen angucken. Mag ja sein, dass da mehr Aussage drinsteckte, aber auch Leonardo di Caprio hat doch eine Existenzberechtigung. Außerdem ist bei Heiner nichts echt. Du hättest mal erleben müssen, wenn Proletarierkultur und elitäre Hochkultur sich gegenseitig widersprochen haben, dann wusste er absolut nicht, wo er sich einordnen sollte. Null eigener Geschmack.“
„Du bist ganz schön hart. Ich dachte, du hast ihn mal geliebt?“
„Das legt sich, wenn du bloß das Hausdoofi bist, das - wie hat er so nett gesagt? – nur zum Putzen und zum Bumsen taugt. Nach diesem Satz, das muss ich leider zugeben, ist das Niveau der Diskussion ziemlich abgestürzt.“
Geli kicherte. „Das hat er gesagt? Grob.“
„Ich hatte ihn provoziert, aber er ist auch verdammt leicht zu provozieren. Was der von einer Frau will, ist schnell umrissen: zahlen, bewundern, poppen. Was sie denkt, ist irrelevant, er ist das Genie, und damit basta! Aber du kannst dein Glück gerne bei ihm versuchen, er scheint eine Mäzenin zu suchen. Gisi wollte ihn ja auch nicht zurück.“
„Hat er denn so wenig Geld?“
„Ach wo“, schnaufte ich, „er verdient ganz anständig. Aber das Privileg, den Avantgardepapst bei sich wohnen zu haben, kostet eben. Er spart sein Geld, wofür, weiß ich nicht. Vielleicht will er ein weiteres Filmfestival ins Leben rufen, es gibt ja noch kaum welche.“
Geli lachte wieder. „Ich glaube, der ist mir auch zu teuer – und zu anstrengend. So toll ist der Job beim Tengelmann wieder nicht. Und in der WG wollen die den sicher auch nicht haben."
„Aber ihm würde das gefallen“, sinnierte ich, „drei Weiber – fast schon ein Fanclub.“
„Nö, lass mal, das muss ich nicht haben.“
„Sehr vernünftig. Wäre ich bloß damals auch so schlau gewesen! Obwohl – ganz zu Anfang war er noch nicht so.“
„Und jetzt bist du pleite?“ Das sagte sie klugerweise in dem Moment, als ich die Wohnzimmertür öffnete, und zwei Elternköpfe fuhren entsetzt herum.
„Ja. Als ich gesagt habe, er soll im Monat dreihundert Euro auf den Tisch legen, sonst kriegt er nichts mehr zu essen, war es gar nicht mehr so schwer, ihn loszuwerden. Im Moment hab ich noch, glaube ich, sechzig Euro bis zum Dispolimit und etwa zwölf Euro in der Tasche. Ende des Monats müsste ich noch – siebzehn mal fünfzehn mal vier – äh – rund tausend Euro von JobTime kriegen. Und ich kaufe bloß noch bei Aldi ein, und nur ganz wenig.“
„Sehr vernünftig“, lobte Papa und guckte gequält – offenbar hatte er schon erkannt, dass hier für einen Pumpversuch der Boden bereitet werden sollte. Ich hütete mich, sofort in diese Kerbe zu hauen, und bedankte mich nur fromm für dieses Lob. Nach einer weiteren Runde Smalltalk und dem vergeblichen Versuch, Jani auszureden, sich die Haare blauschwarz zu färben, um wie Morticia Addams auszusehen, machte ich mich umständlich zum Aufbruch bereit.
Mama sprang sofort auf. „Komm vorher noch mal mit in die Küche!“ In der Küche füllte sie die Hälfte des Marmorkuchens in eine Tupperwaredose, packte die in eine Plastiktüte, steckte noch einige Konserven dazu und ein frisches Paket Kaffee und küsste mich. „Und melde dich, wenn du Hunger hast oder Geld brauchst!“
„Mach ich“, versprach ich gerührt und schleppte die Tüte in den Flur, wo Papa neben dem Garderobenständer lauerte. Zwei kleine grüne Quadrate wurden mir unauffällig in die Hand gedrückt. „Aber sag´s nicht Mama!“
Ich schloss meine Hand schnell und küsste ihn dankbar. „Ich sag kein Wort – und du kriegst es auch wieder, wenn ich in Lohn und Brot stehe, versprochen!"
„Weiß ich doch! Nur Jani steckt ein und zahlt nie zurück.“
„Die ist ja auch das Küken, die darf das, oder?“ Er brummte liebevoll und schob mich zur Tür hinaus. „Hast du überhaupt noch Benzin?“
„Klar. Der Kampmann gibt mir immer einen Euro, wenn ich für ihn eingekauft habe, und die lege ich ins Handschuhfach, fürs nächste Tanken. Keine Sorge, Papa!"
Sobald die Haustür sich geschlossen hatte, inspizierte ich die grünen Quadrate. Tatsächlich, zwei Hunderter, und in jeden grünen war noch ein blauer Schein gesteckt worden. Zweihundertvierzig Euro, Klasse, die Hälfte musste am Montag sofort auf die Bank. Dazu hatte ich nun noch reichlich zu essen – besser konnte es mir doch gar nicht gehen!
Doch, die absolute Wochenendfreude bestand darin, dass niemand vor meiner Tür saß! Unbehelligt schleppte ich meine Beute in die Wohnung und verstaute sie. Als ich die Größe des Kuchens inspizierte, entdeckte ich drei Fünfziger, die sauber an die Wand der Tupperdose gesteckt waren. Wahnsinn, damit hatte ich jetzt dreihundertneunzig Euro, und heute war ja schon der zwölfte... dann konnte ich doch bestimmt zweihundert einzahlen. Oder sogar zweihundertfünfzig... Umso geringer fielen die Zinsen für den Dispo aus.
Ich vertrödelte das Wochenende sehr gemütlich mit dem Marmorkuchen und dem Kulturverein und bildete mich mit einer im Altpapiercontainer gefundenen Hausfrauenpostille weiter. Mit dem Wissen, wie man Stockflecken aus altem Leinen entfernte und einen Heizkörperreiniger mit einfachsten Mitteln selber bauen konnte, nur aus Bambusstäben und zerrissenen Strumpfhosen, musste ich als Putzfrau doch unschlagbar sein?
Über den Kulturverein hatte ich auch schon einiges herausgefunden, etwa, dass die exzentrische Mäzenin gegen Ende mit dreien ihrer bevorzugten Künstler gleichzeitig ein Verhältnis gehabt hatte. Kein Wunder, dass der Verein in Streitereien und einem mühsam vertuschten Skandal untergegangen war! Nur sollte ich ja nicht nur eine chronique scandaleuse schreiben, sondern auch alle beteiligten Künstler, die großzügige (und offenbar unersättliche) Mäzenin und ihr für die damalige Zeit und unsere muffige Kleinstadt unerhört modernes Programm herausarbeiten und gebührend würdigen.
Das würde noch ein hübsches Stück Arbeit, aber wenigstens hatte ich eine sehr ergiebige Biographie eines beteiligten Landschaftsmalers aufgetan, den man mit etwas gutem Willen sogar als Vorläufer des Expressionismus interpretieren konnte, und die Tochter der Frau von Strahleneck hatte dankenswerterweise recht gehässige Memoiren hinterlassen, nachdem sie in vorgerückten Jahren ziemlich bigott geworden war. Überhaupt, diese Tochter! 1886 geboren, war sie beim großen Knall gerade mal fünfzehn gewesen. Was verstanden fünfzehnjährige Mädchen denn damals von den erotischen Strudeln in einem solchen Verein? Nach dem Krieg etablierte sie sich als etwas angejahrte Übriggebliebene, eine der vielen, deren Verlobter im Felde geblieben war, und fiel dann ziemlich schnell und ziemlich heftig auf diverse völkisch-antisemitisch-okkult angehauchte Vereine herein. Ab 1933 war sie bei den Nazis recht aktiv, verstummte aber ab 1935 und tauchte erst 1945, christlich-geläutert und immer schon so gewesen, wieder auf. Eine unangenehme Person – es würde mir ein Vergnügen sein, den Wahrheitsgehalt dieser Memoiren ausgiebig anzuzweifeln!
Außerdem hatte ich Mamas Geschenke inspiziert – Kohlrouladen, Bohneneintopf, bratfertige Kartoffeln, eine kleine eingeschweißte französische Salami und zwei Dosen gemischtes Obst. Nicht schlecht, das waren fünf Mahlzeiten für fünf Tage, ansonsten sollte es Äpfel geben, da hatte ich noch eine ziemliche Menge. Vielleicht wurden meine Oberschenkel ja doch noch schlanker, wenn ich viel putzte – vorzugsweise in der Hocke – und kalorienarm aß?
Blödsinn! Wie konnte man Heiners boshaftes Geschwafel denn so ernst nehmen? Er hatte das doch nur gesagt, weil er wusste, wie empfindlich ich mit meinen dicken Beinen war. Aber siebzig Kilo, das war trotzdem zu viel, ich sollte fünf oder sechs Kilo weniger wiegen...
Am Samstagabend, mit dem kompletten Marmorkuchen im Bauch, zog ich mich deshalb aus und stieg wieder auf die Waage. Einundsiebzigkommaacht. Ganz toll, ich wurde wirklich immer fetter!
Im Profil hatte ich einen kleinen Bauch. Und ich fühlte mich auch reichlich vollgefressen – wurde ich jetzt noch zur Frustesserin? Der Hintern war okay, fand ich, die Taille ging, sobald der Stehbauch wieder weg war. Hüften – naja. Und diese Beine! Wo war das Maßband?
Ich wühlte mich durch alle Schränke und entdeckte es schließlich in der Schachtel mit den Weihnachtsschleifen – wie kam es denn dahin? Also, Taille achtundsechzig. Das ging, ich war schließlich nicht Scarlett O´Hara. Dreiundvierzig hatte die gehabt, aber eng geschnürt, das war idiotisch. Hüften fünfundneunzig, Busen neunzig. Bisschen dürftig. Oberschenkel – jetzt schlug die Stunde der Wahrheit! Neunundfünfzig – Allmächtiger, die waren ja fast so dick wie meine Taille! Scheußlich! Und wie sie sich an der Seite nach außen wölbten, bestimmt um zwei Zentimeter! Irgendwo musste noch ein alter Luffaschwamm sein... im Kleiderschrank? Nein, da hatte ich ja erst aufgeräumt... Im Badezimmerschränkchen lag er dann, verknautscht und muffig. Ab jetzt würde ich meine Oberschenkel bei jeder Dusche brutal massieren, und wenn ich wieder bei Kasse war, würde ich mir die edelsten Anticellulite-Gels leisten, das Zeug aus der Apotheke, das wirkte bestimmt besser als der Kram aus dem Drogeriemarkt. Und Gymnastikübungen... Wieso hatte es keine Frauenzeitschrift im Altpapiercontainer gegeben? Da waren doch immer solche Übungen drin – in zwei Wochen eine Bikinifigur/Traumfigur/fünf Kilo leichter. Einen Waschbrettbauch hatte ich auch nicht gerade. Ich sah wirklich aus wie das Vorher-Bild aus der Diätdrink-Werbung. Fast wenigstens.
Mit solchen finsteren Gedanken verdarb ich mir das Wochenende, das so entspannt hätte sein können, und als ich am Montagmorgen immer noch einundsiebzig Kilo drauf hatte, trotz eines langen Spaziergangs, trotz einiger muskelkaterträchtiger Übungen und trotz einer fast reinen Apfeldiät – die fettige Salami, die so betörend duftete, hatte ich heroisch ignoriert -, hatte ich den Verdacht, dass die kommende Woche auch nicht besser werden würde.
Ich klagte Karen mein Leid, die nur höhnisch lachte und auf die Überbleibsel ihrer Schwangerschaft hinwies. „Du bist absolut nicht dick, mach dich nicht lächerlich. Schau dir bloß mal diesen Schwabbelbauch an!“
„Und was machst du dagegen?“, fragte ich interessiert.
„Nichts, außer spazieren zu gehen. Meine Ärztin, Dr. Kehl – kennst du die? – hat gesagt, wenn man zu intensiv Gymnastik macht, ist das schlecht für die Milch. Also muss ich mit dem Workout warten, bis Sven abgestillt ist, und das kann noch dauern.“
„Ja, aber alles andere ist doch okay. Guck dir bloß diese Keulenbeine an!“, jammerte ich und raffte mein Sweatshirt, damit sie die üppige Pracht auch so richtig bewundern konnte. „Ich sehe nichts“, stellte Karen nach gründlicher Inspektion fest, und Sven, der an ihrer Schulter döste, krähte zustimmend los.
„Die sind total fett!“
„Blödsinn, die sind ganz normal. Wer hat dir denn den Scheiß eingeredet?“
„Mein Spiegel! Naja, und Heiner.“
„Dein Freund?“
„Exfreund. Gut, er neigt zur Bosheit, aber da hat er Recht.“
Karen drückte mir ihr Baby in die Arme. „Halt ihn mal kurz!“
Sven sah mich erstaunt an und schloss dann angewidert die Augen. Wenigstens brüllte er nicht los.
Karen kam zurück und schwenkte ein Maßband, dann stellte sie einen Fuß auf einen Stuhl und maß ihren eigenen Oberschenkel in den schlabberigen Jogginghosen. „Siebenundfünfzig. Und du?“
„Neunundfünfzig – ohne dicke Baumwolle drumherum.“
„Okay, ziehen wir zwei ab für die Hose, ich hab jetzt keine Lust, die auszuziehen. Fünfundfünfzig. Und vier Zentimeter mehr ist schon fett? Außerdem bist du größer als ich.“
„Kaum. Einsachtundsiebzig, und du?“
„Einsfünfundsiebzig. Und im Moment wiege ich zweiundsechzig Kilo. Gut, vor Sven hatte ich vierundfünfzig, und die kriege ich auch wieder. Aber du bist nicht dick!“
„Nein? Mit einundsiebzig Kilo?“
„Also, wo du die versteckt hast, möchte ich wirklich mal wissen, an den Beinen jedenfalls nicht. Anne, du bist albern. Die ideale Kandidatin für diese endlosen Diäten, mit denen man sich bloß den Stoffwechsel ruiniert.“
„Meine Waage lügt doch nicht!“
„Alle Waagen lügen. Oder hast du schon mal auf zwei Waagen das gleiche gewogen?“
„Nein, aber...“
„Los, im oberen Bad ist eine Waage, rauf mit dir!“ Lustlos trollte ich mich nach oben, nachdem ich Karen ihren Sprössling zurückgegeben hatte.
Schicke Waage, beim Putzen war mir die noch gar nicht so aufgefallen. Ich tippte sie an und stieg dann – ohne Schuhe, das sparte bestimmt ein Pfund – zaghaft darauf. Siebenundsechzig? Was für eine sympathische Waage! Und das mit Kleidern und einem wenn auch kärglichen Frühstück im Bauch, dann hatte ich praktisch netto vielleicht nur sechsundsechzig? Strahlender Laune kam ich nach unten. „Deine Waage ist klasse, vier Kilo weniger! Ich stelle meine nachher sofort um!“
„Na, siehst du. Und deine Figur ist total in Ordnung. Kannst du heute mal die unteren Fenster machen?“
Ja, eigentlich war ich hier, um zu putzen, und nicht, um mich seelisch wegen meiner Fettmassen aufrichten zu lassen! Also schnappte ich mir den Eimer und das sonstige Gerät und ging energisch an die Arbeit. Bei meiner Schrubberei stellte ich mir dauernd vor, wie die Gramme verschwanden. Ein Pfund pro Woche... am Ende eine Figur wie Karen... oder wie Jani, die war auch toll dünn, aber eben auch erst siebzehn – mit dreißig sah sie sicher auch nicht mehr so aus. Um vier blinkte die Wohnung und ich hatte mindestens hundert Gramm verloren, bildete ich mir ein. Karen feixte, als sie meine Liste abzeichnete. „Das reinste Workout, was? Hoffentlich hat´s was geholfen!“
Voller guter Vorsätze ging ich nach Hause. Sozusagen vier Kilo in einem Moment verloren, zweihundertfünfzig Euro auf mein Konto eingezahlt, eine Menge viel versprechenden Kram aus der Bibliothek angefordert – ich war gar nicht schlecht! Und ich hatte genug Geld in der Tasche, um am Kiosk an der Ecke stehen zu bleiben und die Schlagzeilen zu studieren. Ein Fitnessheft warb mit Das perfekte Workout: Bauch – Beine – Po. Na, das war´s doch! Drei Euro waren zwar happig, aber dann gab es heute Abend eben bloß Äpfel, war eh gesünder!
Mit dem Heft eilte ich nach Hause und linste im Treppenhaus ängstlich um die Ecke. Nein, kein Heiner, entweder musste er doch auch mal was arbeiten, oder er hatte schon eine neue Magd aufgetan. Umso besser – obwohl man die arme Frau eigentlich warnen sollte. Aber mich hatte auch keiner gewarnt; als ich Gisi kennen gelernt hatte, war es schon zu spät gewesen. Ich schlüpfte sofort in Jogginghosen und breitete mich mit dem Heft auf dem Teppich aus. So, wie sollte das jetzt gehen? Beine hoch und zwanzigmal grätschen, bis es innen zog. Kein Problem...
Zwanzig Mal? Ich hatte nicht geahnt, wie schwer meine Beine dabei wurden. Zwölf – dreizehn – ächz – vierzehn – puh! – fünfzehn. Fünfzehn reichte ja wohl für den Anfang. Erleichtert ließ ich die schweren Beine wieder sinken. Jetzt sollte man die Muskeln eigentlich ausschütteln und entspannen – aber dazu hätte ich aufstehen müssen.
Verdammt, war ich ein Weichei: eine Übung, und ich war fertig! Es war noch nicht einmal fünf Uhr, und ich hätte auf dem Fußboden einschlafen mögen.
Nix gibt´s – nächste Übung. Hinknien, die Arme verschränken und den Hintern dann ganz langsam sinken lassen und wieder heben – nicht auf die Fersen setzen. Hörte sich einfach an.
Der Teppich war dünn und hart und fühlte sich unter meinen Knien nicht gerade kuschelig an. Ich sank langsam nach hinten und hatte sofort das Gefühl, als rissen meine Oberschenkelmuskeln entzwei – hatte ich denn überhaupt Oberschenkelmuskeln? Langsam wieder hoch – mit verschränkten Armen? Das war ja anatomisch kaum möglich! Bei mir wenigstens nicht, ich musste mich leider abstützen und kam mehr schon sehr unsportlich vor. Noch mal!
Nein, beim zweiten Mal ging es auch kaum besser, offenbar war mein Hintern zu schwer.
Gab es keine leichteren Übungen? Auf einen Stuhl setzen und die Beine langsam heben und senken – das hörte sich doch akzeptabel an, wenigstens konnte ich dabei sitzen! Ganz so einfach war es auch wieder nicht, die Beine wurden mir gleich wieder schwer, und nach dem zehnten Mal konnte ich nicht mehr. Für heute reichte es mir. Wenigstens waren die Übungen simpel genug, dass ich sie mir merken konnte. Morgen wieder! Vielleicht, vielleicht hatte ich ja morgen den totalen Muskelkater. Dann konnte ich diesem seltsamen Kampmann ja was vorhumpeln!