Читать книгу Im Prinzip Liebe. Goethe, Marianne von Willemer und der West-östliche Divan - Elisabeth Binder - Страница 9

Stirb und werde!

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Mag Bachs Musik an jenen Berkaer Abenden, noch weltlos, die bildenden Kräfte in Fluss gebracht haben, so werden diese Kräfte dann von Hafis’ Poesie zur lustvollen Weltschöpfung angeregt. Doch wäre diese möglicherweise wieder ins Stocken geraten, hätte sich Goethe in jenem Sommer 1814 nicht noch einmal zu einer Reise entschlossen. Zu keiner sehr weiten. Wiesbaden war von Weimar nur fünf Tagereisen entfernt. Die Zwischenstationen: Eisenach, Fulda, Hanau, Frankfurt. Und doch führte sie ihn weit. Weit zurück, da er zum ersten Mal seit siebzehn Jahren wieder die südwestliche Heimatgegend, den Kindheits- und Jugendort besuchte: Frankfurt, das er seit dem Tod seiner Mutter gemieden hatte. »Weil ich«, so an Rebecca Schlosser, die Frankfurter Freundin, »meine Mutter da vermissen würde, ohne welche ich mir diese Stadt niemals gedacht hatte«. Zugleich weit hinaus. Noch einmal ins Offene. Noch einmal mindestens in die Nähe jenes Gefühls von Wiedergeburt, das den Aufbruch nach Italien begleitete.

Und es ergreift ihn schon am ersten Reisemorgen, kaum lag Weimar hinter ihm. »Hafis. Herrlicher Tag«, notierte Goethe am Abend dieses 25. Juli 1814 im Tagebuch. Der Morgen aber begann »duftig«. Duft in der alten Bedeutung von »zarter Nebel«, »Dunst«. Und es war dieser noch alle Möglichkeiten in sich schließende, die Blüte eines neuen Tags umhüllende »Duftmorgen«, der dem Reisenden den Anblick eines sehr seltenen Naturphänomens bescherte.

Wenn zu der Regenwand

Phoebus sich gattet,

Gleich steht ein Bogenrand

Farbig beschattet.

Im Nebel gleichen Kreis

Seh ich gezogen,

Zwar ist der Bogen weiß,

Doch Himmelsbogen.

So sollst du, muntrer Greis,

Dich nicht betrüben,

Sind gleich die Haare weiß,

Doch wirst du lieben.

Phänomen hat Goethe das Gedicht in der Endfassung des Divan mit einem Begriff aus der Naturwissenschaft betitelt. In der ersten Fassung lautete er noch tagebuchartig: Seltnes Meteor. Im Sinn von: seltene, durch bestimmte meteorologische Bedingungen entstehende Himmelserscheinung. Was darauf hindeutet, dass Goethe einen solchen Nebelbogen, weiß oder fast weiß, der Kleinheit der Nebeltröpfchen wegen, in seinem Leben nicht oft gesehen hat. Vielleicht an diesem Reisemorgen – die aufgehende Sonne im Rücken, vor sich die Landschaft in frühmorgendlichen Dunst gehüllt – tatsächlich zum ersten Mal.

Und wieder bewährt sich als tragendes Element der Poesie die Aufmerksamkeit auf die »Wirklichkeit«, hier in Gestalt einer Naturerscheinung. Die im Gedicht jedoch nicht isoliert auftritt, sondern gespiegelt im Farbenwunder des Regenbogens, der Goethe ein Leben lang wichtig war: als »meteorische Erscheinung«, seine Geschichte der Farbenlehre beginnt damit. Poetisch gelesen jedoch: als Liebes- und Friedenszeichen.

Und ebenso bewährt sich, wie in dem Gedicht Maifest, das Denken in natürlichen, ja in kosmischen Zusammenhängen: der »naturmenschliche« Blick hinaus in die Welt und zurück ins eigene Ich. Das sich nur draußen erkennt, in der Natur, im Zusammenspiel von Makrokosmos und Mikrokosmos. Ziemlich verwegen in diesem Augenblick: weißer Nebelbogen – weiße Haare!

Und noch etwas kommt hinzu: ein halb verspielter Aberglaube, den Goethe einmal als die »Poesie des Lebens« bezeichnet, da er wie die Literatur zwischen dem »Wirklichen und Handgreiflichen« ahnungsvolle Beziehungen herstelle. Eine Beziehung, die ihm an diesem Morgen den »Himmelsbogen« zum verheißungsvollen Zeichen macht: »Doch wirst du lieben.«

Das ist ins Blaue gesagt. Weder an die Kunstfigur Suleikas noch an die Frauengestalt Marianne Willemers kann Goethe hier gedacht haben. Letztere ist noch gar nicht in sein Blickfeld getreten. Auch ist es dem »muntren Greis« so ganz und gar ernst ja nicht mit seiner Selbstprophezeiung. Und eben doch: auf heitere Weise ernst. Teils, weil er sich in diesem Augenblick mit Hafis brüderlich verbunden fühlen konnte: »Die Liebe eines Jünglings ist / In meinen grauen Kopf gefallen.« Teils im weitesten Sinn. Denn die Liebe ist da: als Weltprinzip. Als jene »segnende« Macht des Maifests. Himmel und Erde verbindend, die Poesie beflügelnd wie nichts sonst.


Goethes Reisekutsche, heute noch zu sehen in Weimar, im Hof seines ehemaligen Wohnhauses am Frauenplan

Und so blieb es an dem Tag nicht bei diesem einen, wahrscheinlich kurz nach Sonnenaufgang entstandenen Gedicht. Einmal unterwegs – und es ist anzunehmen, dass Goethe allein in der Kutsche saß, sein Diener Carl auf dem Kutschbock neben Kutscher Barth, während Hafis’ Diwan in einem braun marmorierten, handlichen, aber ziemlich dicken Band, stets greifbar, neben ihm auf dem lichtgelben Stoff des gesteppten Sitzpolsters lag – muss er in eine Art Flow geraten sein. Woran er sich noch in einem späten Gespräch mit Eckermann erinnerte – beinah wehmütig, zu einer Zeit, da die Arbeit am zweiten Teil des Faust zäh und stückchenweise voranrückte:

Als mich vor zehn, zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Gedichte des Divan in ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug, um oft an einem Tage zwei bis drei zu machen; auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich.

Ein Wort wie »Flow« hätte Goethe für diese gesteigerte Produktivität allerdings nicht gebraucht. Eher hätte er es »Übermut« nennen können. »Dichten ist ein Übermut« – so beginnt ein am nächsten Reisetag entstandenes Gedicht. Doch allgemeiner hätte er vermutlich von »Enthusiasmus« gesprochen. Einen solchen jedenfalls bescherte ihm einst, in gesteigerter Form, seine Reise nach Italien. Nur entsprang ihm damals keine lyrische Produktivität, sondern eine naturwissenschaftliche. Davon spricht Goethe in einem längeren Nachtrag zum Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären mit dem Titel Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit, im Jahr 1817 erstmals erschienen und später mehrfach überarbeitet. Und da führt er die Tatsache, dass sich ihm auf seiner Italienreise die so inständig geahnte »Urpflanze« in Palermo schließlich gezeigt habe, darauf zurück, dass ein solches Unterwegssein, und noch besonders in einer neuen Weltgegend, uns wieder erfahren lasse, »dass wir eines reinen Enthusiasmus fähig sind«.

Das heißt, dass es in uns eine ursprüngliche – kindlich gebliebene? – Wachheit für die Erscheinungen der Welt gibt, von der wir im gewohnten Alltag oft gar nichts mehr wissen. Weil wir uns angewöhnt haben, das, was uns ständig umgibt, als »gleichgültig neben uns bestehend« anzusehen: als etwas »Gemeines und Triviales, worüber zu denken wir gleichsam unfähig werden«. Indem nun eine Reise uns von diesem stumpf gewordenen Blick befreit, »erregt« sie zugleich »den Geist«. Und so kann sie den Reisenden zu einer neuen Naturanschauung, zu einem lebendigen Austausch mit dem Wesen der Dinge, und von da zu einer neuen Erkenntnis führen.

Nun braucht aber nicht nur der Naturforscher die enthusiastische Verfassung. Auch der Dichter braucht sie, sogar besonders, im poetischen Augenblick. Jedenfalls definiert Goethe in den Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, diesem langen Prosateil zu besserem Verständnis, die »Dichtkunst« als eine »enthusiastische« Form. Das ist zwar im Kapitel Hebräer auf das Alte Testament bezogen, doch Goethe verstand speziell dieses, Johann Gottfried Herder folgend, als ein Dokument frühester Poesie:

Da wir von orientalischer Poesie sprechen, so wird notwendig der Bibel, als der ältesten Sammlung, zu gedenken. Ein großer Teil des Alten Testaments ist mit erhöhter Gesinnung, ist enthusiastisch geschrieben und gehört dem Felde der Dichtkunst an.

Gedenken wir nun lebhaft jener Zeit wo Herder und Eichhorn uns hierüber persönlich aufklärten, so gedenken wir eines hohen Genusses, dem reinen orientalischen Sonnenaufgang zu vergleichen.

In dem etwas später folgenden Kapitel Naturformen der Dichtung definiert Goethe dann die Lyrik noch einmal speziell als »enthusiastisch aufgeregte« Form:

Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen […].

Nun scheint allerdings dieser Enthusiasmus – und es wäre ein eigenes Thema, Goethes Vorstellung davon und eine allfällige direkte Beziehung zu Platons Bestimmung des Enthusiasmus im Phaidros genauer zu verfolgen – dem sogenannten »Gelegenheitsgedicht«, man erinnert sich, und seinem strengen Bezug zum »Grund und Boden« der »Wirklichkeit« auf den ersten Blick zu widersprechen. Und ebenso dem »Glaubensbekenntnis«, das Goethe einmal in einem Brief an Schiller vom 4. April 1801 formuliert:

Die Dichtkunst verlangt im Subjekt, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige, ins Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt.

Doch der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Denn man muss den Nachsatz vom »verborgenen Absoluten« mithören und ebenso in jenem Gespräch mit Eckermann den scheinbar beiläufigen Nachtrag: dass die »Wirklichkeit« zwar die Themen hergebe, dass es aber die Sache des »Dichters« sei, das »poetische Interesse«, das die Wirklichkeit an sich schon habe, aus ihr herauszulösen. Und wie sollte das – hier wie beim »Absoluten« – anders geschehen als mit einer »enthusiastischen« Verfassung? Die für Goethe nichts mit Schwärmerei zu tun hatte, sondern, der griechischen Bedeutung des Worts entsprechend: mit Gotterfülltheit. Mit »erhöhter Gesinnung«: mit Inspiration. So braucht es in Goethes Dichtungsverständnis stets beides: die »ins Reale verliebte Beschränktheit« und den »Enthusiasmus«. Und es ist wohl nicht zuletzt diese Verbindung und das daraus entspringende künstlerische Verfahren, dem Wirklichen eine (oder seine!), von einem energisch anwesenden Subjekt erschlossene poetische Gestalt zu geben, die Goethes Lyrik, wo sie zu voller Form aufläuft, so erregend macht.

In solcher Hochform muss sich Goethe am Morgen jenes 25. Juli 1814 befunden haben. Denn kurz nach dem Gedicht Phänomen entstand eines der schönsten Gedichte des ganzen Divan, das wie kaum ein anderes von der poetischen Spannweite zeugt, die dem Eigenen und Naheliegenden: der realen deutschen Landschaft zuwächst in der mit Hafis’ Orient beschäftigten Einbildungskraft des Dichters. In der »Verblindung« durch den Morgenduft kommt es zu einer träumerischen Überblendung:

Was doch Buntes dort verbindet

Mir den Himmel mit der Höhe?

Morgennebelung verblindet

Mir des Blickes scharfe Sehe.

Sind es Zelten des Wesires

Die er lieben Frauen baute?

Sind es Teppiche des Festes

Weil er sich der Liebsten traute?

Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt

Wüsst’ ich Schönres nicht zu schauen;

Doch wie Hafis kommt dein Schiras

Auf des Nordens trübe Gauen?

Ja es sind die bunten Mohne,

Die sich nachbarlich erstrecken,

Und, dem Kriegesgott zum Hohne,

Felder streifweis freundlich decken.

Möge stets so der Gescheute

Nutzend Blumenzierde pflegen,

Und ein Sonnenschein wie heute,

Klären sie auf meinen Wegen!

»Ja es sind die bunten Mohne, / Die um Erfurt sich erstrecken« hieß es noch in der ersten Fassung. Das zu wissen, ist nicht ganz unwichtig. Es zeigt, wie genau Goethe, gerade bei diesen Reisegedichten, auf die Realität Bezug nimmt. Denn Erfurt war zu Goethes Zeit, ähnlich wie Schiras zu Hafis’ Lebenszeit, berühmt für seine Blumenfülle, seine Blumenfelder, auch für seine Blumenzucht: Mohn und Rosen. Und das Erwachen aus der orientalisch-persischen Halluzination, die an der Demarkationslinie zwischen den Anhöhen der Landschaft und dem Himmel wie eine Fata Morgana aufscheint und das real Getrennte »verbindet«, ist ja, wie die hervorbrechende Sonne die Sache »klärt«, ein durchaus freudiges. Es sind tatsächlich die Blumenfelder um Erfurt: die nahen, »nachbarlichen«! Wie es dann in der Endfassung allgemeiner heißt. Was von durchmarschierenden napoleonischen und alliierten Truppenverbänden niedergetreten, bloß noch trauriger Erdboden war, bringt bereits wieder Blühendes hervor: »dem Kriegesgott zum Hohne«.

So mündet das Gedicht ohne Aplomb, doch unüberhörbar in eine Friedensfeier, die der »Himmelsbogen« des ersten Gedichts schon vorbereitet hatte. Sie steht unter dem Wort »freundlich«: Gegenwort zum Krieg.

Und sie führt, gleichnishaft, vom Anblick des Blühenden in einen Wunsch, eine Mahnung, die Goethe an dem schönen Morgen sehr am Herzen liegen mochte. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Aufforderung zu einem normal friedlichen Leben. Es ist die humane Lebensform, die stets von neuem der Pflege bedarf. Der »Gescheute« (der Gescheite) »pflegt« die Blumenzierde und »nutzt« sie, indem er wie die Einwohner von Erfurt mit Blumen und Blumensamen Handel treibt. Das Handeltreiben ist für Goethe ein wichtiger Bestandteil eines solch normal friedlichen Lebens. Es wird auch in seiner Divan-Sammlung ein öfter wiederkehrendes Moment sein, zum Bild geworden in der archaisch morgenländischen Form der Karawanen.

Der ganze Divan beruht auf solchem Handel, wenn der Dichter in den deutschen Landschafts- und Sprachraum statt Waren Worte einführt, Bilder, Namen und Denkformen einer damals auch geographisch noch fernen Welt. In den Noten und Abhandlungen sieht sich der Dichter denn auch als einen »Handelsmann«. So führen die Divan-Gedichte exemplarisch vor, was Goethe in späteren Jahren, als ihm der Gedanke einer »Weltliteratur« immer einleuchtender wird, einmal einen »geistigen Handelsverkehr« nennt. Nach den »fürchterlichsten Kriegen«, die einen Teil seiner Lebenszeit ausmachten, sieht er in dieser Öffnung kultureller Grenzen die Chance einer neuen Verständigung zwischen den Nationen.

Wenn aber in diesem Sommermorgengedicht, für die Buchfassung wird ihm Goethe den Titel Liebliches geben, die östliche Vision anfangs die prächtigere ist, Wunschbild eines der »trüben Gauen« wieder einmal restlos Überdrüssigen, so steht dieser Phantasmagorie doch die deutsche Realität am Ende in nichts nach. Allerdings erst in diesem Augenblick mit dem märchenhaften Schiras auf Augenhöhe, da der Dichter beide Welten in Verbindung bringt: mit dem zugleich genauen und lustvoll fabulierenden west-östlichen Doppelblick.

Was wiederum zur Folge hat, dass die Bedeutung des Eigenen und Naheliegenden durch die imaginierte Nähe von Hafis’ Welt nicht gemindert wird, im Gegenteil, da sich der Dichter so neu vernetzt sieht, eine Steigerung erfährt. Zumal ja der deutsche Dichter sich gegen die als Übermacht empfundene Poesie des persischen Dichters behaupten und dagegenhalten muss: mit eigener Poesie. Denn um Nachahmung ging es Goethe in keinem Moment, allenfalls um »Nachbildung«, eher noch um ein »Wetteifern«. Ein Sängerwettstreit war es, zunehmend, ein brüderlich gedachter, der den deutschen Dichter herausfordert und begeistert.

Was für eine poetische Präsenz das Eigene unter diesen Umständen gewinnt, zeigt auch das am nächsten Reisemorgen entstandene Gedicht Im Gegenwärtigen Vergangnes. Wieder war es ein Duftmorgen: »Duftmorgen um die Wartburg«, wie Goethe in seinem Reisebericht am 26. Juli notiert. Und wieder sind es Blumen, welche die Aufmerksamkeit zunächst auf sich ziehen und den »enthusiastischen« Blick auf die Welt öffnen. »Ros’ und Lilie«, seit der deutschen Minnedichtung und auch bei Hafis ein emblematisch mit dem Thema Liebe verbundenes Paar. Das jedoch mit der Wortschöpfung »morgentaulich« ein ganz und gar zu Goethe, zu seinem den Divan prägenden, eigenwillig verdichteten Sprechstil gehörendes wird: »Ros’ und Lilie morgentaulich«.

Man muss es sich vorstellen: nach einer im Stadtschloss zu Eisenach verbrachten Nacht der Anblick frühmorgens – ein Frühaufsteher, in der Herrgottsfrühe Dichtender war Goethe ein Leben lang – der Wartburg, hoch auf dem dunkel bewaldeten, hinter der Stadt emporragenden Fels, einst Schauplatz eines legendären Wettstreits unter Minnesängern. Und wie da aus dem »Duftmorgen« unversehens etwas anderes sich löst: ein »Duften wie vor Alters«.

Ros’ und Lilie morgentaulich

Blüht im Garten meiner Nähe,

Hinten an bebuscht und traulich

Steigt der Felsen in die Höhe.

Und mit hohem Wald umzogen,

Und mit Ritterschloss gekrönet,

Lenkt sich hin des Gipfels Bogen,

Bis er sich dem Tal versöhnet.

Und da duftet’s wie vor Alters,

Da wir noch von Liebe litten,

Und die Saiten meines Psalters

Mit dem Morgenstrahl sich stritten.

Wo das Jagdhorn aus den Büschen,

Fülle runden Tons enthauchte,

Anzufeuern, zu erfrischen

Wie’s der Busen wollt’ und brauchte.

Nun die Wälder ewig sprossen

So ermutigt euch mit diesen,

Was ihr sonst für euch genossen

Lässt in Andern sich genießen.

Niemand wird uns dann beschreien

Dass wir’s uns alleine gönnen,

Nun in allen Lebensreihen

Müsset ihr genießen können.

Und mit diesem Lied und Wendung

Sind wir wieder bei Hafisen

Denn es ziemt des Tags Vollendung

Mit Genießern zu genießen.

Es war im Herbst 1777, als Goethe – damals 28 Jahre alt und seit einem Jahr Weimarischer Staatsminister, genauer: Mitglied des dreiköpfigen Geheimen Consiliums, das dem Herzog bei seinen Regierungsgeschäften beratend zur Seite stand – für ein paar Wochen auf der Wartburg hauste. Auf »Luthers Pathmos« den Weltflüchtling und herben Einsiedler gebend, während im Stadtschloss von Eisenach die Jagdgesellschaft um den erst 20-jährigen Herzog Carl August wohnte und ihr unruhiges Wesen trieb.

Doch war es auch für Goethe selbst eine unruhige Zeit der Selbstfindung, in der er – oft schwankender Stimmung, mal mit auf der Jagd und halbe Nächte durchtanzend, dann wieder aller »Mädgen« und Menschen überdrüssig, im Buch Hiob lesend – sich nach Ruhe, nach »Abgeschiedenheit« sehnt. Und nach einer Frau, der er mit ganzem Wesen angehört, und zu der er doch nicht wirklich gehören kann.

Schon fühl ich liebste Frau, dass Sie weit, fatal weit von mir weg sind denn ich weiß nicht einmal wie die Briefe vielleicht laufen und mir stockt’s gleich in allen Gliedern wie sie wissen drum hab ich so lang nicht geschrieben.

So am 12. September, noch von Eisenach, an Charlotte von Stein. Da fällt es wieder das Wort »Stockung«, nah bei der »Erstarrung« – und Depression? Doch bereits am nächsten Tag, von der Wartburg aus, klingt es anders, manisch geradezu:

Wartburg d. 13. S. 77 abends 9. Hier wohne ich nun liebste und singe Psalmen dem Herrn der mich aus Schmerzen und Enge wieder in die Höhe und Herrlichkeit gebracht hat. Der Herzog hat mich veranlasst heraufzuziehen, ich habe mit den Leuten unten, die ganz gute Leute sein mögen nichts gemein, und sie nicht mit mir, einige sogar bilden sich ein, sie liebten mich, es ist aber nicht gar so. […] Hieroben! Wenn ich ihnen nur diesen Blick der mich nur kostet aufzustehn vom Stuhl hinübersegnen könnte. In dem grausen linden Dämmer des Monds die tiefen Gründe, Wieschen, Büsche, Wälder und Waldblösen, […] und wie […] die lieblichen Auen und Täler ferner hinunter, und das weite Thüringen hinterwärts im Dämmer sich dem Himmel mischt.

Während aber in dieser Einsiedelei die »Entfremdung« von der Gesellschaft, das Gefühl, »mit den Menschen nichts zu teilen« zu haben, zunimmt, kommt ihm andererseits der Herzog »immer näher und näher«, bis er schließlich sicher ist, dass er endgültig an dessen Seite leben, mit ihm zusammen »regieren!« will.

So viel konkret Biographisches brauchen Leser und Leserin des siebenunddreißig Jahre später entstandenen Gedichts allerdings nicht zu wissen, so wenig wie man für die landschaftliche Szenerie das Vorbild der Wartburg kennen muss. Goethe hätte ein solches Nachzeichnen von biographischen Hintergründen vielleicht sogar gestört: als ein »Herabziehen der Poesie zur Prose«, wie er einmal sagt. Weshalb er sich über die tatsächlichen »Gelegenheiten« seiner Gedichte gewöhnlich in Schweigen hüllte, und nur einmal, zum Gedicht Harzreise im Winter, eine längere Erklärung abgab, weil dieses sich auf die »allerbesondersten Umstände« bezog.

Und doch stimmt es eigentlich nicht, dass ein Gedicht durch ein solches Hintergrundwissen seinen poetischen Schmelz verliert. Jedenfalls wird er sich sogleich wiederherstellen, wenn das Gedicht eines schönen Morgens von neuem vor einem steht: in seiner wahren Öffentlichkeit, seiner Gestalt und Gegenwart in Versen. Während hinter dem poetischen Raum, in den man beim Lesen des Gedichts eintritt, nun auch noch ein historischer und biographischer aufscheint. Und tatsächlich spürt man ja auch beim unbefangenen Lesen, ohne sich freilich darüber Gedanken zu machen, dass der poetischen Szenerie und Erinnerung eine wirkliche und persönliche zu Grunde liegen muss. Und nur so, als spürbar verwandelte, erhalten die Bilder zugleich die Aura von Durchlebtem.

Wozu auch gehört, dass das reale Ego des Autors Goethe als Subjekt des Gedichts stets spürbar anwesend bleibt. Wie Wieland es einmal formulierte: »Was ihn [Goethe] von Homer und Shakespeare unterscheidet: dass der Ich, der Ille ego, überall durchschimmert, wiewohl ohne alle Jactanz und mit unendlicher Feinheit.« Das ist von Wieland auch sehr fein gesagt. Etwas drastischer könnte man sagen, dass Goethes Dichtung und ebenso die Naturwissenschaft, überhaupt seine Weltwahrnehmung, man denke an seine Italienische Reise, sich einer bis heute herausfordernden Besinnung aufs Eigene verdankt, einem Bekenntnis zu einer radikalen Individualität, die für Goethe Voraussetzung für das Dichten und Denken war. Gerade sein Brief von der Wartburg an Charlotte von Stein macht es ja sehr bildhaft, wie namentlich der jüngere Goethe die Vereinzelung, die Entfernung und Entfremdung von der Gesellschaft suchte und brauchte. Während der Dichter der Divan-Zeit das Individuelle oft ganz explizit, indem er den Leser direkt anspricht, in den geselligen Rahmen der Rezeption einzubinden sucht. Ohne allerdings den »Übermut« des individuellen Erlebens zu verleugnen. Was wiederum von Leserinnen und Lesern den guten Willen verlangt, auf beides ohne weiteres einzugehen.

Wie spontan aber die meisten seiner Gedichte entstanden, weiß man aus einer Unterhaltung Goethes mit Sulpiz Boisserée im Sommer 1815: »Er macht mir die Confession, dass ihm die Gedichte auf einmal und ganz in den Sinn kämen, wenn sie recht wären; dann müsste er sie aber auch gleich aufschreiben, sonst finde er sie nie wieder; […] es sei ein Unglück, wenn er es nicht ganz im Gedächtnis behalte, sobald er sich besinnen müsse, würde es nicht wieder gut. Auch ändere er selten etwas.«

Weil das Schreiben unter diesen Umständen schnell und reibungslos gehen musste, pflegte Goethe für die Entwurfsfassung den Bleistift zu benutzen, da es ihm mehrfach passiert war, wie er im 16. Buch von Dichtung und Wahrheit schreibt, »dass das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte«.

Ob aber das Gedicht Im Gegenwärtigen Vergangnes tatsächlich aus einem Guss entstand? Oder vielleicht doch der zweite Teil, wo der Sprecher sich einer imaginären Gemeinde von Leserinnen und Lesern zuwendet, und also gesellig wird, erst im Posthaus zu Fulda? Wo Goethe jedenfalls das Gedicht ins Reine schrieb: »Abends 6 Uhr«. Vielleicht bei einem Glas Wein, zu dem er sich Hafis als Trinkkumpanen herbeidachte? Während die Szenen des Jahrmarkts in Hünfeld, den er unterwegs angetroffen hatte, ihm noch im Sinn lagen und ihm die »Lebensreihen« vor Augen führten?

Wobei man hier die Bemerkung machen kann, dass Gedichte Goethes, insbesondere im Divan, öfter eine Art »Beruhigungskurve«, wenn man das einmal so nennen will, aufweisen: von einem enthusiastischen Anfang hin zu einem nachdenklich-geselligen, mit einer imaginären Lesergemeinde kommunizierenden Schluss, der bevorzugt in eine Sentenz mündet. Man denke an das Gedicht Liebliches vom Tag zuvor. Es ist, als vollziehe es strukturell oder der Tonlage nach einen Bogen – ähnlich dem hier zu Beginn evozierten Landschaftsbild: »Lenkt sich hin des Gipfels Bogen, / Bis er sich dem Tal versöhnet« – von einer solitären Höhe zu einer »Versöhnung« mit dem Alltag des Lesers und des Dichters. Der hier besonders organisch ein Bogen ist von der Morgenfrühe bis zu »des Tags Vollendung«: indirekt auch ein Lebensbogen von der Jugend bis zum Alter.

So vibriert in dem Landschaftsbild des Anfangs schon das ganze Gedicht, aber auch viel mehr als dieses Gedicht. Und man hat das Gefühl, dieses Bild vor Augen verstehe man ungefähr, was Goethe in den Maximen und Reflexionen einmal über die Symbolik sagt: »Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.«

Wenn Goethe aber am Ende dieses Gedichts dezidiert zum »Genuss« auffordert, so ist das einerseits eine gesuchte Nähe zu Hafis, diesem großen Genießer. »Keiner versteht zu genießen und zu lieben wie Hafis!«, wie der Übersetzer Joseph von Hammer in seinem Vorwort schreibt. Doch das Wort »Genuss« ist auch bei Goethe selbst ein zentrales und meint bei ihm viel mehr als eine hedonistische Lebenshaltung. Es ist – Gegenteil von Luthers als sündhaft gebrandmarktem und allerdings in religiösem Kontext gedachtem homo incurvatus in se – die freudige Teilhabe eines humanen, welthaft erschlossenen Ichs am Lebensganzen. Niemals ganz leicht, doch schwerer im Älterwerden. Aber genau dazu ruft der Dichter auf. In diesem Sinn beschwört er die Leserinnen und Leser – und sich selbst. Denn es ist keine Frage, dass auch Goethe sich zu dieser Lebenskunst stets von neuem entschließen musste.

In diesem Augenblick jedoch von Hafis kräftig assistiert. Als gebe es da wirklich eine Gemeinschaft in gleicher Gesinnung – über Räume und Zeiten hinweg, und ein geselliges Zusammensein mit einem längst »Erloschenen«, zu »Sternenhallen« Entschwundenen. Für Goethe offenbar selbstverständlich, wie er einmal im Gespräch mit Eckermann bemerkte: »Da ich in Jahrtausenden lebe […].« Oder wie er im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit anlässlich seiner Rhein-Reise mit Lavater und Basedow im Herbst 1774 schreibt:

Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhandnahm, und sich nicht wundersam genug ausdrücken konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größeren und kleineren Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen musste.

In diesem Sinn könnte man den späteren Titel des Gedichts Im Gegenwärtigen Vergangnes über die persönliche Erinnerung hinaus wohl auch noch viel weiträumiger lesen: als »in Eins« von Hafis historischer Welt und Goethes gegenwärtiger.

Tatsächlich fand Goethe vieles, was zu seiner eigenen Lebensvorstellung gehörte, bei dem persischen Dichter poetisch vorgebildet. So dass es ihm von dort entgegenkam, jedoch in einer fremden, erregenden Sinnlichkeit und Symbolik. Fremd und vertraut zugleich. Und gerade so wiederum zum Eigenen inspirierend. Kaum wäre Goethe von sich aus auf die Idee gekommen, ein »Element« wie den Staub zu besingen, der ihm auf dieser Reise so beschwerlich wurde, da diese Julitage von 1814 ungewöhnlich heiß waren und die Straßen staubig. Man erfährt es aus dem Reisebericht an Christiane:

Zuvörderst muss ich die charmante Person loben, welche mich das Fahrhäuschen [die geschlossene Kutsche] zu betreten bewog, bei der großen Hitze, dem Staub und dergleichen wäre ich sonst vergangen.

Einmal aber hatte er solche Hitze und sogar den Staub begeistert begrüßt. Damals, bei seinem Aufbruch nach Italien, nach einem entsetzlichen Regensommer, der ihn zusätzlich veranlasst hatte, der »Trübe« des Nordens – diesem »traurigen Himmel« – zu entfliehen und einen fast schon überreif gewordenen Plan endlich auszuführen. Damals schrieb er an Charlotte von Stein in einem Brief aus Trient am 10. September 1786: »Die Sonne scheint heiß, und man glaubt wieder einmal an einen Gott.« Und in demselben Brief:

Und nun, wenn es Abend wird, bei der milden Luft wenige Wolken an den Bergen ruhen, am Himmel mehr stehen als ziehen, und gleich nach Sonnenuntergang das Geschrille der Heuschrecken laut zu werden anfängt, da fühlt man sich doch einmal in der Welt zu Hause und nicht wie geborgt oder im Exil. Ich lasse mir’s gefallen, als wenn ich hier geboren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt, von einem Walfischfange zurückkäme. Auch der vaterländische Staub, der manchmal den Wagen umwirbelt, von dem ich so lange nichts erfahren habe, wird begrüßt.

Daran mochte sich Goethe erinnern, denn die Arbeit an der Italienischen Reise bestand zur Hauptsache aus der Redaktion seiner damaligen Reisebriefe. Und dieser Brief aus Trient konnte zu dem Zeitpunkt bereits in das literarische Vorhaben eingegangen sein. Der italienische und damals ohne weiteres als »vaterländisch« empfundene Staub jedenfalls dürfte ihm wieder nahe gewesen sein und mit dem Staub auch die »lieben« und allerdings verräterisch knarrenden »Pforten«, Sinnbild seiner römischen Liebesnächte, als er am 29. Juli Frankfurt gegen Abend verließ – der Hitze wegen wollte er die letzte Strecke der Reise nach Wiesbaden, wo sein Freund Zelter ihn erwartete, in der Nacht zurücklegen – während sich, laut Tagebuch, »ein Gewitter auftürmte«.

Und da muss – »enthusiastisch« – auf einmal alles zusammengekommen sein: Hafis’ östliche Welt, die südliche Italiens, die aufgeladene Atmosphäre eines Gewitters, der Geruch nach warmer, vom Regen erfrischter Erde (das »Gruneln«, Grüneln). Als er, »unterwegs in der Nacht«, dieses Gedicht, später Allleben betitelt, buchstäblich aus dem Staub zauberte. Schwung holend für das Eigene im Gespräch mit Hafis, der ebenso oft seinem Fürsten zu Schiras, Mahmud, poetisch huldigend zu Füßen liegt, wie er im Staub vor der Schwelle seines »Liebchens« kniet.

Staub ist eins der Elemente

Das du gar geschickt bezwingest

Hafis, wenn zu Liebchens Ehren,

Du ein zierlich Liedchen singest.

Denn der Staub auf ihrer Schwelle

Ist dem Teppich vorzuziehen,

Dessen goldgewirkte Blumen

Mahmuds Günstlinge beknien.

Treibt der Wind von ihrer Pforte

Wolken Staubs behänd vorüber,

Mehr als Moschus sind die Düfte

Und als Rosenöl dir lieber.

Staub den hab ich längst entbehret

In dem stets umhüllten Norden,

Aber in dem heißen Süden

Ist er mir genugsam worden.

Doch schon lang dass liebe Pforten

Mir auf ihren Angeln schwiegen!

Heile mich Gewitterregen,

Lass mich dass es grunelt riechen!

Wenn jetzt alle Donner rollen

Und der ganze Himmel leuchtet,

Wird der wilde Staub des Windes

Nach dem Boden hingefeuchtet.

Und sogleich entspringt ein Leben

Schwillt ein heilig, heimlich Wirken,

Und es grunelt und es grünet

In den irdischen Bezirken.

Wie weit, zeitlich, räumlich und kulturell, Goethe hier ausholt, um mit dem Wörtchen »jetzt« zuletzt bei der akuten und ewigen Gegenwart eines Naturgeschehens anzukommen!

Ob solches Weitausholen nötig ist, kann man sich fragen, da es den Leser, der von Hafis’ Dichtung ja zunächst nichts weiß und den das vertrauliche Du, mit dem der deutsche Dichter hier das Gespräch sucht, zunächst wohl eher befremdet. Und doch wird man sofort finden, dass gerade die west-östliche Bezugsgeste, mit dem »heißen Süden« als Schaltstelle zur persönlichen Erfahrung, den Raum schafft, das Weltklima, in dem das an sich bekannte Naturereignis eines Gewitters, befreit von jeder Gleichgültigkeit, jeder Banalität, zu dem werden kann, was es eigentlich ist: ein grandios-wildes, doch am Ende Leben schaffendes, vom Menschen nur erahnbares, »heilig, heimliches« Geschehen. Wie die Liebe auch.

Und es ist erstaunlich, mit was für einem Bild-, Wort-, Klangzauber das Gedicht vollzieht, wovon es spricht. Und wie das Naturereignis tatsächlich zu einem poetischen wird. Denn die zwei Zeilen »Wird der wilde Staub des Windes / Nach dem Boden hingefeuchtet«, kann man durchaus auch in der Weise lesen: dass die ungebundenen Assoziationen, von denen der Sprecher des Gedichts noch eben heimgesucht war – Hafis’ erotische Bildwelt und die Szenerie der römischen Liebesnächte – nach dem Gebetsruf »Heile mich Gewitterregen, / Lass mich dass es grunelt riechen!« wie wilder Staub nach dem Hier und Jetzt des Gedichts »hingefeuchtet« werden.

Und in diesem Augenblick, wo der Dichter ganz da ist, ganz bei der Natur angekommen, wie ein Naturpriester ihre Wirkkräfte belauschend, beschwörend, geschieht auch das Heilende:

Und sogleich entspringt ein Leben

Schwillt ein heilig, heimlich Wirken,

Und es grunelt und es grünet

In den irdischen Bezirken.

Was für eine Ausbeute an erzbesonderer, wohl auch für ihn selbst überraschend neuartiger Lyrik die fünf in dichterischem Hochgefühl zugebrachten Reisetage ihm beschert hatten, wird Goethe erst in Wiesbaden, in dem geregelten Tageslauf des Badebetriebs richtig bewusst geworden sein. Als er, tätig wie immer, schon am Tag nach der Ankunft die »Gedichte an Hafis« (so hieß das Projekt in dieser Anfangsphase) zu ordnen begann, abends auch Zelter erstmals daraus vorlas. Während der Flow allmählich verebbte. Doch am zweiten Tag nach seiner Ankunft entsteht noch einmal ein Gedicht, das die in den Reisegedichten aufkeimende, anschwellende Liebesthematik zu einem sinnlichen und symbolischen Höhepunkt führt.

Von Italien ist hier nicht direkt die Rede. Und doch denkt man unwillkürlich an jenen Brief aus Verona vom 17. September 1786, welcher dem kultisch begangenen italienischen Nachtwerden ein bezauberndes Denkmal setzt: »… die Glocken läuten, der Rosenkranz wird gebetet, mit brennender Lampe tritt die Magd in das Zimmer und spricht: ›Felicissima notte!‹«

Sagt es niemand, nur den Weisen,

Weil die Menge gleich verhöhnet,

Das Lebend’ge will ich preisen

Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,

Die dich zeugte, wo du zeugtest,

Überfällt dich fremde Fühlung

Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen

In der Finsternis Beschattung,

Und dich reißet neu Verlangen

Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,

Kommst geflogen und gebannt,

Und zuletzt, des Lichts begierig,

Bist du Schmetterling verbrannt,

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

Dass die Art und Weise, wie hier dem »nacketen Amor« höhere Weihen verliehen werden, bei manchen Kritikern, von denen Goethe bekanntlich nicht wenige hatte, hämische Kommentare provozieren könnte (wie hatte man sich doch, trotz Anstands-Lücken, aufgehalten über die »bordellmäßige Nacktheit« in den Römischen Elegien), mochte er geahnt haben. Und so begibt er sich von vornherein in die Rolle des Mystagogen, der, hymnischen Tons, in ein der Menge verschlossenes Geheimwissen einführt: »Sagt es niemand, nur den Weisen …« Doch mit der symbolischen Überhöhung sinnlicher Triebkühlung ist Goethe nicht allein. Auch hier war es ein heute allerdings nicht mehr für echt gehaltenes Hafis-Ghasel, das die Anregung für solche Gleichnisse gab. So heißt es in Joseph von Hammers Übersetzung Bd. 2, S. 90 f.:

Wie die Kerze brennt die Seele,

Hell an Liebesflammen

Und mit reinem Sinne hab’ ich

Meinen Leib geopfert.

Bis du nicht wie Schmetterlinge

Aus Begier verbrennest,

Kannst du nimmer Rettung finden

Von dem Gram der Liebe.

Du hast in des Flatterhaften

Seele Glut geworfen,

Ob sie gleich längst aus Begierde

Dich zu schauen tanzte.

Sieh’ der Chymiker der Liebe

Wird den Staub des Körpers,

Wenn er noch so bleiern wäre,

Doch in Gold verwandeln.

O Hafis! kennt wohl der Pöbel

Großer Perlen Zahlwert?

Gib die köstlichen Juwelen

Nur den Eingeweihten.

Als Goethes Gedicht, das in der Endfassung des Divan den Titel Selige Sehnsucht trägt, 1817 erstmals in dem bei Cotta erscheinenden Taschenbuch für Damen einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt wurde, zusammen mit anderen Kostproben aus dem noch unabgeschlossenen Projekt, erhielt es, passend zu der Tatsache, dass es tatsächlich auch den Schluss der kleinen Auswahl bildete, den Titel Vollendung. Und die lesenden »Damen« mögen sich gefragt haben, ob sie solche Anwandlungen in ihren Ehenächten auch schon gehabt hätten und was denn nun wieder gemeint sei mit dieser Übersteigerung des wohl öfter lustvollen, jedoch nicht dermaßen aufregenden Beischlafs in Vorstellungen von Tod und Auferstehung? Das haben sich seither allerdings auch unzählige Interpreten gefragt.

Dabei ist die Situation von Goethes Gedicht, im Gegensatz zum Ghasel, zunächst einfach und geschlossen das einer Zeugungsnacht, die jedoch, sinnlich und zugleich nüchtern, wie sie geschildert ist, als eine Art biologischer Gemeinplatz erscheint: ein Akt, mit dem sich der Mensch dem großen Naturgeschehen unter dem poetischen Namen »Liebesnacht« einschreibt. Bis die »fremde Fühlung«, bis der Schmetterling ins Spiel kommt und das Bild in dem Augenblick eine aufregende geistige Dynamik erhält, da der Sprecher sich im Verlangen des Nachtfalters nach dem Licht spiegelt, als der er denn auch wirklich »verbrennt«.

Und wenn er in der nächsten Strophe dennoch mit einem Lebensmotto aufwarten kann, so nur deshalb, weil dieses Verbrennen offenbar kein körperlicher Akt wie der Beischlaf ist und auch kein endgültiges Geschehen wie der Tod, sondern ein quasi mystischer Vorgang, und der Schmetterling ein Symbol für die Seele, die in der Vereinigung mit einem ebenfalls symbolischen Licht zugleich stirbt und neu gezeugt wird. So führt das Gedicht mit einem von der Bildsituation her alltäglichen, inhaltlich jedoch phantastischen Dreh vom Halbdunkel einer Zeugungsnacht in Sphären göttlichen Durchglühtseins.

Und so ist denn auch der Titel Selige Sehnsucht zu verstehen: als ein sicher nicht nur der männlichen Existenz innewohnendes »heilig, heimliches« Sehnen, die im Alltag so leicht »trüb« werdende Existenz in einem klaren Element wie dem Licht aufzugeben. Um, derart gereinigt, sich im Leben neuerschaffen wiederzufinden.

Ob man hier das Wort Mystik wirklich gebrauchen soll, weiß man allerdings nicht, da Goethe ihr zwiespältig gegenüberstand. Sowohl in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans als auch im Divan selbst, wo er die mystische Deutung von Hafis’ Dichtung geradewegs abzulehnen scheint. Obschon er andrerseits in dem Gedicht Offenbar Geheimnis dessen Mystik als »lauter« und »rein« vor der »unlautern« Lesart islamischer »Wortgelehrter« in Schutz nimmt.

Denn schon in der islamischen Glaubenswelt sind die Meinungen stets gespalten gewesen. Während der orthodoxe Islam die durch den ganzen Diwan sich ziehende unverhohlene Erotik nur im übertragenen Sinn gelesen haben wollte, oder auch als unmoralisch verdammte, sahen mystische Bewegungen des Islam, zumal Hafis selbst mindestens eine Zeit lang einem Sufi-Orden angehörte, diese Erotik in genauem Zusammenhang mit jener Gottesliebe – der mystischen Vereinigung mit Gott, seiner Schönheit, seinem Licht –, zu der die enthusiastisch gesuchten und gepriesenen irdischen Liebesnächte, die Sehnsucht nach jener höheren Vereinigung erzeugend, hinführen.

Der Hafis-Übersetzer Joseph von Hammer dagegen interpretierte Hafis’ Gedichte eher nach ihrer vordergründigen Erscheinung. So heißt es im Vorwort zu seiner Übersetzung:

Auch uns scheinen Hafisens Gedichte größtenteils bachantischen und erotischen Inhalts. Außer einigen wenigen mystischen und moralischen Gaselen enthalten die meisten derselben nichts als den Ausbruch taumelnder Begeisterung des Lebensgenusses. Wein und Liebe, Schenken, Mädchen, Rosen und Nachtigallen, Frühling und Jugend, Genuss und Trennung, Frömmler, Verspottung und Klosterhohn, Schönheitspreis und Dichter-Selbstlob sind die Pole, um die sich die Welt Hafisens zwischen Sonnen und Monden, Morgensternen und Plejaden jauchzend herumdreht.

Sicher war es diese schrankenlose Lebensfeier, die auch Goethe an Hafis in erster Linie anzog und begeisterte. Aber doch nicht nur. Denn während ihm die christliche Mystik nicht behagte, weil sie ihm zu sehr in den »Abgrund des Subjekts« ging, so gefiel ihm andrerseits bei Hafis, wie die transzendente Sehnsucht sich im Irdischen verströmt. Und es ist vermutlich dies, was Goethe in dem Gedicht Offenbar Geheimnis als das »mystisch Reine« bei Hafis erkennt. So heißt es in den Maximen und Reflexionen:

Die orientalische mystische Poesie hat deswegen den großen Vorzug, dass der Reichtum der Welt, den der Adepte wegweist, ihm doch jederzeit zu Gebote steht. Er befindet sich also noch immer mitten in der Fülle, die er verlässt, und schwelgt in dem, was er gern los sein möchte.

»Mitten in der Fülle«: Solche Mystik mochte Goethe behagen. Und in diesem Sinn kann man das Gedicht Selige Sehnsucht ohne weiteres als ein mystisches lesen: Es ist der göttliche Funke in jedem Menschen, »hell brennend an Liebesflammen«, der sich, im Irdischen »schwelgend«, wie der Schmetterling nach der Kerzenflamme, nach der Vereinigung mit dem göttlichen Licht sehnt.

Wobei hier noch etwas mitklingt, was dem Naturforscher Goethe längst aufgegangen und zum Lebensmotto geworden war: Es ist der allem Lebendigen innewohnende, auch der Entelechie des Einzelnen vorgeschriebene Prozess der Metamorphose, der unablässigen Verwandlung. Von dem es in dem Gedicht Eins und Alles heißt:

Und umzuschaffen das Geschaffne,

Damit sich’s nicht zum Starren waffne,

Wirkt ewiges, lebendiges Tun.

Im Prinzip Liebe. Goethe, Marianne von Willemer und der West-östliche Divan

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