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5 Susanne 2009

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Das Hin- und Herschreiben genügte uns bald nicht mehr. Wir wollten uns endlich wiedersehen. Es war nicht einfach, für alle Beteiligten einen passenden Termin zu finden. Schließlich — mit einigen Hindernissen — fanden wir einen, der auch Matthias passte, denn er wollte mitkommen.

Ungeduldig erwartete ich den Mittwoch, an dem wir uns auf halber Strecke treffen wollten. In diesem verregneten August gelang es uns, einen der wenigen Sonnentage zu erwischen. Ich stöberte in meinem Kleiderschrank und konnte mich nicht entscheiden, fand nichts zum Anziehen. Selbst die kürzlich erworbenen Sommerkleider gefielen mir nicht mehr. Ich wollte unbedingt gut aussehen, auf meinen Freund einen guten Eindruck machen und fand nichts, worin ich mich jung und schön fühlte.

Auf dem Schiff erfasste mich heftige Unruhe, vor Matthias versuchte ich jedoch Gelassenheit zu demonstrieren. Die Fahrt über den See zog sich hin, mir ging alles zu langsam. Weithin konnte man das schweizer Ufer überschauen. In der Nähe des Bahnhofs, neben dem Hafen, sah ich einen wartenden Mann am Geländer vor den Bahngleisen stehen. Wir waren aber am Fährhafen verabredet, daher beachtete ich ihn nicht weiter. Unverkennbar befanden wir uns noch in der Urlaubszeit, überall sah man Touristen. Das Gewühl ankommender und wartender Passagiere löste sich allmählich auf. Von meinem Freund war nichts zu sehen.

Schon musste ich gegen die aufkeimende Enttäuschung ankämpfen. Er hatte vielleicht im letzten Moment die Lust an einem Wiedersehen verloren, es sich anders überlegt. Wie ängstlich fieberte ich in diesem Augenblick einem Menschen entgegen, der mir möglicherweise einen Spiegel vorhielt, in dem ich mir nicht gefallen würde? Vielleicht interessierte er sich ja gar nicht mehr für mich? Vielleicht war er verärgert, dass ich Matthias mitgebracht hatte? Absurde Fragen gingen mir durch den Kopf, ich war zunehmend irritiert. Matthias neigte hingegen in solchen Momenten nicht zur voreiligen Aufgabe. Wir gingen umher, möglicherweise war ja sein Zug noch nicht angekommen, hatte Verspätung?

Auf dem kurzen Weg zum Bahnhof schlenderte uns der Mann entgegen, den ich vom Schiff aus am Gleisgeländer hatte stehen sehen. Also doch! Wollte er sich klammheimlich aus dem Staub machen, sich in den nächsten wartenden Zug setzen und zurück nach Zürich fahren, hätte er uns für unsympathisch oder unattraktiv gehalten? Schlank und gut aussehend war er, aber mit dem vierzehnjährigen Jungen, an den ich mich dank der Fotos erinnern konnte, bestand nicht mehr viel Ähnlichkeit. Sein schon ein wenig schütteres Haar war noch beinahe schwarz, seine Gesichtszüge männlich, markant und interessant. Wir beteuerten uns, wie gut wir aussähen. Doch ich war auch erschrocken — fünfundvierzig Jahre trennten uns von unseren Kindergesichtern. Ihm wird es ebenso ergangen sein.

Ralph gab sich offen und zugewandt, was mich meine Gehemmtheit rasch überwinden ließ. Zwischen uns entwickelten sich bald Nähe und Vertrautheit. Matthias hielt sich wohltuend zurück. Er ließ uns reden und wir verfielen in unseren Heimatdialekt, den er sowieso kaum verstehen konnte. An diesem schönen Tag, an dem die wenigen weißen Wolken dekorativ am spätsommerlich blauen Himmel dahinzogen, schlenderten wir auf der Suche nach einem Restaurant langsam an der Uferpromenade entlang zur Stadtmitte, bereits vertieft in gemeinsame Erinnerungen. Ralph überraschte mit einem alten Fotoalbum seiner Mutter, in dem wir in aller Ausführlichkeit die vielen kleinen Schwarz-Weiß-Fotos, wie man sie in unserer Kindheit kannte, betrachteten. Es berührte mich sehr das kleine Mädchen, das ich war, in drolligen Posen auf den gestellten Bildern zu sehen. Viele der Fotos sah ich zum ersten Mal. Tante Ruth war damals schon im Besitz eines Fotoapparates. Ein Luxus, den sich meine Mutter nie geleistet hätte.

Gelöst und unbeschwert ließ ich mich fallen in die harmonische Atmosphäre. Ich fühlte mich vertraut und nahe dem wiedergefundenen Freund. Zwischen den beiden Männern schien sich auch keine Spannung aufzubauen. Damit hatte ich nicht wie selbstverständlich rechnen können, denn Matthias kann erstaunlich eifersüchtig reagieren. Vielleicht blieb das aus, weil Ralph freimütig von seiner Homosexualität sprach, uns von seinen langjährigen Lebenspartnern erzählte und damit als potenzieller Rivale nicht infrage kam. Ich versuchte, den Abschied möglichst lange hinauszuschieben. Als er nicht mehr zu verhindern war, weil unser Schiff bereits angelegt hatte, überfielen mich Traurigkeit und Wehmut. Wir versprachen uns baldiges Wiedersehen. Lange noch stand ich in der Abendsonne an der Reling des Fährschiffs und er blieb auf dem Hafengelände zurück. Mir war, als hätte ich einen verlorenen Bruder wiedergefunden. Ein Mensch, der sich an meine Mutter als junge, elegante und attraktive Frau, als eine ‚schwäbische Joan Crawford’ erinnerte, der auch ihre dunklen Seiten gesehen und miterlebt hatte, tauchte plötzlich in meinem Leben auf und löste in mir heftige Unruhe aus. Ein Zeuge aus Kindertagen, der mir bestätigte, was ich mich kaum zu erinnern traute, der meine Großeltern gekannt, der dieselbe Luft in einer schwäbischen Kleinstadt der Nachkriegsjahre geatmet, dieselben Spielräume mit mir geteilt hatte und die gleichen Wege gegangen war. Zutiefst aufgewühlt von dieser Begegnung wurde ich in der Folgezeit überflutet von Erinnerungen.

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