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ОглавлениеMit der üblichen Begrüßung kommt mein Mann nach Hause, wirft seine Aktentasche in die Ecke und hängt seine alte Lederjacke an die Garderobe. Es gibt eine kleine Umarmung und ein zartes, keusches Küsschen auf den Mund — das Minimum an Zärtlichkeit, das wir uns als Ritual bewahrt haben, um nicht völlig in die Lieblosigkeit der verbrauchten und ausgezehrten Langzeitehe zu verfallen.
„Wie erging es dir heute?“, fragt er und auch das entspricht unserer Routine. „Danke, es geht, und dir? Wie war dein Arbeitstag?“ — „Ach das Übliche, du weißt schon … “ Natürlich weiß ich das, was soll schon sein. Er liebt es nicht, von seiner Arbeit zu erzählen, ganz anders als ich. Im Gegensatz zu früher habe ich jetzt aber nichts mehr zu erzählen. Ich habe den Kaffee vorbereitet und seinen Lieblingskuchen gebacken. Es ist Freitag und er freut sich auf sein freies Wochenende. „Gehst du heute Tennisspielen?“, frage ich und weiß doch schon die Antwort. Wie jeden Freitagnachmittag wird er sich mit seinen Tennisfreunden und Tennisfreundinnen treffen. Eine Welt, zu der ich nie einen Zugang hatte, weil er mich daran nicht teilhaben ließ. Mit meiner Eifersucht musste ich immer allein zurechtkommen.
Er legt sich auf sein Sofa, um einen kleinen Nachmittagsschlaf zu halten. Danach wird er für viele Stunden ausgehen — Tennis spielen, über Tennis reden, essen, trinken und Spaß haben. Der sprachlose Zustand, in den wir uns seit dem Bekanntwerden meiner Krankheit selbst versetzt haben, entsetzt mich. Als wäre ich nicht mehr ich, als hätte er Angst vor mir. Früher mied man die Krebskranken, weil man an Ansteckung glaubte; noch früher sah man in der Krankheit wahrscheinlich eine Strafe Gottes für die Sünden, die man begangen hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob davon nicht doch noch etwas übrig geblieben ist.
Früher war ich überzeugt, unter Liebenden gäbe es keine Schranken. Das stimmt bei uns schon lange nicht mehr, wenn es überhaupt jemals so war. Aber warum auch sollte ich ihm den Tag verderben, über meine Ängste und Schmerzen klagen, über meine Verzweiflung reden? Ich bleibe jetzt am liebsten allein. So kann ich ungestört meinen Gedanken und Erinnerungen nachhängen, alte Fotoalben betrachten und in den Tagebüchern von früher lesen. Mein Leben entfaltet sich vor mir und ich nehme Abschied. Abschied von der fünfzehnjährigen Susanne, in deren Tagebuch ich lese: Lieber Gott, bitte hilf mir, dass ich nicht immer so wütend werde. Ich will das nicht, das weißt du, aber wenn sie mich so ärgert, könnte ich sie umbringen. Sie ist so gemein zu mir. Immer dreht sich alles nur noch um Martina, um Herbert und Martina, aber ich bin doch auch noch da. Helfe ich ihr denn nicht schon genug? Ihr reicht es nie, sie ist nie mit mir zufrieden. Oft möchte ich nur noch schreien, laut schreien, dass alle mich hören. Lieber Gott, ich will sie ja lieben und nicht immer so böse Gedanken gegen sie haben. Bitte hilf mir dabei, sie ist doch meine Mutter. Du sagst, man muss Vater und Mutter ehren und lieben, auf dass es mir wohlergehe. Ja, das will ich auch, aber sie macht es mir oft so schwer.
Ich betrachte die Fotos der letzten dreißig Jahren mit Matthias. Die vielen Bilder von unseren Urlaubsreisen, deren Qualität durch unsere lächerlichen Streitereien oft dermaßen gelitten hat, dass ich mir danach vornahm, keinen gemeinsamen Urlaub mehr mit ihm zu verbringen. Mit den Jahren nahm die Anzahl der Fotografien ab. Da ich mich mit seinen Augen sah, gefiel ich mir auf den Fotos immer weniger. Mit den Jahren passten sie nicht mehr zu dem inneren Bild, das ich von mir hatte und das in der Entwicklung nachhinkte. Matthias ging es ebenso, er fühlte sich gar von mir betrogen, weil ich mich veränderte. Weil ich das Versprechen nicht halten konnte, das ich ihm nie gegeben hatte, die junge, attraktive Frau zu bleiben, die er vor über dreißig Jahren kennengelernt hatte. Ich glaube, das nimmt er mir bis heute übel.
Es ist spät in der Nacht, als Matthias nach Hause kommt. Wie immer habe ich schnell das Licht gelöscht und mich schlafend gestellt — er soll nicht das Gefühl bekommen, sich rechtfertigen zu müssen. Da wir seit einigen Jahren in getrennten Zimmern schlafen, ist alles viel einfacher geworden. Ich bin allein mit meiner Wut, Enttäuschung und Eifersucht, der steten verhassten Begleiterin in meinem Leben. Mein Misstrauen ist chronisch und unheilbar, gespeist aus der Angst, verlassen oder ausgetauscht zu werden. Am liebsten möchte ich mit der kleinen Susanne betteln: Lieber Gott, bitte, bitte hilf mir …
Zu allem Übel habe ich mir noch eine Erkältung zugezogen, ein Zustand, den Matthias als Bedrohung empfindet, wegen der Ansteckungsgefahr. Durch die erfolglose Behandlung meiner Krebserkrankung ist meine Immunabwehr noch erbärmlicher, als sie es früher schon immer gewesen ist, und jeder Luftzug erzeugt jetzt Halsschmerzen.
Schlaflos, einsam und verlassen, wie ich mich fühle, denke ich an Krankheitstage in meiner Kindheit. Diese Erinnerungen sind unlösbar verbunden mit Oma. In ihrer Zeit musste sie ihre Kinder großziehen — ohne den raschen Gang zum Arzt oder Apotheker; ohne die fiebersenkenden Zäpfchen und den Antibiotikasaft und andere, zum Teil fragwürdige Mittel. Kinder konnten sterben … an Diphterie, Scharlach und sogar an den Masern. Es lag auch am Einsatz der Erwachsenen, ob das kranke Kind eine Chance hatte zu überleben. Oma setzte sich für mich ein. Sie machte mir die Brustwickel, die Quark- und Kartoffelsäckchen und als Ultima Ratio: Senfwickel gegen die Bronchitis, die wie ein Höllenfeuer meine zarte Haut verbrannten. Gegen Fieber halfen Wadenwickel. Sie kochte mir den ungenießbaren Zwiebelhustensaft und andere, widerlich schmeckende, aber heilsame Arzneien. Sie bettete mich auf das Sofa in der Wohnstube, damit ich nicht so allein war. Liebe Oma, dafür hast du dir einen Platz im Himmel verdient — abgesehen von den vielen anderen Gründen. Außerdem sind die vielen Gegrüßet seist du, Maria gar nicht zu zählen, die du im Lauf deiner dreiundachtzig Lebensjahre als Stoßgebete zum Himmel hinaufgeschickt hast. Die können nicht alle unerhört geblieben sein. Mich zu lieben und anzunehmen, war ihr in meinen ersten Lebensjahren nicht möglich. Zu sehr war sie gekränkt durch die Schande, die meine Mutter über die Familie gebracht hatte. Mit der Zeit wurde sie milder und ihr Mitleid mit mir stärker, denn es war offensichtlich, dass ich von meiner Mutter nicht immer gut behandelt wurde.
Unerträglich lange zogen sich die Krankheitstage hin und auch Oma konnte sie mir kaum verkürzen. Das hätte meine Mutter gekonnt, wäre sie da gewesen. Das war sie aber meist nicht, denn sie musste arbeiten, und wenn nicht, beschäftigten sie viele andere Dinge, die wichtiger, sehr viel wichtiger waren als ich. So wartete ich auf sie, meine ganze Kindheit über wartete ich auf Mama. Voller Ungeduld, erregt auf dem kleinen Fußschemel hin und her trippelnd, sah ich zum Fenster hinaus, hinauf zum Waldeck und versuchte, allein durch mein Wollen, die geliebte Gestalt herbeizuzwingen. Wenn sie dann in ihrem flatternden Sommerrock oder im Winter mit dem roten Wollmantel um die Ecke kam, steigerte sich meine Vorfreude auf ihr Kommen zur Hysterie. Oma sagte dann: Kind, du wartest auf deine Mutter, und wenn sie dann endlich kommt, schimpft sie dich ja doch bloß aus. Das ist wohl wahr, liebe Oma, und doch habe ich dich für solche Sätze gehasst.
Paulina Agathe war eine schwermütige Frau und litt unter ihrem Leben, dem Schicksal und ihrer Familie, solange ich sie kannte. In diese leidvolle Welt schloss sie mich ein. „Kind, wenn wir zwei nur schon im Himmel wären“, hörte ich sie oft klagen, dabei konnte ich mir unter dem Himmel gar nichts vorstellen. Oma hatte jedoch auch andere Seiten. In Fragen der Moral war sie unerbittlich, die Autorität der katholischen Kirche absolut. Oft hatten sie Streit, meine Mutter und sie. Während die Tochter sich schnell in heillosen Zorn hineinsteigerte und in der Erregung dann schrie, sagte Oma ihre bösen Sätze spitz und leise. Nie erhob sie die Stimme, während ein zynisches Lächeln ihre schmalen Lippen auseinanderzog. An ihrem Sarkasmus konnte man abprallen, wie an einer gläsernen Wand.
Für mich war sie der verlässliche Hafen, den ich immer anlaufen konnte. Nachdem es einiger Zeit bedurft hatte, mich als Enkeltochter anzunehmen, war sie für mich da. Ich gehörte nicht zu den Schlüsselkindern, die es in der Nachkriegszeit häufig gab. Ich war privilegiert, denn ich wusste immer, wo ich sie finden konnte. Der Radius ihrer Aktivitäten war für mich überschaubar. Begab sie sich außerhalb dieser kleinen Welt, musste ich mitkommen. Ohne sie kann ich mir meine Kindheit nicht vorstellen, denn sie war immer da. Paulina Agathe … was für ein schöner Name für eine Großmutter, die immer schon alt war. Bei meiner Geburt war sie in meinem Alter und fühlte sich vom Leben misshandelt. „Kind, wenn wir zwei nur schon im Himmel wären.“ Ja, Oma, von dir habe ich gelernt, dass das Leben ein Jammertal ist, dem ich jetzt entfliehen werde. Ich hoffe, du hattest recht und wartest da oben auf mich.
Meine Großmutter fühlte sich ihr ganzes Leben lang als Opfer: Opfer der zwei Weltkriege, der Geldentwertung, der Heirat mit dem falschen Mann, dem Verlust von Sohn und Schwiegersohn — gefallen im Zweiten Weltkrieg. Sie kümmerte sich um deren Frauen und Kinder, die bei ihr ein- und ausgingen. Die jüngste Katastrophe hatte meine Mutter mit meinem Erscheinen über die Familie gebracht. All das konnte Paulina Agathe kaum mehr ertragen. Ihr ausgemergelter Körper, bei dem die papierdünne Haut sich über das beinahe sichtbare Skelett spannte, wollte kein Gewicht zulegen. Da half auch die zusätzliche Butterration nichts, die als Fettaugen in ihrem Malzkaffee schwamm. Ihr chronischer Husten mit dem ekelerregenden Auswurf zehrte all ihre Energie auf.
Geboren 1887 in einem kleinen Dorf auf der Baar, dieser imposanten Hochebene zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, verlor Paulina Agathe im Alter von acht Jahren ihre Mutter. Als einziges Mädchen musste sie den schwermütig gewordenen Vater, der nicht über den Tod seiner Frau hinwegkam, und den drei Brüdern den Haushalt führen. Nebenher besuchte sie die Schule, die ihr wichtig war. Eine lieblose Tante brachte ihr das Nötigste bei und unterstützte sie notdürftig. Mein Urgroßvater, der sich immer mehr in seine Melancholie flüchtete, vernachlässigte zunehmend seine Arbeit und schrieb Heimatgedichte. Als Kind war ich auf einem Schulausflug sehr stolz, meinem Lehrer und den Mitschülern auf dem annähernd tausend Meter hohen Lupfen ein Gedicht meines Urgroßvaters vorzulesen, das in die Holzwand des alten Gipfelturms eingeschnitzt war. Er hatte seiner Tochter eine großzügige Aussteuer versprochen, wenn sie einmal heiraten werde. Wichtig waren zunächst die Söhne, sie mussten eine Existenz aufbauen. Zu der Aussteuer kam es nicht, das Geld wurde entwertet, und sie ging leer aus. Der Mann, den sie sich erwählt hatte, brachte ihr auch keinen Wohlstand. Er war ein einfacher Transportarbeiter, ehrlich, fleißig und kinderlieb, jedoch nicht so ehrgeizig, wie sie ihn gerne gesehen hätte. Der Erste Weltkrieg erschütterte ihr Leben, sie blieb mit zwei kleinen Kindern — Karl und Maria — allein, während ihr Mann in den Krieg an die Westfront ziehen musste. Stets musste sie das Schlimmste befürchten, doch er hatte Glück, wurde bald leicht verwundet und als Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof verpflichtet. Wohlgenährt und mit einigen Kenntnissen der französischen Sprache kam er nach Kriegsende nach Hause. Omas Gesicht verzog sich zu einer spöttischen Grimasse, wenn sie über seine ‚französische Bäuerin’ sprach, die es wohl in jeder Hinsicht gut mit ihm gemeint habe. Opa verzog keine Miene und schwieg. Ihr Lieblingsbruder, mein Großonkel Albert, kam als schwerkranker Mann aus diesem schrecklichen Krieg zurück. Wenn ich Oma manchmal begleiten durfte, wenn sie ihre Verwandtschaft besuchte, fürchtete ich mich vor ihm, denn er schien mir unberechenbar. Einmal war er freundlich und zugewandt, das nächste Mal versteckte er sich auf dem Heuboden und schrie herunter: „Warum nur hast du das Kind mitgebracht, bring es weg!“ Oft weinte er. Manchmal schrie er auch herum und war dann richtig böse. Tante Marie, seine schöne Frau, verwöhnte mich umso mehr mit Kuchen und Süßigkeiten. Sie erklärte das Verhalten ihres Mannes mit seinen schrecklichen Kriegserfahrungen. Der ältere Bruder, Onkel Adolf, hatte den elterlichen Hof geerbt und war ein wohlhabender Mann. Bei ihm gab es Säue und Kühe, Hühner und Enten und den unvergleichlichen Geruch, den ein Stall mit angrenzendem Misthaufen verströmt. Ich fühlte mich wohl, der Tiere wegen. Von meinem Großvater wusste ich aber, dass die ‚reiche Verwandtschaft’ seiner Familie während der Hungerszeit nicht mit Nahrungsmitteln ausgeholfen hatte, obwohl es ‚denen’ leicht möglich gewesen wäre. Deshalb begleitete er seine Frau nie, wenn sie ihren Heimatort besuchte — er wollte von einer solchen Verwandtschaft nichts mehr wissen. Also begegnete auch ich Onkel Adolf mit großen Vorbehalten. Dennoch gehörte es zu den besonderen Ereignissen meines Kinderlebens, wenn ich Oma begleiten und mit dem großen Postauto die weite Reise unternehmen durfte.
Im Gegensatz zu unserer vom Jugendwahn befallenen Gesellschaft wollte Oma nicht jung sein. „Schmieren und salben hilft allenthalben“, spottete sie angesichts der Verwendung der aufkommenden Kosmetika. Nivea-Creme galt ihr schon als ungebührlicher Luxus. Sie hütete sich vor den Strahlen der Sonne, denn das mache alt und hässlich, was man an den armen Bauersfrauen ja sehen könne. In gewisser Weise war sie jedoch unglaublich eitel: Eines nachts wachten meine Mutter und ich gleichzeitig auf und meinten, prasselnden Regen zu hören. Da schrillte ihre Stimme bereits voller Panik: „Das ist kein Regen“, während sie aus dem Bett sprang und die schweren Vorhänge zurückzog. Entsetzt sah ich von der Veranda der Nachbarn lodernde Flammen am hölzernen Rahmen unseres Fensters emporzüngeln. Sofort begann sie laut zum Fenster hinaus zu schreien: „Feurio, feurio!“ So peinlich ich das auch fand, es funktionierte, denn irgendjemand verständigte die Feuerwehr. Wir stürmten in das Schlafzimmer der Großeltern. Opa zog sich ruhig an und Oma saß auf der Bettkante, unschlüssig, was sie denn nun anziehen sollte. Das Nachbarhaus, nur durch eine dünne Holzwand von dem unseren getrennt, brannte lichterloh, zu uns schlugen die Flammen durchs Fenster hinein und Oma überlegte, was sie anziehen sollte! Die Feuerwehrleute machten ihrer Unschlüssigkeit ein Ende und evakuierte uns. Ich stand mitten in der Nacht im Nachthemdchen vor dem brennenden Haus auf der Straße. Bei den Nachbarn kam ich unter, Frau Storz bettete mich auf ihr Sofa im Wohnzimmer. In unserem Schlafzimmer konnte man danach wochenlang nicht schlafen, der Gestank nach kaltem Rauch und Feuchtigkeit war unerträglich.