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5 Actus reus

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Ein Verbrechen besteht aus zwei Elementen: mens rea (Lateinisch für »schuldiger Geist«) und actus reus, »die schuldige Handlung« H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.

Später an diesem Tag observierte ich durchs Fenster Trudy, die im Nebenhof Wäsche aufhängte. Es war nicht Redgraves’ üblicher Wäschetag, daher ging ich hinunter, um nach dem Rechten zu sehen.

»Die Herrin braucht Kleidung für ihr Begräbnis«, erklärte Trudy mit einem tränenreichen Schniefen. Schlagartig durchzuckte mich Mitleid mit dem Hausmädchen, das diese Aufgabe ganz allein erledigte, daher packte ich zu und zog ein feuchtes Nachthemd aus dem Korb. Das Hemd war mit zierlicher weißer Spitze eingefasst, hatte winzige Perlenknöpfe und ein weißes Monogramm: M.

»Oh, Trudy, das hier hat aber Flecken.« Außerdem prangte am Handgelenk ein kleiner Schlitz, weil etwas von der Spitze abgerissen war.

Während sie eine Ladung nasser Bettwäsche ausschüttelte, schaute sie zu mir. »Ich kriege die einfach nicht raus. Zweimal habe ich es mit heißem Wasser und Olivenölseife ausgewaschen, aber es hat rein gar nichts gebracht.«

Eine unheilvolle Sache gab es durchaus, die heißes Wasser nicht gut aus einem Nachthemd waschen würde – allerdings kamen mir diese Flecken eigentlich nicht wie Blut vor. Zum einen waren sie dafür zu blass und zum anderen hatten sie einen eindeutigen Gelbstich. »Es ist Blütenstaub«, schlussfolgerte ich.

»Hmm«, stimmte Trudy zu. »Der ist auf allen ihren Kleidern.«

»Selbst auf dem Nachthemd?« Ich betrachtete es eingehender. Die Beschmutzungen waren überall, am Saum, an den Bündchen, verschmiert am Rücken. Nur waren mir die anderen inmitten all der Falten und der Spitze zunächst nicht aufgefallen. Es sah ganz danach aus, als hätte Miss Wodehouse in den Blumen gekniet.

Oder als hätte man sie gestoßen – sodass sie auf Händen und Knien auf die Erde gefallen war. Im Liliengarten, mitten in der Nacht, in ihrem Schlafgewand.

»Hatte sie das in der Nacht an, als sie gestorben ist?«

Trudy nickte. »Es war auch ganz voller Schlamm, doch der war nicht so hartnäckig. Anders als im Badezimmer.«

Sie war mir zuvorgekommen. »Im Badezimmer war Schlamm – als du die Herrin gefunden hast?«

Trudy schniefte noch einmal mitleidig. »Hat Ewigkeiten gedauert, alles aufzuwischen.«

Gerne hätte ich sie noch auf die Fußspuren angesprochen, doch ihre Miene war so schmerzerfüllt, ich hatte Angst, sie würde die Fassung ganz verlieren. Ich hielt das Nachthemd fest. »Darf ich das behalten?« Das klang makaber. »Es eine Weile ausleihen, meine ich? Ich will mir diese Flecken genauer ansehen, sie vielleicht der Polizei zeigen.«

Sie wirkte entsetzt. »Oh nein, Miss Hardcastle! Das würde sie auf keinen Fall wollen. Dass diese ordinären Männer ihre … persönlichen Dinge anfassen!«

»Dann vielleicht mein Vater? Wäre das in Ordnung? Er ist sehr diskret.«

Ihr fassungsloser Gesichtsausdruck wurde etwas ruhiger. »Na gut«, sagte sie. »Mr Hardcastle wird wissen, was zu tun ist.«

Behutsam faltete ich das Nachthemd, um die Flecken und das eingestickte Monogramm zu schützen. Dass ich absolut nicht vorhatte, dieses Beweisstück meinem Vater zu zeigen, behielt ich für mich – er würde es nur als lächerlich abtun und darauf bestehen, dass ich es sofort nach Redgraves zurückbringe.

»Danke, Trudy. Du weißt gar nicht, wie viel das bedeutet.«

Ich dagegen schon. Es bewies, dass in der Nacht von Miss Wodehouses Tod nicht nur zwei Männer im Liliengarten gewesen waren – sondern auch Miss Wodehouse.

Während ich meine nächsten Schritte plante, grübelte ich über das nach, was Vater zu Miss Judson gesagt hatte. Es war Freitag, die letzte Gelegenheit, noch vor Miss Wodehouses Beerdigung ihren Obduktionsbericht in die Finger zu bekommen. Daher verbrachte ich ihn – selbstverständlich – damit, mich in meinem Zimmer vor dem Spiegel herauszuputzen.

Was hatte Vater gemeint, als er sagte, ich hätte ein »wahres Talent« dafür, zu stören? Es hatte entschieden anders geklungen, als wenn er zum Beispiel feststellte, Köchin habe ein besonderes Talent für knusprige Pasteten. Wollte er nicht, dass ich schlau und forschend war? Mir war bereits aufgefallen, dass Intelligenz bei den weiblichen Vertretern meiner Gattung nicht allzu hoch angesehen war. Aber, meine Güte, man hörte doch trotzdem niemanden sagen: »Was England wirklich braucht, sind mehr dumme Mädchen«.

Miss Judson erschien mit einem Stoffbeutel über dem Arm. »Dein Vater fand, diese Angelegenheit wäre Anlass genug für ein neues Kleid«, sagte sie.

»Also das ist ja nun wirklich lächerlich«, begann ich, »was ich anhabe, ist doch völlig eg–« bis sie das Gewand herausholte: marineblaue gerippte Seide mit einem knöchellangen Rock und einem Oberteil voller Zierfalten und mit schwarzen Posamenten11. Es war praktisch ein Kleid für Erwachsene, gar nicht so viel anders als das von Miss Judson. Ich griff danach, hielt dann aber inne. »Bekomme ich ein Korsett?«

»Sobald du eins brauchst.«

»Also vermutlich niemals«, grummelte ich. Ich trug noch immer ein babyhaftes, vorne zuknöpfbares »Leibchen«, das nur betonte, wie jung und klein geraten ich war.

»Stimmt, zumindest wenn deine Neugier uns beide vorher ins Grab bringt«, stimmte sie gut gelaunt zu, während sie mir dabei zur Hand ging, die zusätzlichen neuen Lagen anzulegen, die man für diese Garderobe benötigte (einschließlich eines Überflusses an Unterröcken). »Magst du mir nun vielleicht irgendwelche Details deines ominösen Plans verraten?«

Ich steckte die Arme in die Ärmel, die fast schon absurd eng saßen. »Wie soll ich darin denn irgendetwas machen?«

»Was musst du denn machen?«

»Weiß ich nicht, Mädchensachen eben. Pianoforte spielen?«

»Du spielst kein Pianoforte«, sagte sie. »Du hast dich über zu viele Klavierlehrer lustig gemacht. Zurück zu deinem Plan.«

Ich drehte mich zu ihr um, während sie den Rock richtete. Das Beste daran waren die Taschen: Unmengen davon, innen wie außen. Vater war ein Vertreter der Kleidungsreform, wodurch er auch von besonderen Pluderhosen zum Radfahren erfahren hatte. Während ich die Röcke probehalber schwingen ließ, beantwortete ich Miss Judsons Frage, mehr oder weniger zumindest: »Erinnern Sie sich noch daran, als wir die Spione mittelalterlicher Mogule durchgenommen haben? Und dass keiner der Beteiligten einer Mission je alle Details kannte, damit er selbst unter Folter keine wichtigen Informationen preisgeben konnte?«

»Danke, dass du mich vor den Daumenschrauben bewahrst«, sagte Miss Judson und ich konnte nicht genau sagen, ob sie versuchte, witzig zu sein. »Dir ist bewusst«, fuhr sie fort, »dass dein Vater dafür auch glauben muss, dass ich keine Ahnung von deinem Plan habe. Soll ich vielleicht am besten gleich zu ihm ins Arbeitszimmer marschieren und sagen: Mr Hardcastle, ich bringe Myrtle zu ihrem nächsten Fiasko, allerdings habe ich keine Ahnung, was sie vorhat, daher denken Sie daran, dass mich keine Schuld trifft, wenn etwas schiefläuft

»Hervorragend«, sagte ich. »Sie haben Ihren Part im Ablauf begriffen.«

Andere Mädchen waren langweilig. In meiner Nachbarschaft gab es einige wie mich, Mädchen der Mittelschicht, doch wenn es sich vermeiden ließ, gaben wir uns nicht miteinander ab. Sie sahen mich an, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, und gaben mir gerne »freundliche Ratschläge« für meine Haare oder Kleider, was mir ganz und gar nicht freundlich gemeint erschien. Ich bemängelte meinerseits ihr fehlendes Interesse an Eingeweiden. Vater lag mir ständig in den Ohren, ich solle mehr Zeit mit ihnen verbringen, doch sie hatten sämtliche meiner Einladungen zu Tee und Sezierübungen abgelehnt. Heute jedoch hatte ich mich freiwillig in ihre Fänge begeben und erduldete Stunden voller langweiliger Kartenspiele (da sie nichts von Wahrscheinlichkeitsrechnung verstanden, gewann ich jedes Mal) und Diskussionen über reißerische Romane, die ich nicht gelesen hatte.

Miss LaRue Spence-Hastings, blond, vierzehn und die Art von Mädchen, die niemals einen Mordprozess stören würde, betrachtete mich von Kopf bis Fuß und seufzte mitleidig. »Caroline, findest du nicht, Miss Hardcastle würde absolut hinreißend in dieser lachsfarbenen Pelerine aussehen?« Eine Pelerine, lieber Leser, war eine Art kurzer Umhang aus Spitze mit dem einzigen Zweck, ein Mädchen davon abzuhalten, seine Hände oder Arme zu gebrauchen. Die von LaRue hatte einen besonders hässlichen Rosaton mit passend gefärbten großen Fellquasten.

Unsere Gastgeberin, Miss Caroline Munjal, schälte sich von der Chaiselounge und warf sich dabei den schwarzen geflochtenen Zopf über die Schulter. »Ach nein. Ich habe genau das Richtige«, sagte sie. Caroline lebte auf der anderen Seite des Parks in einem vierstöckigen Stadthaus mit einem hervorragenden Gefälle von der Haupttreppe hinab in die marmorne Empfangshalle – gewiss tödlich – und einem Kutschenhaus, groß genug für eine eigene Leichenhalle. LaRue war Carolines Nachbarin, und die Mütter der beiden Mädchen waren an diesem Nachmittag gemeinsam ausgegangen, um ihren eigenen sozialen Verpflichtungen nachzukommen. Ich befand mich also allein in feindlichem Gebiet – und das war mir wohl bewusst.

Caroline huschte davon, um wenig später beladen mit schwarzer Spitze und Krepp zurückzukommen. Sie schüttelte ein langes schwarzes Kleid und eine Haube aus, die vor schwarzen Schleiern und noch mehr schwarzen Blumen nur so überquoll, bevor sie mir beides überwarf. »Damit kommen Sie auf die allerbesten Begräbnisse!«, rief sie, während LaRue sang: »Myrtle Makaber, Myrtle Makaber.«

Es war nun aber so, dass ich einen mehr als guten Grund dafür hatte, Carolines und LaRues Grausamkeiten über mich ergehen zu lassen, und zwar: Dr. Vikram Munjal, Carolines Vater, war der Swinburner Gerichtsmediziner. Also schluckte ich sowohl meinen Stolz als auch meine fieseste Entgegnung hinunter, hielt mir das Kleid an den Körper und nahm eine möglichst modische Pose ein. LaRue war unbeeindruckt.

»Das ist langweilig«, sagte sie. »Machen wir was Lustiges.« LaRue war die Anführerin – egal, was sie vorschlug, Caroline machte mit.

Ich stopfte meinen Groschenroman in die Tasche. »Nun«, sagte ich und gab mir Mühe, zurückhaltend zu klingen, »also ich habe mich ja schon immer gefragt, wie es wohl in Dr. Munjals Büro aussieht.«

Caroline schien beunruhigt. »Wenn er nicht zu Hause ist, darf ich da nicht rein.«

»Umso besser.« LaRue setzte sich die schwarze Haube auf den Kopf und warf Caroline das Spitzenkleid zu. »Gehen wir.«

Sowohl im Gang mit der schweren Tapete und dem Regal mit den Sammeltassen vom Goldenen Jubiläum Ihrer Majestät12 als auch den gesamten Weg bis zum gemauerten Kutschenhaus im Garten hinter dem Haus protestierte Caroline. »Können wir nicht einfach durchs Fenster sehen?«, flehte sie.

LaRue schnaubte verächtlich. »Was denn, hast du etwa Angst?« Für junge Damen aus gutem Hause, viel zu sensibel für etwas so Vulgäres wie eine Leichenhalle, gilt die Regel, auf solche Sticheleien nicht zu reagieren. Allerdings haben die Experten für Etikette nicht mit den LaRue Spence-Hastings dieser Welt gerechnet. »Angst vor Leichen?«

»Na ja, eigentlich gibt es gar keine«, setzte Caroline an, womit ich hätte rechnen sollen. Man musste die Toten inzwischen bereits abgeholt und zum Bestatter gebracht haben. Swinburne war zu klein für eine richtige Leichenhalle, weshalb Dr. Munjal sein Labor auch bei sich zu Hause hatte – gewiss zur großen Begeisterung der Nachbarn.

»Ich will wetten, dass es dort spukt«, sagte LaRue. »All die Männer, die dein Dad aufgeschlitzt hat.«

»LaRue! Das ist widerlich!« Caroline war wirklich bestürzt. Ich wollte erklären, dass ein toter Körper sich nicht von einem lebenden unterscheidet, abgesehen davon, dass er nicht sprechen und einem sagen kann, wo das Problem lag. Das muss man sich von anderen Hinweisen herleiten. All die Organe, Knochen, das Blut und das Muskelgewebe – es waren exakt die gleichen Knochen, das Blut und die Organe, die auch Caroline und LaRue gerade in sich trugen. Zudem waren die meisten Menschen, die Dr. Munjal untersuchte, nicht ermordet worden, daher gab es eigentlich gar keinen Grund, sich so aufzuregen.

LaRue rüttelte am Türknauf. Offensichtlich ging sie davon aus, dass abgesperrt sein müsste, doch die Tür öffnete sich knarrend, woraufhin sie kreischend einen Satz zurückmachte und gleich darauf kicherte.

»Na los, geh schon«, fuhr Caroline sie an. »Du wolltest doch unbedingt rein, also mach.«

»Myrtle zuerst«, sagte LaRue.

Als ich eintrat, fiel mir sofort der Geruch nach Desinfektionsmittel auf und der unverkennbare … nun, das einzig Treffende ist: Gestank der Verwesung. Im Kutschenhaus brannten keine Lampen, doch die großen Fenster ließen ausreichend Tageslicht ein, selbst an einem wolkenverhangenen Tag. Caroline hatte behauptet, es gäbe hier keine Leiche, doch auf dem Untersuchungstisch lag etwas unter einem weißen Tuch, von dem ein unheilvolles Sirren ausging. Mit enger Brust trat ich vorsichtig näher. Es war nichts anderes als die Frösche in meinem Biologiebuch. Genau wie ein Hühnchen auf dem Esstisch unserer Köchin, sagte ich mir.

Lieber Leser, an dieser Stelle muss ich eine Anmerkung darüber machen, wie wichtig es ist, die eigene Beobachtungsgabe nicht nur für die Welt der Natur zu schärfen, sondern auch für die wesentlich kryptischere menschliche Natur. Soll heißen: Ich hätte wissen sollen, was gleich geschah. Allerdings freute ich mich so darüber, dass mein Plan, in Dr. Munjals Büro zu gelangen, aufgegangen war, ich bemerkte nicht einmal, dass die beiden anderen draußen geblieben waren. Dann hörte ich hinter mir Stoff rascheln, gefolgt von einem gackernden Lachen. Als ich mich erschrocken umdrehte, sah ich, dass man das Trauerkostüm über die Schwelle geworfen hatte.

»Bitte, Myrtle Makaber«, rief LaRue von der Tür aus. »Viel Spaß mit den anderen Leichenfledderern.« Sie knallte die Tür zu, die sich mit einem beunruhigenden Klicken schloss.

Ich rannte hin und zog am Knauf, doch die Tür wollte sich nicht rühren. Sie hatten mich eingeschlossen.

Der Ehrlichkeit halber muss ich meine Leser daran erinnern, dass ich mir diese Suppe selbst eingebrockt hatte. Dennoch will ich meine Behauptung von vorhin wiederholen, nämlich dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten. Jenseits meiner wildesten Hoffnungen für meine Mission, hatte ich nun die Gelegenheit, die Halle gründlich zu untersuchen. Daher machte ich mich, alles andere als beunruhigt, sofort an die Arbeit. Ich blätterte in den Papieren auf Dr. Munjals Schreibpult, dem Untersuchungstisch eisern den Rücken zugekehrt, und gab mein Bestes, meine Nase aus allem herauszuhalten, was nichts mit Miss Wodehouses Tod zu tun hatte. Doch ich wage zu behaupten, dass es selbst Caroline schwergefallen wäre, einer Akte zu widerstehen, auf der in fetten roten Buchstaben ARSEN oder ENTHAUPTET? (mit Fragezeichen) stand.

Natürlich wurde ich die Vorstellung einer Enthauptung nicht so leicht wieder los, sobald sie mir erst im Kopf herumspukte (das soll kein Wortspiel sein!). Wegen der Laborgerüche atmete ich flach durch den Mund und schon bald war mein eigener Atem das Einzige, was ich noch hören konnte. Das und das seltsame Sirren, das lauter zu werden schien. Sicher war dieser Gestank schlimmer, als er hätte sein sollen – in einem leeren Raum. Unwillkürlich warf ich einen verstohlenen Blick über die Schulter. Wären das dort auf dem Untersuchungstisch nur Handtücher, warum sollten sie abgedeckt sein? Und war dieser Haufen nicht verdächtig kurz? Kurz wie ein kopfloser Körper vielleicht?

»Konzentriere dich, Myrtle.« Ich war wegen Miss Wodehouses Bericht hier. Also griff ich über den Schreibtisch nach noch mehr Mappen und gab acht, den wundervollen Briefbeschwerer in Form eines Totenschädels (ich ging davon aus, dass es lediglich eine Nachbildung war) nicht zu verrutschen, doch auch hier fand sich keine Akte über Miss Wodehouse. Dr. Munjal hatte die Schreibtischschubladen unverschlossen gelassen – also wirklich, hielt denn jeder Verbrechen in Swinburne für undenkbar? –, doch darin befanden sich hauptsächlich blanke Seiten und Füllerfedern.

An den Schreibtisch gelehnt, tippte ich mit dem Finger gegen meine Lippen. Ich musste diesen Befund finden. Du meine Güte, dieser Gestank wurde immer intensiver. Mein Hals brannte vom Antiseptikum, das hier in der Luft hing, und allmählich wurde es dunkler, weil düstere Wolken aufzogen. Ich blickte auf meine Uhr. Es war nach drei Uhr nachmittags. Die Langweilerinnen wussten, dass Miss Judson mich um vier abholen würde – gewiss würden sie mich vorher herauslassen.

Ich drehte noch eine Runde durch die Leichenhalle. Unter den großen Fenstern an der Rückseite befand sich eine Werkbank voller Apparate und Proben, einschließlich eines prächtigen Mikroskops, schicker noch als das von Mum, mit einem schweren Messinggehäuse und einem Koffer voll austauschbarer Linsen. Es war das Labor meiner Träume und ich hatte noch fast eine Stunde, um es zu erforschen. Hätte nur dieser Untersuchungstisch meine Blicke nicht immer wieder wie magisch angezogen. Er schien mir in den Nacken zu hauchen und mich zu necken.

Vielleicht würde sich ENTHAUPTET? als weniger große Ablenkung erweisen. Ich legte die Akte neben die Fenster auf die Werkbank und schlug sie auf. Enttäuschenderweise handelte es sich lediglich um eine Reihe banaler Protokolle, wie etwa einen alten Brief vom Schofield College und eine Bestellung von Objektträgern für das Mikroskop. Kein Kopfloser, nicht mal jemand, der annähernd den Kopf verloren hatte. Während ich alles Langweilige überblätterte, fiel mir das Wort Ambrose auf, hingekritzelt auf die Ecke einer Seite. Konnte damit Mr Ambrose, der Jurist, gemeint sein? Er war ein Freund von Vater – und Miss Wodehouses Anwalt. Ich zog das Blatt aus der Akte. Es stellte sich als der Obduktionsbefund für jemanden heraus, der 1887 gestorben war (nicht durch Enthauptung), im selben Jahr wie Mum. Vielleicht einer von Mr Ambroses Klienten? Ich las weiter.

Harold Cartwright, 67, tot aufgefunden in seinem Bett infolge von aufgetretenen Komplikationen in Zusammenhang mit Wassersucht – eine Krankheit, bei der sich Flüssigkeiten im Körpergewebe ansammeln. Allerdings muss es eine Autopsie gegeben haben, denn unter »Offizielle Todesursache« stand: »Vergiftung durch extrem hohe Dosis Digitalis«. Gift. Von Digitalis hatte ich schon gehört – es war ein Medikament gegen Wassersucht, daher war es nicht verwunderlich, dass der Doktor es gefunden hatte. Doch offenbar hatte er eine tödliche Überdosis festgestellt. So interessant das auch war, half es mir bei Miss Wodehouse nicht weiter. Seufzend legte ich alles zurück in die Mappe.

Auf dem Ordner landete eine Fliege, grün, dick und haarig. Ich schlug nach ihr.

Wo blieb Miss Judson?

Wo waren die Langweilerinnen?

Wo, um Himmels willen, steckte Dr. Munjal? Ein entferntes Donnergrollen untermalte meine Überlegungen.

Dann kam mir ein grässlicher Gedanke.

Was wenn Miss Judson schon dagewesen war, um mich abzuholen, und LaRue und Caroline ihr aufgetischt hatten, dass ich mich gelangweilt und bereits verabschiedet hätte? Hätte sie ihnen geglaubt? Obwohl ich mir allergrößte Mühe gab, die Regeln zu umgehen, die Vater für mich aufstellte, kam es äußerst selten vor, dass ich Miss Judson nicht gehorchte. Allein die Vorstellung, sie könnte annehmen, ich wäre ohne ihre Erlaubnis einfach früher gegangen, brannte mir schlimmer im Hals als der entsetzliche Gestank. Ich sank zu Boden und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Neben mir landete noch eine Fliege, als wäre sie genauso unentschlossen wie ich. Vermutlich waren diese Insekten eine Art Berufsrisiko.

Nachdem ich einige angespannte Augenblicke lang geschmollt hatte, hielt ich es nicht länger aus. Ich gab meiner – ja, ich nenne es beim Namen – makabren Neugier nach. Ich stand auf und schlich zum Untersuchungstisch. Noch mehr Wolken hatten sich aufgetürmt und Schatten bedeckten die Arbeitsflächen und medizinischen Instrumente. Die Probengläser im Fenster sahen aus wie schreckliche Marionetten, die sich für ihren Auftritt bereithielten.

Der Tisch reichte mir bis an die Brust, bestand aus weißer Emaille mit einer runden, erhöhten Kante, die mich an Miss Wodehouses berüchtigte Badewanne denken ließ. Ich wollte wissen, was unter diesem Laken war, und gleichzeitig auch nicht. Ich atmete tief durch den Mund ein. Was ich bemerkte: die Länge des Umrisses auf dem Tisch (etwa 1,50 Meter), der Zustand des Lakens (sauber), die erhöhte Intensität des Geruchs aus dieser Nähe (Sie machen sich keine Vorstellung!), das schlimme Sirren der Fliegen, die überall zu sein schienen. Ich trat ans hintere Ende des Tischs – das Fußende, wie ich hoffte – und hob das Laken vorsichtig an der Ecke an.

Darunter war Fleisch. Nicht im metaphorischen Sinne. Im Sinne von »viel zu viel Geld beim Metzger ausgegeben«, nämlich eine große hässliche Hammelseite, noch nicht in Keulen und Koteletts geschnitten. Wie Nebel stieg der Gestank nun auf. Überall sirrten und krabbelten und nisteten Fliegen im Fleisch. Ich schluckte schwer, begriff aber sofort. Nach dem Tod können verschiedene Insekten eine Leiche befallen, und offenbar studierte Dr. Munjal dieses Verhalten.

Noch immer hielt ich die Ecke des Lakens in der Hand, als ich hörte, wie jemand die Tür aufsperrte, und im Raum das gelbe Flackerlicht der elektrischen Lampen zu Leben erwachte.

»Was tun Sie hier?«, verlangte eine Stimme zu wissen.

Als ich herumwirbelte, sah ich mich dem finster dreinblickenden (und mit einem prächtigen Schnurrbart geschmückten) Dr. Vikram Munjal gegenüber.

11Lieber Leser, hierbei handelte es sich weder um Musikinstrumente noch irgendetwas Exotisches, sondern einfach um geknotete Verschlüsse aus Seidenkord.

12Kaiserin von Indien

Mord im Gewächshaus

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