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4 Post Mortem

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Die Post-Mortem-Untersuchung, auch Autopsie oder Obduktion genannt, erfordert die nötige Begabung und Erfahrung, sowohl die medizinischen als auch die kriminalistischen Hinweise zu interpretieren, zu kombinieren und die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Manchmal liegt zwischen einem Mord und einem natürlichen Tod lediglich der Füllerstrich des Leichenbeschauers. H. M. Hardcastle: Die Grundlagen der Detektion — Ein Handbuch für Amateur- und Berufsermittler, 1893.

Das war mir mit deutlich mehr Begeisterung herausgerutscht, als ich beabsichtigt hatte, ganz zu schweigen von der Lautstärke – mitten in der dramatischen Pause des Verteidigers, als im gesamten Gerichtssaal angespannte, drückende Stille herrschte.

»Was? Welcher Mord? Wer war das?«, schnappte Richter Fox, der schon recht alt und etwas schwerhörig war. »Das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, guter Mann!«

»Ich habe das nicht gesagt«, protestierte der Verteidiger. »Es kam von der Galerie.«

In meinem Eifer war ich aufgesprungen. Nun wollte Miss Judson mich dringend wieder zum Hinsetzen bewegen, weil sich alle Köpfe im Saal – einschließlich des von Cobbs pummeligem Verteidiger – sich zu mir umdrehten. Alle, außer einem: Der Kopf von Vater ruhte nach vorn gesunken in seiner Hand.

»Verzeihen Sie, Euer Ehren«, sagte ich. »Ich meinte nicht diesen Mord. Ich meinte einen anderen.«

Richter Fox kniff die Augen zusammen und sah mich finster an. Andererseits war es auch denkbar, dass er nur Mühe hatte, mich von der Richterbank aus deutlich zu sehen, also winkte ich. Ich bemerkte, wie ein Ruck durch Vater ging. »Was reden Sie da von Mord, mein Kind? Wer sind Sie?«

»Myrtle Hardcastle, Euer Ehren«, antwortete ich prompt, mit einem sehr professionellen Knicks.

»Hardcastle? Das soll doch wohl nicht –«

»Doch, Sir«, sagte ich stolz. »Der Staatsanwalt ist mein Vater.« Aus irgendeinem Grund brachte das alle zum Lachen.

»Myrtle.« Rein technisch betrachtet, war es nicht möglich, meinen Namen zu zischen, doch Miss Judson hatte wütendes Flüstern zu einer Kunst erhoben.

Der Richter rutschte unruhig auf seiner Bank hin und her. »Miss Hardcastle, was hat dieser Ausbruch zu bedeuten? Erklären Sie sich.«

»Es tut mir sehr leid, Sir. Ich habe mich von dem Prozess mitreißen lassen. Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Schon recht, schon recht«, sagte der Richter. »Trotzdem haben Sie deutlich gesagt: nicht dieser Mord, sondern ein anderer. Von welchem Mord ist die Rede, wenn nicht von demjenigen, der uns heute beschäftigt?«

Ich errötete, blieb aber standhaft. »Der an meiner Nachbarin, Sir.«

Diesmal verließ Vater seinen Tisch. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Euer Ehren. Meine Tochter und ihre Gouvernante wollten gerade gehen. Ich versichere Euch, dass –«

»Ja, ja.« Ungeduldig winkte der Richter ab. »Doch wovon in aller Herrgotts Namen redet sie? Arbeiten Sie im Augenblick noch an einem anderen Fall? Ihre Nachbarin?«

»Wenn ich hinunterkommen darf, kann ich alles erklären«, schlug ich hilfsbereit vor. Ein Richter könnte sicherlich eine Untersuchung anordnen.

Die Lippen des Richters zuckten und es dauerte lange, bis er antwortete. »Nein, Miss Hardcastle, das wird nicht nötig sein. Herr Staatsanwalt, wir reden nach der Verhandlung darüber.«

»Danke, Euer Ehren. Bitte vielmals um Entschuldigung.«

»Miss Hardcastle, wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir uns dann weiter mit diesem Mord beschäftigen?«

»Einspruch!«, rief der Verteidiger, bevor ich antworten konnte.

»Abgewiesen«, entgegnete Richter Fox müde. »Miss Hardcastle, was sagen Sie?«

»Oh, natürlich, Euer Ehren. Fahren Sie fort.«

»Danke«, sagte der Richter. »Verteidiger, rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf.« Der Richter schlug mit seinem Hammer aufs Pult und Miss Judson räumte hastig alles zusammen, bevor sie mich praktisch aus der Galerie schubste.

Ich war in Ungnade gefallen. Das war mir klar, sobald Miss Judson mich ohne ein einziges Wort aus dem Gerichtssaal und die Treppe hinab zum Kutschstand brachte, um dort unsere Räder abzuholen. Ich fürchtete mich ein wenig davor, sie anzusehen, doch als sie auf ihr Rad stieg, warf ich ihr schließlich doch einen Blick zu. Unter ihrem Strohhut war ihr Gesicht feuerrot. War sie in Verlegenheit? Oder wütend?

»Aber der Richter –«, setzte ich an.

»Nach Hause.« Drohend zeigte sie in die entsprechende Richtung. Schweigend radelte ich also nach Gravesend und überlegte, warum sie so verärgert war. Ich hatte die Verhandlung nicht absichtlich stören wollen und der Richter hatte ja auch nicht sie aufgerufen. Außerdem, was hätte ich schon anderes tun sollen, wenn er mir doch eine Frage gestellt hatte?

Vater würde erst spät nach Hause kommen. Er hatte uns eine Nachricht geschickt, dass er im Club mit einem anderen Anwalt zu Abend essen würde. Es war schon seit Tagen geplant, dennoch fühlte es sich wie ein unverdienter Tadel an. Mein kaltes Abendessen nahm ich schmollend in der Küche ein, inmitten eines verstreuten Sammelsuriums an Messingarmaturen und losen Teilen des gusseisernen Herds, den die Köchin in ihrem andauernden Kampf darum, seine Leistung zu optimieren, einmal mehr auseinandergenommen hatte. Der Herd schien jedoch auch dieses Mal zu gewinnen.

»Ich habe Vaters Prozess ruiniert«, sagte ich.

Schnaufend wie eine Dampflok kroch die Köchin aus der Ofenröhre und brachte zuletzt ihr fettverschmiertes und gerötetes Gesicht zum Vorschein. Sie sah aus wie ein Kaminkehrer. »Ruiniert? Pah. Übertreiben Sie mal nicht.« Sie griff nach ihrem Schraubschlüssel und versetzte dem Gehäuse einige besorgniserregende Schläge, die unmöglich etwas verbessern konnten.

Der Taufname unserer Köchin lautete Harriet Stansberry, obwohl ich noch nie erlebt hatte, dass jemand sie anders als mit »Köchin« angesprochen hätte. Ich war schon sechs, als mir bewusst wurde, dass sie überhaupt noch einen anderen Namen hatte. Vaters Lieblingssüßspeise war ein Gericht, das wir Stansberry-Pastete nannten, und ich hatte eine ganze Woche botanischer Verwirrung ertragen müssen, weil ich diese mir unbekannte Stansberry-Beere (denn was konnte es anderes sein, steckten doch eindeutig Beeren in diesem Kuchen) zu klassifizieren. Jedoch fand ich sie in keinem Bestimmungsbuch, keinem Lexikon und auch keinem Rezept, das ich aufstöbern konnte.10 Trotz ihres Kleinkriegs mit dem Herd waren die Süßspeisen von Köchin ein Gedicht, dafür fiel ihr Zuspruch bisweilen so kalt wie ihre Abendessen aus.

»Er arbeitet doch häufig spät«, sagte sie nun. »Das heut muss nicht Ihre Schuld sein.«

»Sie waren nicht dabei«, sagte ich und stocherte bedrückt in dem kalten Stück Schinken herum. »Sie haben den Richter nicht erlebt.«

Als Vater endlich nach Hause kam, lange nachdem ich eigentlich schon im Bett hätte sein sollen, rief er sofort Miss Judson zu sich ins Arbeitszimmer. Das war in der Tat sehr schlimm. Wenn ich wirklich in Schwierigkeiten steckte, war es immer Miss Judson, die sich dafür einen Vortrag anhören musste. Einmal hatte ich den Fehler gemacht, mich zu ihrer Verteidigung einzumischen, daher wusste ich es nun besser und platzte nicht hinein, um mich für sie starkzumachen. Also lauschte ich stattdessen vom Wasserklosett hinter Vaters Arbeitszimmer aus. Die Wand war praktischerweise (oder ungünstigerweise, je nachdem wie man es betrachtete) dünn und da er die Stimme auf Gerichtssaallautstärke erhoben hatte, war es kinderleicht, jedes seiner Worte zu verstehen.

»Für den heutigen Vorfall gibt es keine Entschuldigung«, fing er an. Ging er auf und ab, wie er es auch manchmal vor Gericht tat? Oder stand er fest wie ein Fels am Schreibtisch? »Ich werde Ihnen ersparen zu beschreiben, wie unwürdig es ist, vom königlichen Hofrichter für das Benehmen meiner Tochter im Gerichtssaal gerügt zu werden.«

»Oje«, sagte Miss Judson. Ich zog in meinem Versteck den Kopf ein, dankbar dafür, dass keiner von beiden mich sehen konnte. »Mr Hardcastle, ich bin sicher, es war nicht Myrtles Absicht, das Verfahren zu stören, erst recht nicht, Sie zu blamieren.«

»Es ist nie ihre Absicht!«, rief Vater. »Trotzdem hat sie ein wahres Talent dafür. Allmählich scheint es mir kein Einzelfall mehr zu sein, sondern ein Symptom für ein weit größeres Problem.«

»Ach ja, Sir?« Einen hoffnungsvollen Moment lang dachte ich, sie würde vielleicht die sokratische Methode bei Vater anwenden, doch diese Hoffnung wurde schnell zunichte gemacht.

»Im Morgengrauen in der Nachbarschaft herumzuschnüffeln?« Sein scharfer Tonfall ließ mich auf dem Waschschrank sogar noch kleiner zusammenschrumpfen. »Einen ganzen Haushalt aus dem Schlaf zu reißen wegen nichts anderem als dem Verhalten einer Katze? Und dann auch noch diese Verhandlung zu stören! Andere Mädchen tun so etwas nicht! Wie erklären Sie dieses Verhalten, Miss Judson?«

Miss Judson sprach so deutlich und mit so viel Autorität wie ein Anwalt. »Zunächst einmal ist Myrtle nicht wie andere Mädchen. Sie ist ein einzigartiges Individuum und Ihre Tochter. Ich bezweifle, dass Sie irgendein anderes Kind von zwölf Jahren mit einem solch scharfen und begierigen Verstand finden.« Als ich diese aufbauende Charaktereinschätzung hörte, setzte ich mich gleich ein wenig aufrechter.

»Doch dieses Interesse für Tod und Mord – das kann nicht normal sein.«

»Sir, ich möchte Sie dringend bitten, das von einer anderen Warte zu sehen.« Miss Judsons Tonfall war etwas milder geworden und ich musste das Ohr gegen die Wandvertäfelung drücken, um weiter zuhören zu können. »Sie ist ein sensibles Mädchen, das schon in sehr jungen Jahren mit dem Tod konfrontiert wurde. Sie selbst haben sich kurz nach dem Verlust von Mrs Hardcastle für das Gebiet der Strafverfolgung entschieden. Überrascht es Sie, dass Myrtle Ihnen nacheifert?«

»Geben Sie mir die Schuld für ihr makabres Verhalten?«

»Es ist nicht makaber! Sie interessiert sich für Ihre Arbeit und, wenn ich das sagen darf, Sir, für die Medizinstudien ihrer Mutter. Beides hat sie zu einer einzigartigen Leidenschaft vereint, was man von den meisten jungen Menschen nicht behaupten kann. Wussten Sie mit zwölf, dass Sie einmal Anwalt werden wollen?«

Ich hörte einen dumpfen Knall, als Vater sich schwer in seinen Bürostuhl fallen ließ. »Ich wusste nicht einmal mit dreißig genau, ob ich wirklich Anwalt werden möchte«, gab er zu. »Doch Mädchen in Myrtles Alter sollten sticken, auf Ponys reiten und sich den Kopf über Kleider zerbrechen – nicht über tote Nachbarinnen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie dem umgehend einen Riegel vorschieben.«

Ich stellte mir vor, wie Miss Judson ihn mit ihrem stahlharten, unnachgiebigen Blick bedachte, und hielt den Atem an, während ich ihre Reaktion abwartete. Doch die Stille in Vaters Arbeitszimmer war so kalt und greifbar geworden, dass sie in den Ohren schmerzte. Warum ließ sie sich so viel Zeit?

»Nun, Sir, was immer Sie für das Beste halten. Selbstverständlich«, sagte Miss Judson schließlich. Was hatte das zu bedeuten? Ich hörte, wie Vaters Stuhl zurückgeschoben wurde.

»Miss Judson, morgen früh möchte ich einen überarbeiteten Stundenplan für Myrtle auf meinem Schreibtisch haben, ebenso wie Maßnahmen, damit sie mehr Zeit mit Mädchen ihres Alters verbringt. Herrje, das Leben besteht aus mehr als Kriminologie! Höchste Zeit, dass sie das lernt.«

Der nächste Morgen war fahl und verregnet, ein düsteres Nieseln vernichtete alle Beweise, die im Liliengarten noch übrig waren. Redgraves war regelrecht abgeriegelt und die Hausgemeinschaft, die verblieben war, regte sich nicht. Selbst von Peony, die sicherlich fror und hungerte, gab es keine Spur. Unruhig und unzufrieden tigerte ich vor dem Fenster auf und ab.

Da schwang die Tür zum Unterrichtsraum auf und offenbarte Miss Judson mit einem Frühstückstablett. »Bitte«, verkündete sie, als sie mein Tablet ohne Umschweife auf dem Tisch abstellte. »Die Zeitung von heute Morgen. Möge sie diesem Mord-Trara ein Ende machen.«

Eilig schnappte ich mir den Swinburne Boten.

»Eigentlich sollte ich darauf bestehen, dass du zuerst etwas isst«, sagte sie. Frühstück im Unterrichtsraum konnte nur bedeuten, dass ich noch immer in Schwierigkeiten steckte. Da mir die Standpauke, die Vater Miss Judson gehalten hatte, noch allzu deutlich in den Ohren nachhallte, nahm ich gehorsam ein Stück Toast und setzte mich an mein Pult.

Gestärkt von Toast und Tee, lasen wir gemeinsam die Zeitung. Auf der ersten Seite gab es gar nichts Interessantes (zum Glück auch nicht Störung bei hiesigem Mordprozess: Staatsanwalt blamiert), daher blätterten wir zu den Nachrufen. Und dort stießen wir auf einige wenige Zeilen über Minerva Faye Wodehouse, 79, Swinburne, die:

… Mittwochmorgen in ihrem Heim eines natürlichen Todes starb und eine Nichte, Miss Priscilla Wodehouse, Boston, sowie einen Neffen, Mr Giles Northcutt, Swinburne, hinterlässt. Die Beisetzung findet im engsten Kreis am Samstag, 5. August, in der Kapelle St. Agnes statt. Beileidsbekundungen können an den Familiensitz, Gravesend Close 16, geschickt werden. Von Blumengrüßen wird gebeten, Abstand zu nehmen.

»Das ist alles?« Miss Judson klang traurig. »Keine Blumen?«

»Natürlicher Tod? So ein Blödsinn!«

»Hier steht nicht einmal etwas über ihren Garten oder ihr Leben. Genauso gut hätten sie schreiben können: ›Weitere Junggesellin einsam verstorben. Gähn.‹«

»Miss! Bitte konzentrieren Sie sich aufs Wesentliche! Sie werden sie beerdigen«, sagte ich. »Wir müssen etwas unternehmen, bevor es zu spät ist.«

»Was genau schwebt dir denn vor?«

»Beweisen, dass es Mord war, natürlich!« Frustriert wedelte ich mit meinem Toast in der Luft herum und verteilte in hohem Bogen Krümel.

Miss Judson studierte noch immer mit schmalen Lippen die Todesanzeige. »Ich fürchte, wir brauchen etwas Überzeugenderes als die Verdächtigungen einer Zwölfjährigen und ihrer Gouvernante«, sagte sie endlich.

»Dann glauben Sie mir?«

Sie schaute mir fest in die Augen. Ich kam zu dem Schluss, dass sie sich in diesem Moment noch einmal das Gespräch mit Vater vom Abend zuvor durch den Kopf gehen ließ, von dem ich offiziell ja nichts wusste. »Immer.«

Ich atmete auf. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte ich. »Als Erstes müssen wir den Bericht des Gerichtsmediziners in die Finger bekommen. Ohne kann der Leichenbeschauer keinen Totenschein ausgestellt haben.«

»Das wird nicht leicht.«

Ich tippte mit den Fingern auf die Zeitung. »Oh, aber ich habe einen Plan. Selbst Vater wird ihn mögen.«

10Es stellte sich als eine Pastete, gefüllt mit Äpfeln, Erdbeeren und Rhabarber, heraus, und die schmeckte ziemlich gut.

Mord im Gewächshaus

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