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28. Januar 2012, REGINE
Die Gäste, die hier im Februar auftauchen, kommen wegen der Robben. Ausgerechnet zu einer Jahreszeit, wenn der Wind direkt vom Nordpol über uns hinwegbläst, werden die Robbenbabys geboren. Zu Hunderten liegen die Mütter am Strand, eine steingraue Masse, die sich beim Näherkommen als Ansammlung wuchtiger Körper entpuppt. Ihre Jungen bleiben meist im Dünengras versteckt und schleppen sich nur zu ihren Müttern, wenn sie hungrig sind.
Gestern traf eine Familie mit zwei Teenagern bei uns ein, allesamt Brillenträger, groß und stämmig gebaut. Heute wecken sie mich schon um sieben, als sie mit ihren schweren Stiefeln die Treppen herunterpoltern, um ihren Rottweiler auszuführen. Zuerst hatte ich geglaubt, die Teenager seien ein junges Ehepaar; beinahe hätte ich ihnen das Doppelzimmer statt das mit den Einzelbetten gegeben. Sie kicherten und klärten mich auf. Meist spricht die Mutter, laut und mit klagender Stimme. Die Tochter lächelt gequält durch ihre Zahnspange, Vater und Sohn tauschen Blicke aus und schweigen. Wie ich beim Servieren erfahre, ist der junge Mann ein mathematisches Genie seines Schuljahrgangs. Dafür scheinen seine Emotionen tief im Inneren vergraben zu sein.
Neben mir ertönt ein Aufschnarchen, dann wälzt Joe sich zu mir herum und zieht sich das Federbett wie eine Kapuze über den Kopf. Dick eingepackt muss er sein, und Wollsocken braucht er, sonst schläft er nicht. Ein Hauch von Weindunst dringt in meine Nase.
Gestern Abend hatte die Mannschaft der Auffangstation ihr wöchentliches Treffen im Wild Man, unserem Pub im Dorf. Ich bin erleichtert, dass Joe sich so rasch eingearbeitet hat und unter den Kollegen so beliebt ist. Er ist spät ins Bett gekommen, ich werde ihn schlafen lassen. Wenn er einen frühen Termin hat, sollte er sich selbst einen Wecker stellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er verschläft, aber vielleicht lernt er endlich daraus. Später wird er mir vermutlich Vorwürfe machen. Ich betrachte sein schmales Gesicht, seine geöffneten Lippen, und berühre seine Wange federleicht, worauf sie zuckt.
Draußen verklingen die Schritte und Stimmen der Gäste, dann herrscht Stille, als sei die Welt in Watte gehüllt. Noch bevor ich hinausschaue, weiß ich, dass es geschneit hat. Die dicken Vorhänge lasse ich geschlossen, obwohl von draußen ohnehin kein Licht hereindringen und Joe wecken könnte. Ich schlüpfe in Jeans und Wollpulli und schleiche auf Hausschuhen hinunter in die Küche.
Zwei schwarze Wirbelwinde stürzen winselnd auf mich zu. Ihre Körper sind warm und geschmeidig vom Liegen vor dem großen Gasherd, der Seele meiner Küche. An die Wand gehockt lasse ich sie um Körperkontakt mit mir buhlen. Meist gewinnt Poppy, weil ihre Tochter Ruby zu rücksichtsvoll ist und sich fortdrängen lässt.
Ein englisches Frühstück läuft zu einer riesigen Mahlzeit auf, wenn Gäste wie unsere derzeitigen sämtliche Beilagen auf der Bestellliste ankreuzen. Mir ist unbegreiflich, wie manche Leute solche Mengen an Würstchen, geschmortem Speck, Spiegelei auf in Butter oder Schmalz gebratenem Toastbrot, gebackenen Bohnen, Champignons und Tomaten am Morgen verspeisen können, ohne dass ihr Magen rebelliert. Ich zerlasse Butter in einer Auflaufform, fülle Würstchen, Speck, Pilze und Tomaten hinein, schiebe alles in den Ofen und gieße mir eine Tasse grünen Tee auf.
„Nachher gehen wir zu den Robben“, erkläre ich den Hunden, die mich aufmerksam betrachten und die Ohren aufstellen. Mit raschen Blicken zwischen Kühlschrank und mir teilen sie mir mit, dass sie andere Prioritäten haben. Zuerst ist ihr Frühstück an der Reihe, bestehend aus Joghurt, Haferflocken und Glukosamin-Tabletten, weil sie schon ältere Damen sind. Sie lieben unsere Frühstückspension, weil sie übriggelassene Wurststücken oder Speckrinden fressen dürfen.
„Die beiden werden mich sicher überleben, bei all der Fürsorge, die sie von dir bekommen“, scherzt Joe oft.
„Auf alle Fälle trinken sie weniger Alkohol als du“, necke ich ihn dann.
Manchmal erinnere ich mich. An die Funken, die wie Feuerwerk zwischen uns aufschossen. An sein Lachen, das mir eine Gänsehaut über den Körper jagte und mich in seine Arme lockte. Obwohl er zum Greifen nah ist, Teil meines Alltags, meines Lebens, vermisse ich diesen Teil von ihm. Vielleicht ist das, was im Lauf der Zeit mit Liebe passiert. Mir kommt es so vor, als sei der Joe von früher einer neuen, kühlen Version gewichen. Wir gehen vorsichtig miteinander um, trauen einander nicht so recht. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich ihm ausweiche, obwohl ich ihm nahe sein will. Und ich grübele, warum er oft so erloschen erscheint.
Ob es an mir liegt? Wie bringe ich bloß dieses Bittere in mir zum Schweigen? Gelegentlich ertappe ich ihn dabei, dass er mich wie eine Fremde mustert. Als würde er sich fragen, wie um Gottes Willen er hierher geraten ist, in dieses zugige alte Haus am Meer, zu dieser Frau jenseits ihrer besten Jahre, in dieses raue Land. Zwischen uns steckt ein Keil wie ein schmerzhafter Dorn, zu tief, um ihn herauszupressen.
Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Ein Leben mit ihm war immer genau das, wonach ich mich sehnte. Jetzt ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich mir ausmale, nur mit den Hunden zu leben. Keine Kränkungen mehr, kein Groll, dafür bedingungslose Zuneigung. Vielleicht wäre ich weniger einsam ohne ihn. War es ein Fehler, ihn zu mir zu holen?
Joe betritt die Küche, nachdem ich das schmutzige Geschirr im Frühstücksraum schon längst aufgeräumt habe, und sinkt auf seinen Stuhl am Tisch. Manchmal hilft er mir beim Bewirten der Gäste, lässt seinen Charme spielen und bringt sie mit seinen reizenden Fehlern im Englischen zum Lachen. Heute aber, das sehe ich gleich, ist ein schlechter Morgen. Obwohl ein Duftgemisch von Toast, Bratwurst und Kaffee im Raum schwebt, den er sonst unwiderstehlich findet, wirkt er matt und uninteressiert.
„Ich habe verschlafen“, brummt er, ohne aufzublicken. Vergeblich versuchen die Hunde, durch Anstupsen mit den Schnauzen seine Aufmerksamkeit zu erregen. In sich zusammengesunken starrt er vor sich hin und schiebt sie fort. Ich stelle eine Tasse schwarzen Tee mit einem Schuss Milch vor ihn auf den Tisch.
„Toast oder Müsli?“
„Die warten bestimmt schon auf mich. Warum hast du mich nicht geweckt“, entgegnet er mürrisch und streckt blindlings eine Hand nach mir aus. Ich drücke sie kurz und fange schweigend an, die Spülmaschine zu füllen.
„Sprichst du nicht mehr mit mir?“
Diesmal kreuzen sich unsere Blicke. Sein graumeliertes Haar steht in alle Richtungen, kleine Tränensäcke und um den Mund eingegrabene Falten beherrschen das unrasierte Gesicht. Das alles glättet sich im Lauf des Tages. Aber der Morgen zeigt die Wahrheit. Wir werden beide älter. Ich sollte eine weniger grelle Birne in die Hängelampe über dem Tisch einschrauben, auch für mich.
Das Telefon klingelt und ich nehme ab, obwohl ich weiß, dass es für ihn ist.
„Moment, hier ist er.“ Ich reiche ihm den Hörer.
„Ja, tut mir Leid“, sagt er. „Der schwarze Schwan? Keine Panik. Ich bin gleich drüben.“
Sein Englisch wirkt immer noch hart und deutsch. Er steht auf, gibt mir den Hörer zurück, leert die Tasse mit dem kochend heißen Tee in einem Zug und greift zur Wachsjacke, die an der Tür hängt.
„Soll ich dir nicht noch eben ein Käsebrot zum Mitnehmen machen?“ frage ich.
Er schüttelt den Kopf und wirft sich die Jacke über. Das Telefon klingelt erneut, und diesmal ist er schneller als ich.
„Was gibt’s denn noch?“ murmelt er in die Sprechmuschel. Dann verändert sich sein Gesicht, er runzelt die Stirn, presst die Lippen zusammen und hält den Hörer vom Gesicht weg, als habe er sich das Ohr verbrannt.
„Ja, da sind Sie richtig verbunden. Hier ist sie.“, sagt er auf Deutsch und hält mir den Hörer entgegen. Er beobachtet mich scharf, während ich das Gespräch übernehme. Mein Magen krampft sich ein wenig zusammen.