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Ich drucke den Zeitungsbericht aus und betrachte eingehend das dort eingefügte Foto von Julia. Ihr Gesicht ist noch so kindlich und weich, aber die schwermütigen Augen und das gezwungene Lächeln erzählen eine andere Geschichte. Wie einen Schutzschild umklammert sie ihr Cello.

Mona ist also unerreichbar. Das ist mal wieder typisch meine Schwester. Sie hat sich schon immer erfolgreich vor Verantwortung gedrückt. Unsere Mutter hat es ihr leicht gemacht. Die Ärmste, wie musste sie unter der garstigen Jüngeren leiden. Wenn unsere Eltern gewusst hätten … Aber ich stand auf verlorenem Posten. Mir traute man alles Üble zu, und Mona war die Unschuld in Person.

Joe hat keine Ahnung, dass ich vorgestern eine Email von Julia erhalten hatte. Ich überfliege den Text, obwohl ich ganze Passagen auswendig weiß.

Tante Regine, du bist meine letzte Hoffnung. Ich habe eine fürchterliche Schweinerei entdeckt, die mein Leben komplett auf den Kopf stellt. Bin total verzweifelt, und kein Mensch aus meiner Familie ist da, um mir zu helfen. Nur du.

Trotz allem – wir waren doch immer ein Team, weißt du noch? Darum flehe ich dich an: Ruf mich an, damit ich dir erklären kann, was passiert ist: 089 575390. Du musst zu mir nach München kommen (ich finde, das bist du mir schuldig). Ich brauche dich!

Julia

Obwohl ich in Julias Email ihre Verzweiflung gespürt hatte – allein schon auf Grund der Tatsache, dass sie die verhasste Tante nach elf Jahren Schweigen plötzlich anschrieb – hatte ich gezögert zu antworten. Oder vielmehr versuchte ich, die Nachricht zu vergessen. Ich bin Julia nichts schuldig, oder? Ein bisschen unverschämt, mich so unter Druck zu setzen, nachdem sie allen Kontakt abgebrochen hatte. Aber ihr Flehen berührte mich wider Willen und nagte an meinem Gewissen.

Früher einmal war Julia mir nahe wie eine kleine Schwester gewesen, die mir ihre Geheimnisse anvertraute. Bis ich mir dieses Vertrauen von einem Moment zum anderen verscherzte. Aber meine Güte, wir alle machen Mist, und sie hätte lernen müssen zu verzeihen. So wie ich.

Auf der anderen Seite, wisperte mein Gewissen, könnte dies eine Chance sein, den Mist, den ich gebaut hatte, wieder gutzumachen. Ich war nicht umsonst katholisch aufgewachsen, um an so etwas wie Buße zu denken.

Zwei Tage lang kämpfte ich mit mir, ob ich Julia anrufen sollte. Und jetzt ist es zu spät.

Joe wird außer sich sein, doch je länger ich zögere, desto größere Bedenken werde ich haben. Das Flugticket online zu buchen ist schnell erledigt. Von Norwich fliege ich mit KLM über Amsterdam nach München, dann muss ich nicht erst zum Flughafen nach London fahren. Ich staune über mich, nachdem ich doch in den letzten Jahren jeden Gedanken an meine Heimatstadt ausgeschaltet habe. Ich rufe Karen Glashauser auf ihrem Handy an.

„Morgen Abend gegen acht Uhr werde ich in München sein.“

„Gott sei Dank!“ Sie klingt atemlos. „Haben Sie etwas zu schreiben? Ich muss Ihnen ja noch die Adresse geben.“

Julias Wohnung befindet sich in Schwabing. Ich male sie mir aus, gestalte sie aus mit Erinnerungen an mein damaliges Apartment.

Aus unserem Küchenradio tönt soeben der Wetterbericht, der Sprecher klingt panisch. Schneefall ist in England immer von dem Beigeschmack einer Katastrophe begleitet. Ein einziger Zentimeter Schnee, und die Autokolonnen schleichen in Zeitlupe über die Landstraßen. Zwei Zentimeter, und aller Verkehr kommt zum Erliegen. Natürlich besitzt kein Mensch Winterreifen, denn die gelten als kontinentale Notmaßnahme, die hierzulande unnötig ist. Ein paar Minusgrade werden in England bereits als arktische Kälte eingestuft, so verwöhnt sind die Leute. Das erklärt auch, warum viele alte Häuser wie unseres nur einfach verglaste Fenster besitzen, was andererseits, zusammen mit den verformten Holzrahmen, für einen gesunden Luftaustausch sorgt.

In München herrscht klirrender Frost von Minus fünfzehn Grad, erfahre ich im Internet. Nicht schwierig, bei diesen Temperaturen draußen zu erfrieren. Was für ein Tod mag das sein? Auf alle Fälle weniger radikal, als sich vor einen Zug zu werfen. Was wird Julia gespürt haben, als sie starb? Was hat sie dazu getrieben, Tabletten zu schlucken, um sich dann erfrieren zu lassen? Fröstelnd sehe ich sie vor mir, am Ufer der Isar liegend, eine bleiche, erstarrte Eisprinzessin.

In Gedanken versunken räume ich die Gästezimmer auf. Besonders Tochter und Sohn haben ein Chaos hinterlassen, auf den Betten ein Wust von Kleidungsstücken, nassen Handtüchern und Unterwäsche. Aus den Steckdosen hängen iPad-Kabel, unter einem Bett liegen Kopfhörer und eine Musikzeitschrift, unter dem anderen eine halbe Tafel Schokolade und eine fettige Papiertüte mit zwei angebissenen Doughnuts. Die Eltern im Zimmer nebenan haben zumindest symbolisch ihr Bett gemacht, das heißt die Überdecke unordentlich darüber ausgebreitet. Ich seufze und häufe das gesamte Bettzeug auf einen Sessel, um das Bett wieder herrichten zu können.

Diese Seite meines Broterwerbs gefällt mir nicht besonders. Am wenigsten, Bad und Toiletten zu reinigen. Aber alles ist besser, als eine Klasse von Dreizehnjährigen unter Kontrolle zu halten. Wann immer mir Zweifel an meiner jetzigen Einkunftsquelle oder an meinem Lebensstil kommen, hilft es, mir die Jahre als Lehrerin in Erinnerung zu rufen. Das Bed & Breakfast deckt die laufenden Unkosten des Hauses. Und nicht zuletzt entfällt das endlose und sinnlose Korrigieren von Oberstufenaufsätzen, mit dem ich mir zahllose Ferien gründlich vermiest habe.

Es hat aufgehört zu schneien. Am Horizont zeichnet sich hinter der schweren Wolkendecke ein Silberstreifen ab. Der Lieblingsspruch meines Vaters „Blut ist dicker als Wasser“ kommt mir in den Sinn, als ich mit den beiden Hunden durch den Schneematsch in Richtung Dünen stapfe. Wenn meine Familie mich braucht, habe ich zur Stelle zu sein. Eine Aufbruchsstimmung, die den grauen Tag erhellt, gekoppelt mit dunklen Vorahnungen, erfüllt mich und beschwingt meine Schritte.

Kalter Plan

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