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Später höre ich Joe zur Haustür hereinkommen. „Wie war dein Tag?“ rufe ich ihm vom Sofa im Wohnzimmer aus zu.

„Ganz gut, nichts Dramatisches.“

Ich höre, wie er in der Küche herumhantiert und Wasser in den Kocher gießt, um sich einen Tee zu machen. Aus dem Radio ertönt die Stimme von Michelle Houssein, die auf BBC Kanal vier Nachrichten verliest.

Soeben habe ich, einer plötzlichen Sehnsucht nach Wärme folgend, ein Feuer im Kamin angezündet, dessen Flammen jetzt über das Eschenholz züngeln. Obwohl es nicht einmal fünf Uhr nachmittags ist, herrscht draußen bereits Dunkelheit, die von keinen Straßenlampen durchbrochen wird.

Diese Jahreszeit ist für mich in Elmhill am schwersten zu ertragen. In einer Stadt wird der Winterhimmel nachts wenigstens künstlich erhellt. Hier herrschen in bedeckten Winternächten absolute Stille und bodenlose Schwärze. Viele Einheimische lieben diese Dunkelheit und verwehren sich gegen die Installation von Straßenlampen.

„Egal, wie dunkel es ist, man sieht immer genug“, schwören sie.

Gäste aus der Stadt aber beklagen sich hin und wieder über die ihnen unheimliche Finsternis und vor allem die Ruhe, wegen der sie nicht schlafen können. Vielleicht, weil sie in dieser Stille nichts von ihren eigenen Geräuschen und Gedanken ablenkt.

Joe sitzt nun nebenan in seinem Büro vor dem Computer und tippt; vermutlich schreibt er Patientenberichte. Als er etwas Unverständliches murmelt, gehe ich zu ihm hinüber. Ich trete hinter ihn, massiere mit Druck seine angespannte Kopfhaut und streiche ihm über die Stirnfalten, bis sie sich glätten. Das wirkt immer. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, den Kopf gegen meinen Bauch gestützt, schließt die Augen, seufzt leise und lässt mich gewähren. Ein Lächeln entspannt sein Gesicht.

„Dem Schwan geht es etwas besser“, murmelt er. „Der Arme hatte einen Köder samt Nylonschnur verschluckt. Was Angler so alles liegenlassen, zum Kotzen!“

Ich massiere seine verhärteten Halsmuskeln, und er stöhnt. Sanft reibe ich über die Schläfen und presse einzelne Stellen auf den Ohrmuscheln, seine sensibelsten Stellen am Kopf.

„Wie schön, dass du ihm helfen konntest.“

Ich küsse seine Wange, ganz in der Nähe des Ohres. Hier duftet es so sehr nach ihm, eine Mischung aus Zimt und Harz. Ich schnuppere und schließe einen Augenblick lang die Augen. Dann hocke ich mich vor ihn, lege die Hände auf seine Schenkel und betrachte sein Gesicht. Er lächelt mich an, in den Augen schimmert Müdigkeit. Der Dreitagebart überzieht seine Wangen mit bläulichen Schatten, die ihn älter erscheinen lassen.

„Ich habe so viel an Julia denken müssen“, flüstere ich. „Es ist unfassbar, dass sie tot sein soll!“

„Es geht mir auch unter die Haut.“ Er streicht mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Schreckliche Geschichte. Aber was können wir tun? Wie gut, dass wir uns haben.“

Ich lächele ihn an.

Er neigt sich vor und küsst meine Stirn. „Was wäre ich ohne dich? Du bist alles, was ich brauche.“

Jetzt der Moment, in dem ich es ihm sagen kann, ohne dass er aufbraust. Ich zögere. Er schaut mich fragend an.

„Und du? Liebst du mich noch? Oder bedauerst du, dass ich hier bin?“

„Wie kannst du so etwas überhaupt denken. Ich liebe dich über alles in der Welt“, sage ich.

„Aber…?“

Natürlich spürt er, dass da noch etwas ist. Ich stehe auf, stelle mich hinter ihn und lege die Hände auf seine Schultern.

„Kein aber, Joe. Es ist nur …“. Ich halte inne und wappne mich. „Du wirst die nächsten paar Tage ohne mich zurechtkommen müssen. Ich … habe für morgen ein Flugticket nach München gebucht. Kannst du tagsüber die Hunde mit hinüber in die Arche nehmen? Für die Gäste ist gesorgt. Die fahren morgen ab. Christine kommt zum Frühstückmachen und Aufräumen.“

Seine Schultern haben sich angespannt. Langsam wendet er sich zu mir um. Seine grünen Augen blitzen vor Zorn.

„Was heißt das, du hast gebucht? Einfach so? Das ist mal wieder typisch für dich! Keinerlei Rücksichtnahme. Wir hatten heute früh ausgemacht, dass wir das erst einmal miteinander besprechen müssen. Oder meinst du, das alles geht mich nichts an?“

Ich trete einen Schritt zurück und mustere ihn. Meine zärtlichen Gefühle sind verflogen.

„Siehst du, ich wusste doch, wie du reagieren würdest. Deshalb habe ich allein entschieden. Tut mir Leid. Ich werde morgen fliegen. Ich muss hinfahren!“

Mit zusammengepressten Lippen schüttelt er den Kopf, bedenkt mich mit einem fassungslosen Blick und wendet sich abrupt dem Bildschirm zu. Sein Rücken bildet jetzt eine schroffe, abweisende Wand, doch ich stelle erleichtert fest, dass sein Ärger mich nicht einschüchtert. Wie wild beginnt er, auf die Tastatur einzuhämmern.

Einen Moment warte ich, dann verlasse ich mit raschen Schritten den Raum. Wenn er sich so verhält, fällt es mir leicht, wegzufahren. Fast bin ich zufrieden über unseren Streit. Wie uneinfühlsam von ihm, diese für mich so wichtige Entscheidung in Frage zu stellen. Ist es so schwer zu verstehen, dass ich in dieser Situation in München gebraucht werde? Womöglich hätte ich gar keinen Flug mehr bekommen, wenn ich bis heute Abend gewartet hätte.

Im Wohnzimmer lege ich ein paar Holzscheite nach. Flammen schießen hoch. Die beiden Hunde folgen mir wie Schatten in den benachbarten Raum, die Bibliothek, die das Feuer erwärmt hat. Unter meinen Schritten knarren die alten Eichendielen, bis ich den abgewetzten Perserteppich erreiche. Ich setze mich an den Mahagonitisch. Ein fremder Besucher würde wahrscheinlich die über den ganzen Tisch ausgebreiteten Notizbücher, Illustrationen und aufeinandergestapelten Reisetagebücher als hoffnungsloses Chaos ansehen. Ich schalte die alte Schreibtischlampe an, deren Glasschirm die Szene in cognacfarbenes Licht taucht, und ziehe den Laptop heran.

All dies hat mir meine Freundin Mira Goldsmith vermacht. Unglaubliche Schätze füllen die hohen Bücherregale, die die Wände bis zu dem riesigen Erkerfenster säumen. Hier befinden sich nicht nur die von ihr gesammelten Botanikbücher aus aller Welt, sondern auch medizinische Werke und Kunstbände, die sie von ihren Eltern und Vorfahren geerbt hat. Monate, wenn nicht Jahre könnte ich in diesem Raum verbringen, ohne mich je zu langweilen.

Mira war der einzige Mensch, der mich niemals einengte. Für sie drehte sich alles um ihre botanischen Forschungen, mit einer kräftigen Prise von Besessenheit. Sie strahlte eine solche Unabhängigkeit von Anderen aus, dass ich sie zu meinem Idol erkor. Eine Art Jane Goodall der exotischen Pflanzen statt der Schimpansen. Warum sie ausgerechnet mich zu ihrer persönlichen Assistentin auserwählte, kann ich bloß als unwahrscheinlichen Glücksfall bezeichnen. Sie besaß ein solches Talent, Interessen und Begeisterung in mir zu wecken, von deren Existenz ich bis dahin nichts geahnt hatte.

Zu Beginn des neuen Milleneums, als ich Mira kennenlernte, ließ ich mich ziellos durch London treiben und versuchte, meinem verkorksten Leben einen Sinn zu geben. Bei einer Krankenschwester namens Sandy hatte ich ein Zimmer gemietet. Einige Monate lang jobbte ich als Supply Teacher und sprang an Schulen ein, wenn Lehrer erkrankt waren. Unverbindlich und jederzeit ablehnbar waren die einzigen Jobkriterien, die mir erträglich schienen.

Nachdem Sandy mich an einem Wochenende nach Kew Gardens, den Royal Botanical Gärten im Süden Londons, mitgenommen hatte, fuhr ich immer öfter an freien Tagen mit der Underground hinaus und verbrachte endlose Stunden in den riesigen Gewächshäusern und Gärten. Ich nahm Kurse in botanischem Aquarellieren und Pflanzenfotografie und überlegte sogar, eine Ausbildung in Gartenbau zu beginnen.

Und eines Tages kam ich in der Cafeteria mit einer Ethnobotanistin namens Mira Goldsmith ins Gespräch, die sich obsessiv mit Nachtschattengewächsen und halluzinogenen Heilpflanzen beschäftigte. Sie sorgte dafür, dass ich einen Job in dem Herbarium bekam. Ich verabschiedete mich vom Unterrichten und stellte fest, dass das Katalogisieren von Pflanzen eine beruhigende Wirkung auf mich ausübte. Unmerklich begann sich mein Leben neu zu ordnen.

Schließlich stieg ich zu Miras Assistentin auf, und so begann mein kurzes, intensives Abenteurerdasein. Mira nahm mich mit auf ihre Reisen, vor allem in den peruanischen Regenwald zu Medizinmännern und Schamanen, um die Heilwirkung der halluzinogenen Ayahuasca-Pflanze zu studieren. Ich allein hätte es nie riskiert, durch Verzehr dieses bräunlichen Pflanzensuds in bewusstseinserweiternde Trance-Zustände zu fallen. Aber wenn eine fast achtzigjährige Dame so eine Prozedur wagte, wollte auch ich kein Feigling sein. Meine Ängstlichkeit schmolz unter dem Einfluss von Miras Mut und Entdeckerfreude dahin.

Leider verbrachten wir nur vier intensive Jahre miteinander: Mira starb im Spätherbst 2007 überraschend an einem Aneurysma, passenderweise in einem der riesigen viktorianischen Gewächshäuser inmitten ihrer geliebten Pflanzen. Dass sie mir ihr Elternhaus in Norfolk vererben würde, das viktorianische Herrenhaus Elmhill, hatte sie vorher nie angedeutet. Hier verbrachten wir viele Wochenenden miteinander, um die von unseren Reisen mitgebrachten Pflanzen und Samen zu studieren und zu fotografieren. Immer wieder bin ich gerührt und verblüfft von ihrem Großmut und der Zuversicht, dass Haus und Garten in meiner Hand nicht verkümmern würden.

Heute hat sich das ständig renovierungsbedürftige Schmuckstück zu einem Geheimtipp unter den Bed & Breakfasts ‚mit rustikalem Charme‘ gemausert. Ich stelle mir vor, dass diese neue Rolle des Hauses die Zustimmung meiner Freundin finden würde.

Und täglich trage ich den Tumi, den sie mir in Peru geschenkt hat, an einer Kette um meinen Hals. Das kleine silberne Schmuckstück erregt bei vielen Leuten Neugier, deshalb bedecke ich es meist mit Kleidung, um Fragen auszuweichen. Mein geheimes Amulett, das mir Stärke schenkt und mich vor bösen Geistern schützt. Eine Spur Mystik, hat Mira mich gelehrt, neutralisiert negative Energien. Ich muss nur daran glauben.

Bis spät in die Nacht übertrage ich Miras in mikroskopisch kleiner Handschrift verfasste Notizen zu ihrem letzten Buch über peruanischen Schamanismus auf den Computer. Irgendwann höre ich mit halbem Ohr, wie Joe auf dem Flügel im Wohnzimmer nebenan Schumanns „Waldszenen“ spielt. Wie Schmetterlinge flattert die Musik durch den Raum und in meine Gedanken. Kurz darauf steigt er die Treppen hinauf; ich höre seine Schritte auf den ächzenden Bodendielen im Bad über mir, dann im Schlafzimmer. Entgegen seiner Gewohnheit fragt er mich nicht, ob ich auch ins Bett komme, und wünscht mir keine gute Nacht. Ein klares Statement seines Ärgers.

„Wir gehen ins Wohnzimmer“, murmele ich den Hunden zu. „Ich schlafe heute bei euch.“

Poppy und Ruby machen es sich zufrieden in ihren Körben vor dem offenen Kamin bequem, während ich mir mit Decken und Kissen ein Nachtlager auf dem Sofa bereite. Das Letzte, was ich sehe, während ich in die Glut schaue, ist Julias langsam verblassendes Gesicht.

Kalter Plan

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