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Vielleicht nicht so schlimm

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Auf dem Berg schneit es, seit Stunden, Tagen. Flocken wie Leintücher, sie fallen leicht und schwer. In ihrem Weiss verstummen Worte, Rufe, Namen. Wegen des Schnees hat das Kind in dieser Nacht in Braunwald auf dem Berg, nicht bei den Eltern geschlafen.

Auf dem Weg zur Schule verschwinden die Köpfe der Kinder im Schnee. Von Sepp, auf dem Weg zum Stall, ist nur seine Mütze zu sehen, sie schaukelt wie ein Boot in Not. Um neun Uhr sitzen sieben Schüler atemlos auf ihren Plätzen, reiben sich die Hände, und wie immer setzt sich Lehrer Faust auf die zweite Schulbank links, und die Kinder ahnen es, er wird nicht über den Tagesablauf sprechen, er schaut in die Runde, wirft einen Blick durchs Fenster und spricht mit ungewohnt leiser Stimme. Dass wegen des grossen Schnees einige Kinder zu Hause, andere stecken geblieben sind, er habe um sieben Uhr früh eine Nachricht erhalten … Alles sei noch nicht klar, vielleicht nicht so schlimm, aber es ha­be wahrscheinlich Tote gegeben, man wisse noch ­wenig, er wendet sich mir zu und sagt: «Du kannst gehen, wenn du willst.» Dann wird seine Stimme alt wie immer.

«Du kannst gehen, wenn du willst», hat er gesagt. Schneeränder fallen mir auf die Füsse, an den Wimpern zittern Schneewassertränen, dann kriechen sie wie kleine Tierchen über meine Wangen, verschwinden im Weiss. Die Füsse tasten sich eine grau-weiss geahnte Spur entlang, mein Körper nach vorne geneigt, Schritt um Schritt.

Eben zuckt mein Körper zusammen, ich bleibe kurz stehen, meine Augen zu, das Kinn auf der Brust. Bilder tauchen auf, im Kopf ein leises Grollen, im Hals eng. Ich muss weiter, ins Dorf hinunter.

Mit der Standseilbahn fahre ich ins Tal, dann mit Vaters Luftseilbahn auf den Oren, wo man noch nichts weiss. Alles sei noch nicht klar, vielleicht nicht so schlimm, hat Lehrer Faust gesagt. Wären nur meine Beine nicht so schwer, im Kopf das Grollen, jetzt laut.

Nicht stehen bleiben, nicht müde werden, hat die kranke Mutter dem Gritli gesagt, nur an das Feuer, den wärmenden Ofen denken und wissen, dass dann, wenn du mit dem feinen Holz zurück bist, ist deine Mutter wieder gesundet. Dann hat sich das Gritli auf das Mäuerlein gesetzt, nur einen Augenblick …

Meine Finger springen, zittern auf den weissen Tasten hin und her, auf und ab, auf dem Bildschirm lauter fette, schwarze Buchstaben, sie drohen zu stürzen, alle grossen Hs und Rs fallen aus dem Text, Wörter, Sätze bäumen sich auf, brechen wie Schneewellen, kommen ins Rutschen.

Die Finger noch auf den Tasten, jetzt ruhig, auf dem Bildschirm folgende Zeilen:

Die Mauer mit frischem

Schnee bedeckt

Auf der Bergseite duftet

Noch der Thymian und

Dort beim verdorrten Holunder

Trieb der Wind den Toten

Schnee in die Augen.

Hoch in der Luft

Schreien die Dolen

Ruedi, sieben Tage, sieben Nächte unter dem Schnee, Mund, Nase, sein Stottern, die Pfeife im Mund, sein Lächeln für Marie, seine Braut, erstickt im Schnee.

Auch Heiri, Heirelis Vater, erstickte in dieser Lawine, aber man fand ihn sehr früh, er wurde bei uns im Esszimmer aufgebahrt, und seine Frau, Margarethe, half meiner Mutter, ihm einen Gurt mit goldenen Kühen anzuziehen, ein Schmuckstück aus dem Appenzellerland.

Heireli steht daneben und fragt:

«Mutter, weshalb trägt Vater sein Sonntagshemd und den Ledergürtel mit den goldenen Kühen?»

«Er kann sie nicht sehen, denn seine Augen sind für immer zu.»

«Mutter, gibt es dort auch neue Kälbchen, die nicht trinken, denen Vater mit zwei Fingern helfen muss? Trocknet er dort auch das Neue mit Heu und Stroh?»

«Mutter, nimmst du mich mit, wenn du morgen die Kühe melken gehst?»

«Der Schnee ist mannshoch, und du, Heireli, bist ein Dreikäsehoch.»

«Ich melke jetzt meine Kuh, jene, die Vater mir geschnitzt. Und lege sie dann auf seine Sonntagsbrust.»

Ich schaue aus dem Stubenfenster, es schneit. Zürich, erster Schnee, Dezember 2010.

Das Bündel Zeit

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