Читать книгу Das Bündel Zeit - Elsbeth Zweifel - Страница 9
Lieber Vater
ОглавлениеHeute war ich wieder einmal auf dem Oren, dort wo Du so gerne warst, dort, wo unser Haus stand, dort wo die Wand war.
Ich weiss nicht, wie lange diese Pläne in Deinem Kopf brodelten, mit dem heimlichen Wissen, dass dies ein wunderschöner Ort ist, mit dem unheimlichen Wissen, dass dies ein Ort des Unheils werden könnte.
Als ich im Hotel unten, im Tal des silbergrauen Flusses, auf die Welt kam, warst Du traurig, dass ich kein Bub war. Ich war das dritte Mädchen.
«Gut so», sagte Mutter, «was willst Du noch mehr, es ist schön, hat alle Glieder, und es ist gesund.»
Damit das Kind dort oben auf dem Berg, in diesem alten Bauernhaus, nicht erfrieren müsse, befahlst Du Mutter, ihre Brüste mit Kampfer einzustreichen, sie einzuschnüren. Dem Kind Kuhmilch mit Wasser, immer von der gleichen Kuh, zu geben und es für ein Jahr bei Deiner Mutter, meiner Grossmutter, im Tal des silbergrauen Flusses zu lassen.
Ich war eine junge Frau, als Mutter mir dies eines Tages erzählte. Nach diesem Jahr habe sie mich kaum mehr erkannt, ich sei still und ruhig im Bettchen gelegen, und als sie sich über mich neigen und mich küssen wollte, hätte ich geschrien, kaum mehr geatmet.
Stundenlang hielt sie mich in ihren Armen, sei mit mir herumspaziert und hätte die Dinge im Haus laut beim Namen genannt. Jetzt bleiben Mutters Worte in meinem Hals stecken, ich weine. Mutter weint, Trost finden wir keinen.
Nun bin ich alt und wandere auf dem Oren herum. Ich könnte die Augen schliessen, und mein Herz würde jedem Ort die richtigen Farben zuteilen.
Vater, hier auf dem schmalen Strässchen blicke ich zum Schluchen hinunter, ein schmaler, steiler Abhang mit Wildheu, und ich weiss, dass hier Dein erster Versuch war, aus einem kleinen Bach Elektrizität in unsere Stube zu bringen.
Vieles gelang Dir, und manchmal durfte ich meine kleine Hand in Deine legen, mit Dir dort hinuntersteigen. Wenn Dein Gesicht auf Schön zeigte, sass ich auf Deinen starken, Schultern und ich sah für eine kurze Zeit Deine Vaterwelt. Ich hätte gerne meine kleinen Hände auf Deine Augen gelegt und «Hüüühh» geschrien, dies wäre mein Glück, aber auch unser gemeinsames Unglück geworden.
Dieser gemeinsame Ort des Unheils blitzte auf, verschwand. Dort zu verweilen, ihn zu betrachten, mit ihm zu sprechen, dazu war keine Zeit. Gäste Tag und Nacht, das Bähnli, drei Kinder, der Hund, die Katzen … und eine schwarze Sau.
Ich bewunderte Dich, Du konntest Licht machen, Trinkwasser ins Haus legen, eine Luftseilbahn bauen und mich darin zur Schule fahren lassen.