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Prolog

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Meine Eltern waren Halbnomaden. Blieb der erste Schnee, hiess es, ins Tal, zum Fluss, dort ist das Bett warm, sind Grossmutters Geschichten wahr. Wenn in der Gartenlaube die Vögel laut wurden, der Tag heiter, dann trieb ein Fieber uns auf den Berg. Kinder, Hund und Katzen tapsten durch den lahmen Schnee. Die jungen Hühner, die Schweine schon bestellt. Hinter dem Haus die ersten Mehlprimeln zart.

In den ersten Texten gibt es Schnee, immer diesen Schnee, und ich, das Kind, spielte mit der Macht des Schnees. «Der Schnee ist nicht weiss, er ist rot, er ist schwarz wie der Tod», sagte es.

An vielen Tagen war sein Schulweg ein Drama mit persönlichem Personal. Der Winterweg mit Mutter, seine Skier auf ihren Schultern, und Albert mit der Schaufel, in der Mitte das Kind und ein Licht, das bei heftigem Sturm immer wieder erlosch. Noch weit entfernt von der Schule setzte das Kind sich in den Schnee und schrie: «Ich bleibe hier.» Und so sah man mitten im Hang einen Lichtpunkt am Berg.

Der Schnee war auch für Vater eine Sorge, auf dem Tragseil seiner Luftseilbahn lag die weisse Masse wie ein gefrorener Rollkragen. Für die kleinen Räder und das Kind, das in der kleinen Kiste sass, zur Schule musste, war dies eine Feuerprobe. Aber Vater stand oben und schaute zum Guten.

Die Primarschule besuchte das Kind bis zum Winter mit Vaters Luftseilbahn im Tal unten. Als seine Beine lang genug waren, durfte es auf dem Berg nach Braunwald zur Schule gehen.

Wie im Paradies war der Sommerweg auf dem Berg, wenn die kleinsten Blumen blühten, der Thymian und der Kümmel ihre Düfte mit einer feinen Bise dem Kind in die Nase wehten und die kleinen Käfer und Spinnen ihm über seine Finger krochen, auch das Konzert der Grillen liebte es.

Im Tal stand das Hotel Diesbach, in diesem grossen Haus wurde auch ich, Amalia, das jüngste der drei Mädchen, geboren. Wir Kinder mussten wie Prinzessinnen essen, durften nicht schlürfen, den Mund beim Kauen nicht öffnen, sprechen nur mit leerem Mund.

Im Haus nebenan wohnten Nänni und Anna, zwei Fabriklerinnen. Nänni war eine Frau wie aus einem «Staub»-Kinderbuch, sie nahm das schreiende Bündel, wickelte es behutsam in ein Tuch, legte einen Zettel mit «Nänni» ins Bettchen und verschwand nach nebenan. Die Mutter im Restaurant ahnte es, weil es im oberen Stock ruhig wurde.

Die Menschen im Tal wie auf dem Berg hatten ihre eigene Sprache, diesen singenden Klang, auf und ab, Buchstaben verschwanden, und die Sätze bestanden aus zwei oder drei Wörtern. «Jä schuu, morä dä, tüüf underem Schnee, zunderscht undä und im Gwürz, weisch.»

Im Tal geschah es, dass jemand sich einen Stein um den Bauch band und in der Linth im nächstliegenden Fabrikrechen hängen blieb. Oder dass sich ein Bauer im Tenn einen Strick um den Hals legte und dass ihn am nächsten Morgen seine Frau noch hängend fand. Erzählungen, bei denen die Toten in der Nacht als Gespenster erschienen, hörte ich nur aus den katholischen Dörfern. Niemand sprach mit uns Kindern darüber, aber wir wussten es und wollten nachts nicht mehr schlafen.

Im Tal der Linth lebte auch die Grossmutter in ihrem Haus am Bach, sie erzählte stundenlange Geschichten über ihre Kindheit und Jugend in Höngg und über ihren Vater, der für die Post und für eine Weinstube der Studenten aus Zürich zuständig war. Dass Grossmutter verheiratet war und vier Söhne hatte, dass einer davon mein Vater war, daran dachte ich nicht, es gab den Höngger Vater und es gab die Grossmutter.

Der liebste war mir Sepp auf dem Berg. Er sah mich, das Kind, auf meinem Schulweg, grüsste mich und lächelte. Er kam als Knabe mit seinem Vater aus dem Schächental zu einem Bauern und blieb dort sein Leben lang. Sepp war oft da, wenn das Kind rot und schwarz sah und seine Eltern vor lauter Arbeit im Restaurant keine Zeit für kleine Kinderschmerzen hatten.

An einem Septembermontag lagen Blutspuren auf den Steinen, und Sepp erklärte. «Weisst du, wie so eine Nase bluten kann?», sagte er. Das Kind und Sepp lachten, denn sie wussten …

Und dann Albert, ein Grossvater, alt, es hiess, er sei verheiratet und seine Frau im Tal. «Es oder miis», sagte er jeweils verschmitzt, auch er war immer da. Am Tisch sass er neben Vater und Mutter, er durfte das Brot in die Suppe schneiden, laut schlürfen, und seine Unterarme lagen bequem auf dem Holztisch.

Albert spaltete Holz, fütterte die Schweine, im Sommer trug er das Wildheu die Leiter hinauf. Im Winter schaufelte er den Weg frei. Am Abend sass er mit der Familie im Stübli, las die Zeitung oder erzählte vom Tag. Wenn Albert zu seiner Frau ins Tal ging, kam er kurz vor dem Melken zurück, suchte meine Mutter, meldete ihr, dass er da sei und melken gehe. Sein Hut, alles sass dann schief, und schon lag er auf dem Boden. Wie ein kleines Kind rollte er sich hin und her, fluchte und schimpfte. Mutter ging zu ihm, brachte ihm einen heissen Kaffee und half ihm auf die Füsse.

«Martha, jetzt geht es wieder, kannst ja einmal schauen kommen, wie es mir beim Melken geht.»

Auch Fini war immer da, sie war Mutters linke Hand. Fini war kein Kindermädchen, nur im Notfall. Und das Kind schuf sich immer wieder solche Fälle. Wo sind meine Grobenschuhe? Im Strumpf das Loch und in den Haaren diese kleinen Tiere!

Aber dann kamen die Schuhe und die sauberen Strümpfe über meinen Kopf geflogen, und Fini schrie: «Du Zaupf …» Und schon war Mutter in der Tür und schrie mit ihrem Sopran die zweite Stimme. Ich rannte und verkroch mich, weinte aus Wut und Verlassenheit. Die zwei Frauen begannen mich zu suchen, später brachten sie mir das Essen.

Je nach Saison kamen noch andere Frauen wie Alba, Gretel und Giuseppina aus Italien, Österreich und Jugoslawien. In Deutschland war Krieg.

Die Eltern, der Lehrer und der Pfarrer im Tal fanden es nicht gut, wenn man den Kindern immer alles erklärte. «Sie erfahren es noch früh genug», war ihr Satz. Während des Krieges war dieses Schweigen gross, gross wie die Hürbi in der Allmend, und der aufsteigende Rauch stach in die Nase.

Auch wir Kinder sagten den Eltern nicht alles: Dass wir im Tal unten ein Ohr auf das Bahngleis legten und auf das Rauschen und Klopfen des nahenden Zuges warteten. Ein Lokomotivführer von der sbb beklagte sich, und meine Eltern wurden per Telefon gewarnt.

Auch das Rauchen von Nielen und Zigis blieb unsere Sache, manchmal sah man auf dem alten Dach ein Räuchlein aufsteigen.

Dies war im Tal der Linth und auf dem Orenberg in den Vierziger- und Fünfziger-jahren des letzten Jahrhunderts.

Dreissig Jahre später, nach einer Durchgehung dieser mir vertrauten Landschaft, empfand ich eine mir nicht erklärbare Trauer, Vertrautheit und gleichzeitiges Fremdsein. Ist dies ein Zustand des Erinnerns?

Welche Sprache spricht die Erinnerung? Was passiert in mir, wenn sich die zwei Welten treffen, damals, heute?

Bilder, Worte, Stimmungen beginnen zu sprechen, suchen einen Ort der Vertrautheit. Das Blühen der Erikas und der Duft der grünen Minze.

Die Landschaft verändert, die Figuren die gleichen. Während des Erzählens stiegen der Autorin immer neue Figuren auf, Figuren, die sprechen wollten. Sie beginnt mit ihnen zu spielen, auch zu streiten. Wie die Farben sein sollen, hell oder dunkel, wie ihr Denken, ihre Sprache oder ihr Handeln sein sollen.

Ich nehme die Fäden in meine Hände, manchmal lasse ich sie gehen, bis mir mein Körper ein Signal gibt. Ob das Rot auf dem Stein Blut war oder im Regenwasser vermoderte rote Blütenblätter, dies erfahren wir später.

Was geschieht, wenn da einfach nichts, Leere ist?

Das Bündel Zeit

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