Читать книгу Auf Entdeckungsreise in Europa Band 2 - Else Scherhag - Страница 8
Orange, Chateauneuf-du-Pape, Alpilles und Arles
ОглавлениеWeiter nördlich von Avignon liegt Orange, heute ein kleines Städtchen mitten im Grünen, aber mit viel Autoverkehr. Es hieß zu Zeiten des Augustus Arausio nach einem keltischen Wassergott und war auch eine keltische Siedlung. Nun wurde es von römischen Veteranen besiedelt und hatte dann viermal so viele Einwohner wie heute. 49 vor Christus erbauten sie den heute noch gut erhaltenen Triumphbogen, der zu den besterhaltenen Siegesdenkmälern der Welt gehört. Er hat wie üblich drei Bögen, die auf Säulen ruhen. Früher stand oben auf der Plattform ein Bronzewagen. In den Reliefdarstellungen werden Kämpfe zwischen Römern und Galliern gezeigt, die Römer mit Helmen, Schild und Schwert ausgerüstet, die Gallier nackt, nur mit Schild und Kurzschwert im Kampf. Über den seitlichen Bögen war dann noch Beutegut aus der Seeschlacht bei Massilia zwischen den Heeren Caesars und Pompejus abgebildet: Schiffsschnäbel, Anker, Dreizacke, Helme und Waffen. Die Schiffe Caesars konnten mit den griechischen aus Massilia gar nicht konkurrieren; da aber die Griechen nur versuchten, Caesars Schiffe zu rammen, bekamen die Fußsoldaten Caesars die Möglichkeit, die Bordwände hochzuklettern und die Griechen niederzuschlagen; damit hatten sie gewonnen. Der Dichter Lucan hat in seinem epischen Gedicht „Pharsalia“ den Bürgerkrieg mit allen grausamen Schlachten beschrieben.
Das war allerdings fast fünfzig Jahre vor der Eroberung Arausios, für das nun die „pax romana“ begann; bald hatte die Stadt Schaubühne, Rathaus, Amphitheater, Stadion, Tempel und Thermen. Das Theater blieb besonders gut erhalten. Was aber dieses Theater von andern römischen und vor allem griechischen Bühnen auszeichnet, ist die Bühnenwand mit 103 Metern Länge und einer Höhe von 30 Metern. Sie war in ihrer Zeit mit Friesen und Figuren verkleidet, die den Besucher schon auf die kommenden Schauspiele einstellen sollten. Heute immer noch erhalten und wirksam ist die großartige Akustik, die jedes Wort auf der Bühne bis in die oberste Reihe der Arena hörbar macht. Heute noch kann man die Stimme der Antigone hören, wenn ihr Drama von Sophokles hier aufgeführt wird und sie ihr Leben wagt, um ihren Bruder zu bestatten. Auf Kreons Frage: „Du wagst es dennoch, das Gebot zu brechen?“ antwortet ihm Antigone:
„Dieses Gebot, von einem Menschen stammend,
glaubte ich nicht so mächtig,
dass es selbst die ungeschriebenen
uns unumstößlichen sicheren Gebote
der Götter übertreffe.
Diese sind von heute nicht noch gestern;
Ewig dauern sie fort.“
Ich weiß noch, wie mich die Aufführung dieses Dramas vor vielen Jahren im Fernsehen beeindruckt hat, wie stark muss es auf die 11 000 Zuschauer in diesem Theater gewirkt haben, die ja Zeitgenossen waren und an die Macht der Götter glaubten! Und über der ganzen Szenerie, in einer Nische geborgen, steht, aus weißem Marmor geschlagen, die Statue des Divus Augustus, der den Arm erhebt, um die Ovationen zu erwidern, die man ihm zollt.
Wir hatten uns in Orange wohlgefühlt, wollten aber auf der Heimfahrt nach Saint-Rémy auf keinen Fall versäumen, Châteauneuf-du-Pape zu besuchen. Johannes XXII war ein großer Weinliebhaber gewesen und förderte die Winzer der Gegend großzügig; er hat hier auch die neue Burg bauen lassen, der die Ortschaft ihren Namen verdankt. Der Wein der Gegend wurde als „Vin du Pape“ bekannt.
Mitten im Ort gab es eine Kellerei, die für Verkauf und Weinproben geöffnet war, wo man uns freundlich mit Angeboten zum Probieren und Weißbrot zwischen den Proben bewirtete. Der Probierraum war geheimnisvoll dämmrig, weil das Tageslicht nur durch die geöffnete Tür einfiel, und an den Wänden entlang standen hohe Fässer mit ovalem Boden, die den Eindruck noch verstärkten. Die Weinprobe verlief aber zu aller Freude und Zufriedenheit, und wir nahmen verschiedene Jahrgänge aus dem anliegenden Weinberg mit nach Hause.
Der Ort lag wie am Boden einer großen Arena, in die eine warme Nachmittagssonne schien. Alles erinnerte mich an Bernkastel, das auch von einem Halbrund von Reben umgeben ist. Wir kamen einmal im Herbst von der Hunsrückhöhenstraße hinunter, als der ganze Weinberg in Gold zu schwimmen schien, ein phantastischer Anblick.
Die letzten Tage hatten wir für die rauen Alpilles und für Arles aufgehoben. Es war Sonntag, als wir uns in das Felsengestein aufmachten. Es machte Spaß, in den bizarren Kalksteingebilden herumzusteigen, und so war es schon gegen 18 Uhr am Nachmittag, als wir müde und hungrig in Les Baux ankamen. Es mussten über Tag schon viele Besucher hier gewesen sein, denn als wir in dem kleinen uralten Ort ankamen, waren alle Kneipen und Andenkenläden geschlossen, selbst die kleine Kirche wurde gerade abgeschlossen, sodass wir sie nur von außen betrachten konnten. Hier und in den Felsen sollten einmal 6000 Menschen gewohnt haben! Wir konnten das im Anblick der kleinen Dorfstraße kaum glauben. Schließlich fanden wir am Ende dieser Straße eine Gaststube, die noch offen hatte – und eine junge Studentin, die versuchte, auf einer vorsintflutlichen Maschine Pfannkuchen zu backen. Nach einem anfänglichen Fehlstart versuchten wir, der jungen Studentin zu helfen und dem System der schwarzen Pfanne näherzukommen. Mit wenig Fett und relativ viel Teig gelang es uns, drei Pfannkuchen am Stück zu fabrizieren. Irgendwo fand sich auch etwas Trinkbares, und so verließen wir gestärkt an Leib und Seele den alten Ort.
Uns blieb am nächsten Tag als letzte römische Stadt der Provence noch Arles, von der Kaiser Honorius im 5. Jahrhundert schwärmt, dass es „keine andere Stadt gibt, in der man die Waren aus allen Ländern der Erde leichter kaufen oder tauschen kann. Man findet dort die Schätze des Orients, die Wohlgerüche Arabiens, die Speisen Afrikas, die edlen Tiere Spaniens und die Waffen Galliens“. Es lag schon zu Augustus’ Zeiten wie ein Knotenpunkt von Wasser- und Landwegen an der Rhône, und man baute hier die erste Brücke. Arles diente bereits Caesar als Basis im Kampf mit Marseille und er ließ von seinen Veteranen hier eine Kolonie gründen, die als Emblem den Stier führte. Dieses Emblem schmückt heute noch die Metopen am Theater. Das Theater ist heute sehr fragmentarisch, weil es in späterer Zeit als Steinbruch diente. Wir sahen uns daher lieber am und im großen Amphitheater um, das älter ist als das Kolosseum in Rom und das Amphitheater in Nîmes. Es ist auch noch größer als letzteres und hat 21000 Plätze, die sich stufenweise verteilen und teilweise auf der Kolonnade des Erdgeschosses ruhen und teilweise auf dem Galeriewendelgang des ersten Stockwerkes. Eine hohe Mauer trennt die Arena von der Cavea; sie sollte die Zuschauer vor den wilden Tieren schützen. In der Spätantike wurde die Arena in eine Festung umgerüstet, von der heute noch drei Türme stehen.
Am Ausgang fiel uns ein Plakat auf, das für den nächsten Sonntag einen Stierkampf ansagte: „mit den besten Stieren der Camargue und geübten spanischen Stierkämpfern“. H. Domke beschreibt in seinem Buch „Provence“ einen solchen Stierkampf, bei dem der ahnungslose Stier bis zum äußersten gereizt wird – bis zum würdelosen Ende. Wie kann so etwas im Zeitalter von Tier- und Umweltschutz nur erlaubt sein? Und da gibt es Menschen, die Freude und Reiz dabei empfinden! Wir wandten uns mit Trauer und Abscheu ab – und suchten St. Trophime auf, das H. Domke mit den Worten einleitet: „Schon gut, dass es Tröstliches gab!“
Am Portal empfingen uns in Stein gemeißelt Apostelgestalten, hinter Säulen, die mit Arcantusblättern verziert sind. Die Apostel stehen sehr ernst da, mit niedergeschlagenen Augen und einem Buch in den Händen, sicher das Evangelium. Über ihnen sieht man einen Fries von Verdammten, die aneinander gefesselt durch Flammen schreiten. Dann kommt man in den kleinen Kreuzgang mit Oleander und Zypressen, in den die warme Sonne scheint. An den Pfeilern gibt es Figuren, wie wir sie ähnlich in St. Gilles gesehen haben: die Köpfe sind groß, etwa halb so groß wie die Körper in ihren faltenreichen Gewändern, und sie sehen alle sehr streng und traurig aus. An den Schnurrbärten sieht man, dass es alles Männer sind. Es gibt aber noch „die Erweckung des Lazarus“, „Abrahams Opfer“, die „Verkündigung“, die „Geburt Christi“ und „Samsons Geschichte“, alles beeindruckend dargestellt, an einem Ort der Stille. In diesen Darstellungen spielen natürlich die Frauen die bevorzugte Rolle, wie bei der „Verkündigung“ oder der „Geburt Christi“.
Der Kreuzgang gehört zu einer Kirche, die hell und hoch ist, dank der Oberlichter und des gotischen Chors. Ein alter Sarkophag dient als Taufstein, ein anderer aus dem Jahr 400 als Altar in der Heilig-Grab-Kapelle. Arles besitzt eine Nekropole mit Sarkophagen aus römischer Zeit bis ins 12. und 13. Jahrhundert. Es gibt eine große Friedhofsallee, an deren Ende noch eine von den 19 Kirchen steht, die im 13. Jahrhundert vorhanden waren. Überall sind Sarkophage, teilweise übereinanderliegend, unter hohen Bäumen.
Wir hatten nicht die Zeit, weiter in den schmalen Gässchen zu bummeln, zwischen alten Häusern und Balkonen. Wir fanden aber noch Spuren des Malers Vincent van Gogh, der in Arles etwa 200 Gemälde angefertigt hat. Da gab es ein „Café de la Nuit de Vincent van Gogh“, das er seinerzeit in schrillen Farben gemalt hat; aber er war nur vom Februar 1888 bis Mai 1889 in Arles, wo er sich „fremd und einsam“, ja sogar „feindselig verfolgt“ fühlte, bis er in der Irrenanstalt von Saint-Rémy bis Mai 1890 sein letztes Jahr verbrachte. Nur zwei Jahre und drei Monate hat Van Gogh in der Provence gelebt, bevor er im Jahr 1890 Selbstmord verübte. Er hat seinen Freunden in Briefen beschrieben, welche Bilder er gerade malte. Ich will einen Brief an Émile Bernard, den er in der Irrenanstalt geschrieben hat, hier wieder geben:
„Hier ist die Beschreibung eines Bildes, das ich in diesem Augenblick vor mir habe. Eine Ansicht vom Park der Irrenanstalt, in der ich bin: rechts eine graue Terrasse, ein Stück Hausmauer. Einige abgeblühte Rosensträucher, links das Terrain des Parks – roter Ocker – von der Sonne verbrannte Erde, bedeckt mit abgefallenen Fichtennadeln. Dieser Parkstreifen ist mit großen Fichten bepflanzt, deren Stämme und Äste Ocker rot sind und deren grünes Laub traurig ist durch eine Mischung von Schwarz. Diese hohen Bäume heben sich von einem gelben, violett gestreiften Abendhimmel ab, das Gelb geht oben in Rosa, dann in Grün über. Eine Mauer – ebenfalls roter Ocker – versperrt die Aussicht und wird nur von einem violetten und ockergelben Hügel überragt. Der erste Baum ist ein enormer Stamm, aber vom Blitz getroffen und abgesägt. Ein Seitenast indessen ragt sehr hoch hinauf und fällt dann als dunkelgrüne Nadellawine herunter. Dieser düstere Riese – wie ein besiegter Recke – kontrastiert, wenn man ihn als menschlichen Charakter nimmt, mit dem blassen Lächeln einer letzten Rose, die am Strauch ihm gegenüber verwelkt. Unter den Bäumen leere Steinbänke, dunkler Buchs; der Himmel spiegelt sich gelb nach dem Regen in einer Pfütze. Ein Sonnenstrahl, der letzte Reflex steigert den dunklen Ocker bis zu Rotorange. Schwarze Figuren laufen hier und da zwischen den Stämmen.
Du wirst verstehen, dass diese Verbindung von rotem Ocker, graugetrübtem Grün und den schwarzen Linien ein wenig jenes Angstgefühl erzeugt, unter dem einige meiner Unglücksgefährten oft leiden – um ein tröstliches und zartes Motiv zu geben, braucht man nicht gleich Figuren der Bergpredigt darzustellen.“
Damit knüpft Van Gogh nahtlos an die Darstellungen in St. Trophime an, nur anders, aus moderner Sicht – und eigentlich umfasst das alles, was uns in der Provence berührt hat.