Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 47

6. Kapitel
Nesthäkchens Seereise

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Inhaltsverzeichnis

Kindertränen trocknen schnell. Besonders, wenn Mutti neben einem sitzt und einen tröstend in die Arme nimmt. Dann empfindet kein Kind, daß es in die Fremde hinausgeht, seine Heimat, die Mutter, ist ja bei ihm.

Und kann man denn überhaupt noch traurig sein, wenn man an einem schönen Sommernachmittag im lustig ratternden Eisenbahnzuge durch die Welt saust? Die grünen Wiesen, mit goldgelben Dotterblumen und tiefblauen Vergißmeinnicht bestickt, die weiten Felder, auf denen Gottes Segen der Ernte entgegenreift, die wie Spielzeug dazwischen gestreuten Häuslein, Landleute und Kühe, das alles lachte die kleine Reisende so heiter an, daß sie selbst auch bald wieder mitlachte. Das umfangreiche Futterpäckchen, das Hanne »ihrem Kind« vorsorglich mitgegeben, wohl in der Annahme, daß es die nächsten acht Tage nichts zu essen bekäme, wirkte ebenfalls höchst aufmunternd. So war Doktors Nesthäkchen, als der Zug gegen Abend in die Bahnhofshalle der Stadt Hamburg brauste, so vergnügt, wie nur ein Kind sein kann, dem die ungebundene Ferienfreiheit winkt.

Sollte sie doch heute nacht zum erstenmal in einem richtigen Hotel schlafen, da das Schiff schon früh am anderen Morgen abfuhr. Mit scheuer Ehrfurcht hatte Doktors Nesthäkchen in Berlin stets die stolzen Portiers mit den goldbetreßten Röcken, die den Hoteleingang bewachen, bewundert. Und nun nahm solch vornehm aussehender Mann tief die Mütze vor ihnen ab und ließ sie durch die sich drehende Glastür eintreten. Diese wie ein Karussell kreisende Glastür mit ihren abgeteilten Nischen hatte schon längst Annemaries Begeisterung erweckt. Nie hatte sie zu hoffen gewagt, jemals so glücklich zu sein, selbst durch eine solche Tür gehen zu dürfen. Konnte man es ihr daher verdenken, daß sie nicht sofort wieder aus ihrer Türnische heraus wollte? Daß sie, nachdem Mutti schon die Vorhalle des Hotels betreten, immer noch wie ein Pferd in der Mühle mit ihrer Tür im Kreise herumlief? Himmlisch war es, Annemarie wäre gern die ganzen Ferien über in der Türnische geblieben. Der stolze Portier machte gar kein ärgerliches Gesicht; im Gegenteil, er lachte. Oft mochte es ja wohl auch nicht vorkommen, daß ein Gast sich dieses besondere Vergnügen leistete.

Da jedoch erinnerte sich die zum Fahrstuhl schreitende Mutter, daß sie ja noch ihr Töchterchen bei sich gehabt.

»Aber Lotte, wo steckst du denn?« suchend sah sie sich um. Nun entdeckte sie den im Kreise herumwirbelnden schwarzen Lackhut ihrer Lotte, und damit hatte das Vergnügen für Annemarie ein Ende.

Aber das junge Fräulein leistete sich alsbald ein neues, wenn auch etwas aufregenderes.

Durch den mit Blumen und Palmen geschmückten Vorraum schritten sie zum Fahrstuhl. Der war ganz anders als die, welche Annemarie von Berlin her kannte. Es war ein doppelter, sogenannter amerikanischer Fahrstuhl, ohne Tür, der in ständiger, selbsttätiger Bewegung war. Der eine, auf der rechten Seite, ging in die Höhe, der links zur Tiefe. Während der ganz langsamen Fahrt mußte man ein-und aussteigen, da der Fahrstuhl nie anhielt. Das kleine Mädchen vergaß ihre Drehtür über diese neue herrliche Fahrgelegenheit.

»Ach, wenn Hänschen und Kläuschen doch auch mitfahren könnten,« rief sie begeistert.

Das Einsteigen ging ohne Schwierigkeiten vonstatten. Ein Stockwerk ging es hinauf, noch eins – »paß auf, Lotte, jetzt müssen wir gleich heraus,« rief die Mutter und stieg zuerst aus.

Aber Annemarie war noch so vertieft in die Schönheit dieses unbekannten Genusses, daß sie nicht daran dachte, daß der Fahrstuhl ja nicht anhielt, und sich voll Gemütsruhe Zeit mit dem Aussteigen ließ.

»Mutti – Mama – Mutti« – angstvoll gellend klang es plötzlich zu Frau Doktor Braun von ihrem weiter in die Höhe reisenden Nesthäkchen herab.

Vorbei war es mit Annemaries Entzücken, sie schrie und heulte.

Immer weiter, immer höher stieg der Fahrstuhl, mitleidslos gegen Annemaries Angst, mit der brüllenden Kleinen und der sich nicht weniger ängstigenden, aber stummen Puppe auf ihrem Arm.

Sollte denn das bis in alle Ewigkeit so fortgehen? Das dumme Mädel dachte in seiner Aufregung nicht daran, einfach auf irgendeinem anderen Stockwerk auszusteigen. Jetzt war es oben in den obersten Bodenräumen. Hier ging der Fahrstuhl auf die linke Seite hinüber und fuhr nun abwärts, während der andere vom Kellergeschoß jetzt rechts aufwärts stieg.

Gott sei Dank – es ging wieder hinunter. Annemarie atmete auf und hielt mit Schreien inne. Jetzt – da war ihre Mutti – »komm, Lotte, schnell, schnell«– – – Frau Doktor Braun wollte ihr Nesthäkchen herausziehen, aber da – hatte sie nur Puppe Gerda im Arm. Annemarie hatte in ihrer Aufregung den richtigen Moment verpaßt.

Wieder ging die Reise weiter, noch viel mehr begann Annemarie jetzt zu schreien, denn nun war sie ja ganz allein. Diesmal ging es zur Abwechselung in die Tiefe.

Auf den verschiedenen Stockwerken sammelten sich neugierig Hotelgäste und Bediente. Aber ehe sie noch daran dachten, den reizenden kleinen Schreihals aus seiner Gefangenschaft zu befreien, war der Fahrstuhl mit Annemarie schon davon. Bis in den Keller ging es jetzt – hu – war es hier dunkel. Annemarie graulte sich tot. Wie am Spieß schrie sie, während der Fahrstuhl zur rechten Seite hinüberging und nun wieder aufwärtsstieg.

Diesmal aber wollte sie sofort herausspringen, sobald sie Mutti nur sah, das nahm sich Annemarie fest vor.

Aber es kam gar nicht so weit. Als sie die blumengeschmückte Vorhalle erreichte, stand da der feine Portier – ein Griff, und er hatte das schreiende kleine Mädchen im Arm.

»Na, weine man nicht mehr, Mausechen, ich bring’ dich auch nach deine Mama,« tröstete er freundlich.

Hotelgäste, Kellner und Zimmermädchen wollten sich vor Lachen ausschütten über den kleinen Blondkopf, der solche unfreiwillige Reise gemacht. Annemarie aber stieg an der Hand des Portiers die breiten Marmortreppen hinauf. Frau Doktor Braun befand sich selbst in heller Angst, da ihre Lotte nicht wieder mit dem Fahrstuhl zum Vorschein gekommen. War das Kind herausgestürzt?

Doch da klang es von der Treppe her: »Mutti – Muttichen« – ein seliger Aufschrei – Nesthäkchen flog in Mutters Arm und küßte und streichelte sie unter Tränen, als ob sie aus Amerika zurückkehrte.

Aber in solchen ollen, ekligen Fahrstuhl ging Doktors Nesthäkchen nie wieder hinein – nee, in ihrem ganzen Leben nicht!

Am nächsten Morgen war Annemarie noch recht müde, denn man mußte zeitig heraus, um das Schiff zu erreichen.

War das ein Gewühl auf St. Pauli Landungsbrücken, Annemarie hielt sich fest an Muttis Arm.

Lieber Gott – ihr süßes neues Reiseköfferchen! Den lud ein fremder Mann mit vielem anderen Gepäck auf die Schulter und verschwand damit in der Menge. Wie sollte sie ihren Koffer, auf den sie so stolz war, jemals wiederkriegen!

Mutti schien das gar keine Sorge zu machen. Die blickte voll Interesse auf die fremdländisch aussehenden Menschen und machte Annemarie auf mehrere Chinesen mit steifen, schwarzen Zöpfen in blau und gelbseidenen Röcken aufmerksam.

Aber als sie nun an den Hafen herunter kamen und das kleine Mädchen zum erstenmal in ihrem Leben die gewaltigen Riesenschiffe mit ihren hohen Masten und großen Schornsteinen erblickte, die in die fremden Erdteile segelten, da vergaß sie alles andere, selbst ihren Reisekoffer. Mutter zog ihre ganz versunkene Lotte mit sich fort über eine unter dem Tritt der vielen Füße auf und niederschwankende Schiffsbrücke.

Das war ja eine herrliche Wippe! Nesthäkchen hätte für ihr Leben gern darauf noch ein bißchen auf und nieder geschaukelt, aber die hinter ihr Kommenden hatten leider gar kein Verständnis für solche Wünsche. Die drängten und hasteten, um einen guten Platz zu erwischen.

Sie stiegen die eiserne Treppe, die zum Deck führte, empor.

»So, meine Lotte, nun bist du zum erstenmal auf einem Schiff,« sagte Mutti, sie neben sich auf einen Sitz ziehend.

»Och, ich bin doch schon oft mit dem Spreedampfer nach Treptow gefahren« – ein durchdringendes, durch Mark und Bein gehendes Tuten durchschrillte da plötzlich die Luft. Entsetzt griff Nesthäkchen nach Mutters Arm. Puppe Gerda aber, die sie in ihrem Schreck losließ, fiel vor Schreck auf den Rücken.

Mutti lachte von Herzen über die beiden, und auch die übrigen Herrschaften, die in der Nähe saßen, amüsierten sich.

»Dat is man bloß die Sirene, dat Schiffssignal, dat es nu losgeihen tut, lütt Fräulein,« meinte ein in der Nähe stehender Matrose freundlich zu dem hübschen kleinen Mädchen und hob ihm die Puppe auf.

Annemarie flüsterte ihrer Mutter kichernd zu: »Sieh bloß mal, Muttichen, das ist doch schon ein richtiger Mann und dabei trägt er noch einen Jungsanzug wie Klaus.«

Aber von diesem Augenblick an war Doktors Nesthäkchen mit dem Matrosen aufs innigste befreundet. Er erzählte ihr, daß er Willem hieß, und daß er dreimal jede Woche mit der »Königin Luise«, dies war der Name des Schiffes, auf dem sie die Reise machten, von Hamburg nach Amrum fuhr.

»Wird Ihnen denn das gar nicht langweilig, das olle Hin-und Herfahren, immer wieder denselben Weg?« erkundigte sich die Kleine teilnehmend.

»Ih, man jo nich – jedesmal sieht das Meer wieder anners ut, dat wirst du ok noch merken, wenn du man erst am Strand buddeln tun wirst. Wo geiht denn die Reise hin, lütt Fräulein?« es machte dem Mann Spaß, sich mit dem zutraulichen Mädelchen zu unterhalten.

»Nach Wittdün auf der Insel Amrum, da soll ich ein ganzes Jahr lang bleiben, weil ich so blaß bin. Ist es da schön?«

»Na woll! Kiek eins, lütt Fräulein, da wirst du bald so rote Backen hewen (haben) als wie ick«, lachte er.

Annemarie sah andächtig zu dem indianerrot von der Sonne Gebrannten auf. »Ja, Sie haben sich schon mächtig erholt«, meinte sie dann als richtiges Doktortöchterchen.

Mutti aber, die ihr Nesthäkchen beobachtete, dachte erleichtert: »Wenn meine Lotte sich hier schon so schnell anschließt und sich kaum nach mir umguckt, wird sie mich in Wittdün unter andern Kindern gewiß nicht entbehren.«

Da gerade kam Annemarie zur Mutter zurück. »Du Muttichen, der Herr Willem ist so schrecklich nett. Er will mir unser Schiff zeigen, das ganze Schiff, weil ich noch nie eins gesehen habe! Und weil die ›Königin Luise‹ doch ganz neu ist. Ich darf doch, nicht, Muttichen?« bettelte sie.

Frau Doktor Braun freute sich, daß ihrem Töchterchen von sachverständiger Seite die Einrichtungen eines Schiffes erklärt werden sollten. Sie beteiligte sich ebenfalls voll Interesse an dem Rundgange.

Annemarie sperrte Mund und Nase auf. Das war doch kein Schiff, das war ja ein richtiges Haus mit vielen Stockwerken, in dem sie jetzt eine mit roten Teppichen belegte Treppe hinabstiegen.

In den großen Eßsaal führte der Matrose seine Begleiterinnen, da standen viele festlich mit Blumen gedeckte Tischchen mit fest in den Boden geschraubten Drehsesseln. Rote Plüschsofas zogen sich längs den Wänden hin.

War das fein hier! Nein, so sah es auf den Berliner Spreedampfern doch nicht aus. Und hier sollte sie heute Mittagbrot essen? Famos. Dann betraten sie das Rauchzimmer und den großen Leseraum mit den braunen Ledersesseln.

»Nu geiht’s in die Küch’«, bemerkte der Matrose und stieg noch eine Treppe tiefer hinab.

Himmel – solche große Küche hatte das kleine Mädchen noch nie gesehen. Die Mitte nahm ein Riesenherd mit Hunderten von Kupferkasserollen ein, an dem viele Köche und Küchenmädchen schafften.

»Au, wenn unsere Hanne das ganze Kupfer hier jeden Sonnabend putzen müßte – au – würde die schimpfen!« ganz laut sagte es Doktors Nesthäkchen zum Entzücken sämtlicher Köche und Küchenmädchen.

»So, dat is hier der Gepäckraum«, der Matrose wies auf ein Durcheinander von aufgestapelten Koffern und Körben.

»Mein süßes neues Reiseköfferchen, ob das wohl auch dabei ist?« vergeblich spähte das kleine Mädel danach. Aber die Mutter sowohl wie Willem beruhigten sie.

»Nu kummen wir zu die Maschinens«, ihr Führer beschritt mit ihnen eine schmale mit einem Gitter versehene Galerie, von der man in den gewaltigen Maschinenraum hinabsehen konnte.

Herrjeh – war das hier ein Radau! Mutter nahm ihre Lotte vorsorglich an die Hand. Ein Höllenlärm ratternder, fauchender, surrender, brausender und schnaufender schwarzer Eisenungetüme erfüllte den Raum. Ein Gewirr von Rädern und Schrauben bewegte sich, gewaltige Eisenhebel gingen hin und her. Dazwischen erblickte man, der furchtbaren Hitze wegen, halb entkleidete Maschinisten, welche die Maschinen ölten, und schwarzrußige Heizer, die Kohlen feuerten.

»Das sind die großen Dampfmaschinen, die unser Schiff treiben«, erklärte die Mutter ihrem Töchterchen.

»Dat sull woll so sünd!« bekräftigte Annemaries Freund.

»Puh – ist das hier eine abscheuliche Luft!« Das junge Fräulein hielt sich das Näschen zu.

»Dat makt (macht) all dat Öl und die verfluchtigte Hitz – aberst nu will ick dat lütt Fräulein noch dat Overdeck zeigen.« Wieder ging es – trapp – trapp – eine Stiege nach der andern hinauf.

Frau Doktor Braun hatte genug gesehen. Sie begab sich wieder auf ihren Platz. Annemarie dagegen lief wie ein Hündchen neben dem vierschrötigen Willem her, unaufhörlich schwatzend.

»So – dat da vorn dat ist uns’ Steuermann, und dat Sprachrohr, wo er hat, bat geiht (geht) zum Herrn Kaptän ruf (rauf).«

Ein wenig neidisch sah Annemarie aus den Steuermann oder vielmehr auf das große Steuerrad, an dem er hin und wieder hantierte. Für ihr Leben gern hätte sie auch ein bißchen daran gedreht.

»Und denn ganz tau overst (oberst) uns’ Herr Kaptän, dat ist der Höchste von all.« Willem wies auf die schmale Schiffstreppe, die zum Kapitänsdeck hinaufführte.

Hast du nicht gesehen, war Doktors Nesthäkchen von seiner Seite und die Treppe zum Kapitänsdeck hinauf. Es sah nicht das unten angebrachte Schild: Betreten streng verboten.

»Dat geiht nich – dat is nich erlaubt, lütt Fräulein!« rief Willem erschreckt hinter ihr her.

Aber Annemarie ließ sich nicht stören. Oben angelangt, machte sie einen höflichen Knicks und sagte freundlich: »Guten Tag, Herr Kapitän.«

»Dunnerkiel« – der Kapitän wollte losfahren, da sah er, was für ein allerliebster Blondkopf sein unerbetener Besuch war. Seine Miene wurde freundlicher.

»Du, Kleine, das Betreten dieses Decks ist nicht erlaubt«, er drohte ihr lächelnd.

»Och, das schadet nichts, wenn Sie mich nur nicht rausschmeißen, Herr Kapitän! Willem sagt doch, Sie sind der Höchste hier auf dem Schiff.« Treuherzig sahen ihn die strahlenden Blauaugen an.

»Ja, was willst du denn hier oben eigentlich, Kleine?«

»Bloß mal ein bißchen runtergucken, die Aussicht ist hier so schön«, teilte Annemarie ihm freimütig mit.

»Na, denn guck nur!« Der Kapitän lachte belustigt.

Aber der quecksilbrigen Annemarie wurde das Stillstehen da oben bald langweilig. Darum machte sie ihren Abschiedsknicks, sagte: »Ich danke auch vielmals. Herr Kapitän«, und unten war sie wieder.

»Je, gut, dat du Kummen tust, lütt Fräulein, ick will dich man schnell noch bei dein Mutting abliefern. Ick möt (muß) nu all an min Arbeit – gleich sünd wir in Cuxhaven«, damit brachte der Matrose seine kleine Gefährtin zu Frau Doktor Braun zurück.

»Sag mal, Lotte, warum starrst du denn bloß immerzu ins Wasser, sieh dir doch lieber die Stadt Cuxhaven an«, meinte die Mutter nach einem Weilchen. »Dort drüben, das ist der Leuchtturm, der den Schiffen den richtigen Weg in der Dunkelheit weist.«

»Ach, ich wollte bloß so schrecklich gern sehen, wo die Elbe eigentlich in die Nordsee fließt«, Annemarie starrte immer noch tiefsinnig in das schaumige Wasser. »Es ist bestimmt hier bei Cuxhaven, wir haben’s in der Schule gehabt. Aber man kann’s nicht recht erkennen. Ja, wenn ich Vaters Fernglas hätte!«

»Ich glaube, daß dir das auch nicht viel nützen würde, Lotte –«

»Vielleicht kann ich aushelfen«, ein alter weißbärtiger Herr gegenüber, der schmunzelnd Annemaries Auseinandersetzung mitangehört, reichte ihr sein Fernglas.

»Na, siehst du nun, bei welchem Wassertropfen die Elbe ins Meer fließt?« scherzte der Herr.

Annemarie schüttelte den Kopf. Nein, sehen konnte sie es nicht, aber sie sollte es bald spüren, daß sie jetzt nicht mehr auf der Elbe fuhr, sondern draußen auf offener See.

Die kleinen niedlichen Wellen, die bisher das Schiff begleitet, wurden größer und stärker, das Schaukeln auf dem Schiff nahm zu. Der Wind begann Annemaries Locken zu zausen, kaum konnte sie ihren neuen schwarzen Lackhut festhalten.

»Ih, dat is noch gar nix, lütt Fräulein«, sagte der Matrose Willem, der sich wieder getreulich eingefunden hatte. »Wat so’n richtiger dülliger (doller) Storm is, der dut anners um die Näs pfeifen. Ick will man nich wünschen, dat wir den hüt (heut) kriegen, sonst wirst du am End’ noch seekrank, lütt Fräulein.«

»Ih bewahre, ich kann doll schaukeln«, behauptete Annemarie.

Wunderbar war es hier draußen auf dem weiten, weiten Meer. Nichts als Wasser, wohin Annemarie auch blickte. Tiefblau war es, noch blauer wie der Sommerhimmel, der sich wie eine durchsichtige Glasglocke darüber stülpte. Aus den silbern flirrenden, unermeßlich weiten Wassern tauchte jetzt ein winziger roter Punkt auf – die Insel Helgoland. Alle Augen bewaffneten sich mit Ferngläsern, auch Annemarie durfte wieder durch das Glas des netten Herrn schauen. Immer größer, immer deutlicher wurde der rote Punkt, schon konnte man das Ober-und Unterland der Insel unterscheiden.

»Helgoland ist eine starke Seefestung mit Kanonen, falls es mal mit England Krieg geben sollte«, erzählte Frau Doktor Braun ihrem Nesthäkchen.

Inzwischen waren sie ziemlich dicht an Helgoland herangekommen. Deutlich sah man das merkwürdig rote Gestein, das diese Felseninsel auszeichnet.

»Grün ist das Land,

Rot ist die Kant’,

Weiß ist der Sand –

Das sind die Farben von Helgoland.«

Mit diesem Vers verabschiedete sich der alte Herr von der Kleinen, denn sein Reiseziel war erreicht.

Die »Königin Luise« hatte hier fast zwei Stunden Aufenthalt, der von den meisten Gästen zur Mittagspause benutzt wurde, weil das Schiff im Stehen weit weniger schaukelte.

Auch Frau Doktor Braun und ihr Töchterchen begaben sich in den schönen Speisesaal. Allerdings war Annemarie vorher in arger Verlegenheit. Sie wußte nicht, was sie mit Gerda beginnen sollte. In den Speisesaal mochte sie die Puppe nicht mitnehmen, sie konnte sie doch nicht die ganze Zeit während des Essens auf dem Schoß behalten. Da erbarmte sich ihr Freund Willem der Puppe. Er steckte sie in die Tasche seines Tranmantels und meinte schmunzelnd: »Ick will schon up sei passen, wenn sei man bloß nich seekrank wird!«

»Wie ist denn das, wenn man seekrank wird?« erkundigte sich die Kleine.

»Da geiht allens mit einem im Kreis rümmer«, war Willems Antwort.

»Nun habe ich meine Gerda auch in Pension gegeben, wie du mich, Mutti«, beruhigt folgte Nesthäkchen jetzt der Mutter die Treppe hinab. Aber wenn es Annemarie in ihrer neuen Pension nicht besser gefiel als ihrer Puppe in der nach Pfeifentabak und Öl riechenden Tranmanteltasche des Matrosen, dann wäre es schlimm gewesen. Während Annemarie es sich nach Herzenslust schmecken ließ, schimpfte Puppe Gerda wie ein Rohrspecht aus Willems Tasche heraus. Aber der Matrose verstand zum Glück die Puppensprache nicht.

Ein wenig beklommen hatte Doktors Nesthäkchen trotz all ihrer freimütigen Unbefangenheit doch an der schönen Tafel unter den vielen fremden Menschen Platz genommen. Nur bei Kindergesellschaften hatte sie bisher an solcher festlichen Tafel gesessen. Und das war hier doch noch ganz was anderes. Schon, daß die Schüsseln herumgereicht wurden und sie sich selbst etwas nehmen durfte, war aufregend. Denn zu Hause legte Mutti ihren Kindern vor. Fragend blickte Annemarie zur Mutter hin, als der Kellner im Matrosenanzug, auf dem Schiff »Steward« genannt, ihr die Schüssel präsentierte.

»Nimm dir nur, Lotte«, nickte Mutti lächelnd.

Nachdem Annemarie das Kunststück herzklopfend fertig gebracht, und das Stück Heilbud glücklich auf ihrem Teller lag, schielte sie wieder fragend zu Mutti hin: Hatte sie sich auch nicht zuviel genommen?

Die Tischnachbarn beobachteten diesen bei jedem Gang sich wiederholenden Vorgang belustigt. Einige begannen euch eine Unterhaltung mit dem reizenden blonden Mädelchen. Da fand Annemarie ihre Unbefangenheit wieder und gab frisch und frei Antwort.

Natürlich mußte das neugierige Fräulein auch sehen, was neben und hinter ihm vorging. Ihr Kopf drehte sich bald rechts, bald links.

Himmel, was war denn das? Der Sessel, auf dem sie saß, begann sich ja mit zu drehen – bald links, bald rechts, gerade wie das kleine Mädelchen. Annemarie machte ein entsetztes Gesicht, denn sie wußte nicht, daß sie aus einem Drehsessel saß.

»Mutti,« flüsterte sie aufgeregt, »du, Mutti, ich glaube, ich habe die Seekrankheit, es geht alles mit mir herum.«

Die Tischgenossen, welche die ängstlichen Worte gehört, brachen in ein lautes Gelächter aus. Auch Mutti sagte unter herzlichem Lachen: »Du hast nicht die Seekrankheit, sondern eher die Drehkrankheit, Lotte.«

Das Essen war zu Ende. Die meisten begaben sich wieder auf das Deck. Die »Königin Luise« setzte ihre Fahrt fort.

Inzwischen hatte der Wind die Zeit benutzt, um alle Wolken und Wölkchen, deren er nur habhaft werden konnte, an ihren weißen Flauschohren herbeizuziehen. Die Sonne war verschwunden. Schweres Gewölk hing jetzt drohend über dem schwarzgrau gewordenen Meer.

Prüfend und ein wenig sorgenvoll schauten die Reisenden in die so rasch veränderte Wasserlandschaft. Es würde doch keinen Sturm geben?

Die Blaujacken, die als Eingeweihte befragt wurden, beruhigten die Herrschaften.

Ih, das war manchmal so. Bald würde die Sonne wieder scheinen. Das änderte sich oft von Minute zu Minute.

Ja, es änderte sich, aber – es wurde schlimmer, statt besser. Der Wind wuchs zum gewaltigen Sturm. Hui – wirbelte er die Hüte und Mützen der Reisenden über das Deck.

Das war lustig! Für so was war Doktors Nesthäkchen zu haben. Jauchzend beteiligte es sich an der wilden Jagd. Aber nicht lange dauerte die Freude. Denn auch die niedlichen Wellen hatten sich inzwischen in gewaltige brandende Riesenwogen verwandelt. Wie einen Fangball warfen sie das große Schiff hin und her.

Hin und her – jetzt flog man in die Höhe, nun stürzte man wieder zur Tiefe. Starke Männer mußten sich an dem Schiffsgitter halten, um nicht über Bord geworfen zu werden. Wie Betrunkene taumelten die Menschen der Treppe zu, um windgeschützte Räume aufzusuchen. Hier und da wurden seekrank gewordene Damen von hilfsbereitem Schiffspersonal herabgeführt.

Frau Doktor Braun, deren frisches Gesicht plötzlich bleich und elend aussah, wollte ihr Töchterchen ebenfalls mit nach unten ziehen.

»Wenn ick Ihn’ raten sull, dann laten se dat bliwen, gnädige Frau«, mischte sich der Matrose Willem ein, der bei seiner kleinen Freundin geblieben war, um für alle Fälle zur Hand zu sein. »Sie machen dat viel better (besser) hier oben in de frische Luft dorch. Unten wird Ihn’ höllschen hundsmiserablig zumut.«

»Ach ja, Muttichen, es ist so fein hier«, bat auch Annemaries Stimmchen, von Sturmesbrausen übertönt. Mit glänzenden Augen und wild zerzausten Haaren klammerte sie sich an das Geländer. Noch machte ihr die Sache Spaß.

Aber nicht mehr lange. Einer nach dem andern der Reisenden wurde von der Seekrankheit ergriffen. Mit grünlichgrauer Gesichtsfarbe ruhten sie fröstelnd und sterbenselend in ihren Liegestühlen. Bald ward auch Doktors Nesthäkchen, von ihrem Freund Willem sorglich mit warmen Decken zugedeckt, in solch einen Stuhl gebettet. Es merkte gar nicht, daß auch die Mutter ein Opfer der scheußlichen Seekrankheit geworden. Es war der armen Annemarie ganz jammervoll zumute, viel schlimmer als damals, als sie Scharlach hatte. Grün und gelb war es ihr vor den Augen. Sie sah nichts als tanzende Wellen, taumelnde Dinge. Frau Doktor Braun aber fühlte sich so kreuzelend, daß sie sich nicht einmal um ihr Kind kümmern konnte.

Das hatte sie aber auch gar nicht nötig, denn der Matrose Willem war wie eine Mutter um seine kleine Freundin bemüht. Sorgsam band er das leichte Dingelchen an den Liegestuhl fest, daß der Sturm es nicht fortwehen konnte. Mit seinem roten Taschentuch wischte er ihr den kalten Schweiß von der Stirn, streichelte ihr wellenbespritztes blasses Gesichtchen mit seinen schwieligen Händen und tröstete: »Lat man, lat man sinning, lütt Fräulein, dat geiht allens wieder über, wenn wir man erst an Land sünd.«

»Land – Land« – sehnsuchtsvoll wie einst Kolumbus, so stöhnte es ein jeder aus tiefstem Herzen.

Aber man mußte sich noch lange gedulden.

Als die »Königin Luise« gegen Abend endlich an der Insel Amrum anlief, war nur eine einzige von all ihren Passagieren von der Seekrankheit verschont geblieben.

Das war Puppe Gerda in der Tranmanteltasche des Matrosen.

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