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14. Kapitel
Böse Freundschaft

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Inhaltsverzeichnis

Die großen Sommerferien waren zu Ende – Wittdün leerte sich. Nur vereinzelt blieben noch Kurgäste zurück, die wußten, daß die klaren Herbsttage mit ihrem wunderbaren Farbenspiel die schönsten am Meere sind.

Auch Frau Doktor Braun war abgereist. Die Scheidestunde, vor der sie sich die ganzen Wochen ihres Wittdüner Aufenthaltes gefürchtet hatte, ging besser vorüber, als sie gedacht. Annemarie hatte ihren Vorsatz, nach Berlin mit zurückzukehren, vollständig vergessen. Es war ja so herrlich im Wittdüner Kinderheim! Freilich, wenn Mutti immer dageblieben wäre, dann würde es noch viel schöner gewesen sein. Aber Doktors Nesthäkchen war vernünftig genug, einzusehen, daß der Vater und die Brüder nun auch die Mutter wieder daheim haben wollten. Und sie hatte ja Tante Lenchen hier und auch oll Modder Antje, die gütig wie eine Großmutter zu dem fremden Stadtkinde war. Nach Vater hatte sie ja dolle Sehnsucht, aber statt der Brüder hatte sie so lustige Gesellschaft hier, daß sie die kaum entbehrte. Besonders der wilde Klaus ward aufs beste von dem ungezogenen Peter vertreten.

So wurde der Mutter der Abschied schwerer als ihrer Lotte selbst.

»In einem Jahr bin ich doch wieder zu Haus – ein Jahr ist ja gar nicht lang, Muttichen«, jetzt war es Annemarie, welche die Mutter tröstete. Immer wieder drückte Frau Doktor Braun feuchten Auges ihr Nesthäkchen ans Herz, ehe sie sich dazu entschließen konnte, den Dampfer zu besteigen. Ein Jahr ist gar nicht lang – für ein sorgloses Kindergemüt wohl nicht, aber einer Mutter, die sich von ihrem Kinde trennen soll, erscheint es endlos.

»Grüß’ Vatchen und die Jungs, und Großmama und Hanne, und Tante Albertinchen und Puck, auch Margot und Fräulein, wenn sie mal zu Besuch kommt – grüß’ ganz Berlin – auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!« so brüllte Doktors Nesthäkchen hinter dem in See stechenden Schiff her und ließ ihr Taschentuch ganz fidel in der Meeresbrise flattern. Und alle Kinder des Clarsenschen Heims standen oben auf der Düne, wehten mit ihren weißen Tüchern und schrien ebenfalls: »Auf Wiedersehen!«

Die schwimmenden Augen der Mutter konnten bald ihre Lotte nicht mehr aus dem Kinderknäuel herauserkennen. Die aber balgte sich bereits, trotzdem das Schiff noch nicht einmal ihren Augen entschwunden war, mit Peter in dem weißen Sande herum. Mit dem Schlingel verband sie neuerdings nämlich eine innige Freundschaft – leider.

Die sanfte Gerda bildete zum Glück das Gegengewicht gegen den durchtriebenen Strick. Solange Annemarie mit Gerda zusammensaß, war sie das bravste Kind, das man sich denken konnte. Aber immer war Annemarie nicht zum Puppenspiel, zum Gärtchenbauen und Muschelverkauf aufgelegt. Ab und zu wollte auch der Wildfang in ihr sein Recht haben, besonders mit den wiederkehrenden Kräften. Dann kam ihr der Peter stets sehr gelegen.

Selbst in den Unterrichtsstunden, an denen jetzt auch Annemarie teilnahm, machte sich Peters böser Einfluß bemerkbar. Annemarie Braun war stets in Berlin eine gute Schülerin gewesen. Nur durch ihr lebhaftes Wesen und durch ihre Unordentlichkeit hatte sie nicht immer den ersten Platz behaupten können. Auch hier in Wittdün war sie bald eine der besten. Klassen gab es dort nicht, dazu waren zu wenig Kinder. Mädchen und Jungen wurden in Rechnen, Religion, Geschichte und Geographie zusammen unterrichtet. Diese Lehrstunden gab Herr Jessen, der Lehrer der dortigen Schule. Das war ein freundlicher, kurzsichtiger Herr, der so begeistert von seinem Lehrstoff war, daß er in seiner Kurzsichtigkeit nicht bemerkte, wenn einzelne Schüler inzwischen Dummheiten trieben. Dies machte sich der Peter natürlich zunutze. And leider verführte er auch Annemarie öfters dazu.

Deutsch und Französisch, das Annemarie auch seit kurzem trieb, gab Fräulein Mahldorf. Sprachunterricht hatten die Großen getrennt von den Kleinen. Fräulein Mahldorf wußte sich bei all ihrer Liebenswürdigkeit durchaus in Respekt zu setzen. Selbst die Jungen wagten nicht bei ihr zu mucksen. Umso toller trieb man es in der englischen Stunde bei Miß John. Das fehlerhafte Deutsch der Engländerin gab stets Lachstoff, und wenn Kinder erst lachen, dann ist es leicht mit dem Respekt vorbei.

Annemarie sollte eigentlich noch gar keinen englischen Unterricht mitnehmen, sondern die Zeit lieber im Freien zubringen. Aber da man sich so gut bei Miß John amüsierte, fand sie sich auch regelmäßig zur Stunde ein. Miß John freute sich über den Eifer des kleinen Mädchens, das bei seiner guten Auffassungsgabe eine ganze Menge lernte.

Es war in der Geographiestunde. Der Zeigestock des Herrn Jessen reiste auf der Landkarte von Afrika umher, während die Gedanken einiger seiner Schüler andere Wege einschlugen. Peter, der seinen Platz hinter Annemarie hatte, zupfte sie an einem ihrer blonden Rattenschwänzchen.

»Du, laß das, sonst sag’ ich’s Herrn Jessen«, das Läuten an ihren Zöpfen war der Kleinen nun mal ein Dorn im Auge. Darum tat es der Peter auch stets.

»Petze!« sagte der Junge und weiter nichts. Aber nach einem Weilchen begann er doch wieder: »Du, Annemarie, ich weiß was.«

Annemarie war von Natur aus ziemlich neugierig. Daher interessierte sie sich mehr für die Mitteilung des Jungen als für Herrn Jessens Kongostaat.

»Was denn – was ist es denn?«

»Sag’ ich nicht – höchstens, wenn du mir deine Burg am Strand überläßt.«

Nun gehörte die Burg eigentlich gar nicht Annemarie allein. Sie hatte sie in vielen mühseligen Tagen mit Gerda und Ellen zusammen gebaut. Jeder hatte seinen Sitz darin, sogar die Puppen. Gärtchen mit Lauben aus geflochtenen Stranddisteln waren dort angelegt. Das schönste daran aber war der hohe Muschelturm, der mit vielem Fleiß zusammengetragen war. Er hatte eine kleine Fahne, die im Winde wehte.

Annemarie zauderte. Aber die Neugier siegte. »Meinetwegen«, flüsterte sie. Wenn Ellen und Gerda die Burg schließlich nicht hergaben, konnte sie ja nichts dafür.

»Also oll Vadder Hinrich fährt heut’ auf Seehundsjagd.« Der Junge machte eine großartige Pause.

»Weiter nichts?« Annemaries Gesicht war höchst enttäuscht. Na, dafür bekam er ganz gewiß nicht ihre Burg.

»Es kommt doch erst, du Affenschwanz.« Mit Kosenamen war Peter höchst freigebig. »Wir wollen ihn bitten, daß er uns auf seinem Kutter zu den Sandbänken mitnimmt.«

»Erlaubt Tante Lenchen ja doch nicht.«

»Ja, wenn du erst um Erlaubnis fragst, du dämliches Ding.«

Die flüsternde Unterhaltung mußte abgebrochen werden, denn Herr Jessen putzte seine Brille und nahm die unaufmerksame Ecke aufs Korn.

Nach der Stunde hängte sich Annemarie geschwind an Gerdas Arm, um dem bösen Peter zu entwischen. Sicherlich wollte er sie zu etwas Ungezogenem verleiten, denn sonst hätte sie doch Tante Lenchens Erlaubnis dazu einholen können.

Gerda erzählte ihr, daß morgen Fräulein Julchen mit Nadelkissen, Brille und Wachs, mit Pompadour und Filzschuhen auf acht Tage in Villa Daheim erwartet wurde, um alle zerrissenen Kleiderärmel und Kinderhöschen auszubessern. Diese acht Tage waren stets ein Fest für die Clarsenschen Kinder, da das bucklige Fräulein Julchen sich allgemeiner Beliebtheit erfreute. Ein paar der kleinen Gesellschaft hockten immer um ihre Nähmaschine herum, denn Fräulein Julchen steckte voll abergläubischer Geschichten. Annemarie, die Neue, war natürlich sehr begierig auf die bucklige Näherin. Trotzdem irrten ihre Gedanken öfters von derselben ab zu den Seehunden von oll Vadder Hinrich. Eine Segelfahrt hatte sie sich schon immer gewünscht. Aber Frau Kapitän ließ die ihr anvertrauten Kinder nicht auf See.

»Du, ich gehe jetzt zu Vadder Hinrich«, Peter hatte sich gerade die richtige Zeit für seine Mitteilung ausgesucht. Denn Annemarie, die ihre Liegekur auf der Südterrasse nach Tisch abmachen mußte, langweilte sich dabei nach der Schwierigkeit.

»Ich weiß auch, warum du nicht mit willst«, flüsterte der schlaue Peter ihr weiter zu.

»Na, weshalb denn?«

»Weil du Angst vor den Seehunden hast, bloß weil du feige bist!«

»Jawoll« – Annemarie sprang so ungestüm aus ihrem Liegestuhl, daß Gerda, die unweit von ihr ebenfalls in der Sonne ruhte und dabei ein wenig eingeschlummert war, erschreckt den Lockenkopf hob.

»Wo willst du denn hin, Annemarie?«

»Ich komme gleich wieder.« Die Freundin wurde rot, denn sie schämte sich vor Gerdas klaren Augen, daß sie im Begriff war, etwas Unrechtes zu tun. Aber daß sie Angst vor den Seehunden hatte – nee, das ließ sie nicht auf sich sitzen.

Ein paar Minuten später schoben sich Peter und Annemarie zur Tür des Friesenhäuschens hinein, wo oll Vadder Hinrich gerade im Begriff war, seine gestrickte Hausjoppe mit der Öljacke zu vertauschen.

»Ih, wat kummt denn da«, der Alte war wie seine Frau ein großer Kinderfreund.

»Vadder Hinrich –«, Peter druckste zuerst ein bißchen, »fahren Sie heute auf Seehundsjagd?«

»Na woll ok – willst mit, min Jünging?«

Der Alle schob schmunzelnd den schwarzen Priem, der seinen Mund in beständig kauender Bewegung hielt, auf die andere Seite. Er machte nur Spaß.

»Ja, ach bitte, nehmen Sie mich und die Annemarie doch mit! Die Annemarie möchte auch so furchtbar gern.«

Davon wußte eigentlich das kleine Mädchen selbst gar nichts. Es wollte nur nicht vor Peter für feige gelten.

»Süh hin, de lütte smucke Deern ok? Seehunds sünd keene Pöpjes (Puppen) nich, min Lütt. Un wenn dat Wedder umslaggen dut, un wat so ’ne düchtige Seebrise is, euch ’n büschen um de Näs rümmerwehn dut, denn werd’ ihr am End doch bang sünd.«

»Nee, nee, wir sind nicht bang – keine Spur«, beteuerte der Junge unternehmungslustig; während das »Nee« des kleinen Mädchens bedeutend weniger unternehmungslustig klang.

»Na denn man tau (zu), aber ’n büschen fixing möt dat geihn (muß das gehen). Zieht wasserdichte Kledasch an, Kinnings. Ick wart up (auf) euch denn unten ans Boot.« Oll Vadder Hinrich kam es nicht in den Sinn, daß zu solcher Segelfahrt, wie er sie ja täglich unternahm, noch etwas anderes als wasserdichte Kledasch nötig wäre, nämlich die Erlaubnis der Mutterstelle vertretenden Damen. Seine fünf Jungs, die hatten, sobald sie herumkrabbeln konnten, auf dem Wasser gelegen, eine besondere Erlaubnis wurde dazu nicht erst erteilt.

Frohlockend wollte Peter mit Annemarie, der das Herz ein wenig schlug in dem deutlichen Bewußtsein, etwas Unerlaubtes zu tun, zur Tür hinaus. Da trat ihnen oll Modder Antje, den dampfenden Kaffeetopf mit den gemalten bunten Bauernblumen in der Hand, aus der Küche entgegen.

»Je, Kinnings, laßt ihr euch ok mal wedder seihn (sehen), wo geiht (geht) euch denn dat?« sagte sie erfreut. »Kummt doch noch ’n büschen rin in de Stub’, dat wir uns eins verteilen (erzählen) können.« Fürs Erzählen war Mutter Antje immer zu haben.

»Ach nee, wir können heut’ nicht«, gab Peter ausweichend zur Antwort.

»Wir wollen doch mit Ihrem Mann auf die Seehundsjagd, Mutter Antje«, fiel Annemarie, die nicht gewöhnt war, mit irgend etwas hinter dem Berg zu halten, ein.

Peter gab ihr einen ärgerlichen Knuff, aber nun war es heraus.

»Wat wollt ihr?« fragte Mutter Antje, als traue sie ihren Ohren nicht. »Jo, weiß denn dat uns Fru Kaptän?«

Das war eine böse Frage. Die beiden kleinen Seehundsjäger wußten darauf keine rechte Antwort zu geben.

»Oll Vadder Hinrich will uns doch mitnehmen«, stieß Peter schließlich möglichst sicher hervor.

»Wat willst?« Mutter Antje wandte sich jetzt zu ihrem Mann. »De lütten Kinners willst du mit up See nehmen, wo uns’ Fru Kaptän dat doch ihr Lebdag nich zugewen (zugeben) dät. Jo, is ehr Haar denn woll noch nich weiß genug?« Mutter Antjes alter Kopf nickte ernst mit ihrer schwarzen Haube um die Wette.

Annemarie begann zu weinen. Der Erinnerung an die weißen Haare der Frau Kapitän hatte es nur noch bedurft, um ihr das Unrecht, das sie begehen wollte, völlig vor Augen zu führen. Peter dagegen rührte das weniger. Der machte sich mit einem verächtlichen »Alte Klatsche!« auf Annemarie schleunigst davon. Oll Vadder Hinrich aber brummelte vor sich hin: »Ih, dat is doch nix nich so Slimmes, wenn so ’ne lütte Görens mal mit up See wulln!«

Mit bedeutend leichterem Herzen verließ Annemarie das Friesenhäuschen, als wie sie dasselbe betreten. Eigentlich war sie heilfroh, daß Mutter Antje noch zur rechten Zeit dazwischen gefahren war. Bald ruhte sie wieder so brav und zahm neben Gerda auf ihrem Liegestuhl, als ob sie nie die Absicht gehabt hätte, auf Seehundsjagd zu gehen. Von nun an wollte sie aber auch bestimmt, falls der böse Peter sie wieder mal zu etwas Verbotenem verleiten würde, an die weißen Haare der Frau Kapitän denken.

Ja, wenn Doktors Nesthäkchen bloß nicht solch ein kurzes Gedächtnis gehabt hätte! Auch Peter hatte es leider. Denn seine Vornahme, das alberne Ding, die Annemarie, nie wieder in seine Geheimnisse einzuweihen, da Mädels den Mund nicht halten können, hatte er schon nach wenigen Tagen vergessen.

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