Читать книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury - Страница 59
18. Kapitel
Weihnachtsabend fern vom Elternhause
ОглавлениеErst als die Schneeflocken weich und dicht zur Erde herniederflogen, durfte Tante Lenchen ihren altgewohnten Platz am Mittagstisch neben Annemarie wieder einnehmen.
Das waren böse Wochen für Villa Daheim. Alles schlich auf den Zehen, keins der Kinder wagte laut zu lachen oder gar zu lärmen. Schwebte doch Tante Lenchens Leben tagelang in Gefahr.
Am meisten litten Annemarie und Peter unter der gedrückten Stimmung. Wenn Frau Kapitän mit versorgten Mienen an den Mittagstisch trat und ihr weißes Haar noch gebleichter erschien, wenn die Lehrerinnen, ja sogar die Dienstboten Tränen in den Augen hatten, sobald sie von Tante Lenchen sprachen, dann kamen sich Annemarie und Peter ganz entsetzlich schlecht vor. Waren sie doch die beiden Schuldigen, durch deren Ungehorsam ihre liebe Tante Lenchen krank geworden.
Innig baten sie den lieben Gott, sie doch nicht gar zu hart zu strafen und Tante Lenchen wieder gesund zu machen. Und der liebe Gott erhörte ihr Flehen.
Etwas blaß war Tante Lenchen zwar noch immer. Aber als die Weihnachtswoche ins Land zog, konnte sie zum erstenmal wieder über die weißen, schneebedeckten Dünen in die silbern flimmernde Heide hinein spazierengehen. Annemarie und Peter durften sie begleiten, zum Zeichen, daß Tante Lenchen ihnen ganz verziehen hatte.
Nun erst ward den beiden das Herz wieder frei und froh, und sie konnten wie die andern Kinder dem schönsten Fest im Jahre entgegenjubeln.
Freilich anders, ganz anders kam das liebe Weihnachtsfest hier, als wie Doktors Nesthäkchen es daheim von Berlin her gewöhnt war. Da war nichts von dem lauten Getriebe der Millionenstadt, das gerade in der Weihnachtswoche seinen Höhepunkt erreichte. Keine glänzenden Schaufenster mit hohen, funkelnden Christbäumen, keine Märchenausstellungen, wie sie die großen Berliner Warenhäuser zur Weihnachtszeit zeigten. Kein Eilen und Hasten in den Straßen, kein Drängen in den Geschäften. Weder Jungen mit quiekenden Mäusen, noch mit schnarrenden Knarren erfüllten die Straßen mit ihrem Radau – alles still, feiertäglich still. Nur im Hause war eifriges Treiben. Da wurde geseift, gescheuert, geklopft und geputzt. Da wurde tagelang gebacken, Christstollen und Pfefferkuchen, Mohn-und Friesenkuchen und Marzipan. Die Kinder schnupperten wie Hündchen in die verheißungsvolle Luft. In der großen Küche unten im Kellergeschoß bei Line trieben sie sich jetzt am liebsten herum.
Ein Teil der Clarsenschen Zöglinge war zum Weihnachtsfest heimgefahren. Vorwiegend die Großen, die keine Reisebegleitung mehr brauchten. Doktors Nesthäkchen wäre auch für ihr Leben gern nach Hause gereist. Eigentlich konnte sie sich einen Heiligabend ohne Vater und Mutti, Hänschen und Kläuschen, ohne Großmama und Tante Albertinchen gar nicht vorstellen. Aber sie wagte nicht, die Eltern in ihren Briefen mit Bitten zu bestürmen, wie sie es sonst wohl getan hätte. Sie hatte ein noch gar zu schlechtes Gewissen wegen ihres Wattabenteuers und Tante Lenchens Erkrankung. Denn nach Haus geschrieben hatte Annemarie natürlich als aufrichtiges Kind alles ganz ausführlich. Und ebenso natürlich war, daß ein sehr ernster Brief mit Vorhaltungen und Ermahnungen von den Eltern darauf erfolgte, wie ihn Nesthäkchen noch nie erhalten. Frau Doktor Braun zitterte noch nachträglich um ihr Kleinstes, am liebsten hätte sie ihre Lotte sofort heimgeholt. Großmama bestärkte sie darin, hatte sie es denn nicht gleich gesagt, mit dem Meer sei nicht zu spaßen? Noch dazu jetzt im Winter. Aber Doktor Braun beruhigte die Damen. Es war ja nichts passiert, und ein zweites Mal würde sich Annemarie sicher nicht in Gefahr begeben, dazu hatte sie zuviel Angst ausgestanden. Auf alle Fälle konnte man ja das Wattlaufen verbieten. Aber es wäre doch schade, wo die Berichte über die Erholung ihres Töchterchens so glänzend lauteten, dieselbe frühzeitig abzubrechen. Auch für einen Weihnachtsaufenthalt in der Heimat war der überlegte Arzt nicht. Nachher lösten sie sich wieder aufs neue schwer voneinander. Das beste war, ihre Lotte blieb ruhig das ganze Jahr dort auf Amrum.
Da auch Gerda, Peter, Vronli und Gretli, Lothar und Klein-Annekathrein nicht heimreisen durften, fand sich Annemarie schnell mit der Enttäuschung ab. Sie sollte es nicht zu bereuen haben, in Wittdün geblieben zu sein; denn dieser Heiligabend am Nordseestrand war für Nesthäkchen eine Erinnerung fürs ganze Leben.
Zuerst kam das Paketemachen für die Lieben daheim. Ganz allein mußten die Kinder ihre Weihnachtskisten packen – das bereitete ihnen die größte Freude. Hatten sie doch alle schon wochenlang vorher fleißig die Finger geregt, um für jeden etwas Hübsches herzustellen. Die Mädchen hatten gestickt, gehäkelt und gemalt, und die Jungen geschnitzt und geklebt.
Alle hatte Doktors Nesthäkchen bedacht. Mit glückseliger Zufriedenheit beschaute es die schön gepackte Kiste. Da gab es zwei Rezeptbücher, eins für Vater und eins für Mutti. Das eine war für ärztliche Zwecke, das andere für Kochrezepte. Einen selbstgehäkelten Wollschal und eine Rodelmütze erhielten die Brüder. Für die Großmama hatte sie ein Brillenfutteral gestickt und es höchst sinnig mit einem Band versehen. Damit Großmama ihre Brille nicht mehr so oft verlegte. Tante Albertinchen, der alljährliche Weihnachtsgast, bekam einen Arbeitsbeutel für ihr Strickzeug aus bunten friesischen Bauerntüchern. Diese reizende Handarbeit hatte Frau Kapitän den kleinen Mädchen beigebracht. Auch Hanne und sogar Puck durften nicht leer ausgehen. Ein Kästchen aus selbstgesuchten Muscheln zu Nähsachen hatte »ihr Kind« für die Hanne verfertigt, und Puck wurde durch eine echt friesische Landwurst erfreut. Das Schönste aber für die Eltern war das selbstgeklebte Album mit photographischen Abzügen von Fräulein Mahldorf, das ihre Lotte und die übrigen Clarsenschen Kinder in allen möglichen Aufnahmen zeigte. Da war Nesthäkchen im hellblauen Badeanzug mit dem weißen Anker, dort in Spielhöschen in den Wellen herumpanschend. Hier mit Schippe und Eimer bewaffnet beim Burgenbauen, und jetzt gar als kleiner Hemdenmatz, im Luftbad am Reck hängend. Das letzte Bild zeigte sie vor der Prinzessin Heinrich in nicht gerade hoffähiger Toilette. Das beste aber für die Eltern war, was für ein rundes, frisches Gesichtchen ihnen aus all den Bildern entgegenlachte. Ordentlich drall waren die dünnen Arme und Beine wieder geworden. Wie ein blühendes kleines Bauernmädel schaute ihr Nesthäkchen jetzt aus. Das machte die Eltern, die das große Opfer der Trennung von ihrem Herzblatt gebracht, sehr glücklich. Frau Kapitän fügte jedem Kinderpaket noch selbstgebackene Friesenkuchen bei.
Mit welcher Aufregung wurden nun erst die Pakete aus der Heimat von den Kindern erwartet. Aber die kleinen Neugierigen mußten sich gedulden; vor der Bescherung erhielt keiner das seinige.
Durch die verschneite Heide über die weißen Dünen kam der Heiligabend endlich geschritten. Ruhig und feierlich lag das tiefblaue Meer da, als wisse es, daß heute kein Tag des lauten Tosens sei.
Den vereisten Strand entlang liefen am Frühnachmittag Peter und Annemarie neben Miß John. Ein Henkelkörbchen trug jedes der Kinder, damit schlidderten sie über die glattgefrorenen Stellen. Annemarie und Peter brachten der Leuchtturm-Christel einen Weihnachtsgruß, zum Dank für die liebevolle Hilfe damals in der Sturmnacht.
Himmel und Meer hatten bereits ihr Festkleid angelegt.
In orange, lila und grünen Farben erstrahlte es wunderbar. Auf den leisbewegten Wellen schaukelte sich ein weißes Segelboot – so friedlich, daß es den Kindern fast undenkbar schien, daß dies dieselbe See sei, die donnernd und brüllend sie damals in Schrecken gesetzt.
»Wenn die Großmama sehen könnte, wie herrlich solch ein schöner Wintertag am Meer ist, dann würde sie ihre Ansicht wohl ändern«, dachte Annemarie. Grau und farblos hielt dagegen der Heiligabend in Berlin meist seinen Einzug.
»Heute ihr nicht uerden laufen mich davon, Kinders. Heute ihr uerden bleiben in das Gehorsam«, sagte Miß John halb ernst, halb scherzhaft, als sie sich auf den Weg machten.
Beide Kinder wurden rot. Dann aber kam ihnen gerade am heutigen Tage zum Bewußtsein, wie gnädig der Himmel ihnen beigestanden. Alle beide nahmen sich vor, ihre Dankbarkeit durch Fleiß und tadelloses Betragen zu beweisen. Das waren gute Gedanken am Weihnachtstage.
In dem Häuschen des Leuchtturmwächters setzte die hellzöpfige Christel die Weihnachtsgrütze ans Feuer. Ein kleines Bäumchen, mit wenigen Lichtchen besteckt, wartete auf die Heimkehr des Vaters. Darunter lagen ein paar wollene Strümpfe, welche das fleißige Mädchen für den Vater gestrickt hatte. Ob sie selbst wohl auch etwas zu Weihnachten erhalten würde? Christel glaubte es nicht. Der Vater hatte die letzte Zeit schweren Dienst gehabt, er war kaum aus seinem Turm herausgekommen. Die Mutter war schon lange tot, und irgendwelche Verwandte, die an sie denken konnten, besaß sie nicht.
»Ja, wir zwei werden woll heut’ leer ausgehen, Miesebrecht, uns schenkt keiner was«, meinte sie ein wenig schwermütig zu dem schwarzen Kater, der zu ihren Füßen schnurrte.
Da ward die Tür geöffnet – nur eine schmale Spalte – herein schob sich ein Körbchen, wie durch Geisterhand. Und noch eins – ganz still stand die Christel, sie wagte sich nicht zu rühren.
Waren das die guten Onnerbankjes, die Heinzelmännchen, welche frommen Kindern am Weihnachtsabend schon so manches Mal einen Wunsch erfüllt hatten?
»Fröhliche Weihnacht!« – tönte es zum Stübchen herein. Das klang eigentlich ganz menschlich. Aber als die Christel jetzt beherzt aus der Tür trat, da war alles leer. Keine Menschenseele zu erblicken. Nun war die Leuchtturm-Christel ihrer Sache sicher. Kein anderer als die guten Onnerbankjes hatten ihr eine Weihnachtsüberraschung bereitet.
Das blonde Mädel ahnte nicht, daß hinter dem Holzschuppen zwei kleine Menschenkinder sich neben Miß John versteckt hielten, die jetzt zum Fenster schlichen, um die Freude der auspackenden Christel zu erspähen.
Ei, die schöne warme Jacke, die würde an Sturmtagen gut warm halten. Und die allerliebste Brosche, längst hatte sich die Christel eine gewünscht. Eine Sonntagsschürze aus feinem Battist – was, immer noch mehr? Bunte Zopfbänder – nein, auch noch ein Buch! – Wer anders sollte ihr das wohl alles geschenkt haben als die Heidemännlein! Das andere Körbchen war mit guten Eßwaren gefüllt: mit Äpfeln, Pfefferkuchen und Nüssen, Christstollen und einem leckeren Schinken. Diesen Korb umstrich Miesebrecht, der Kater, verständnisinnig. Sicher hatten die guten Onnerbankjes dabei auch an ihn gedacht.
Als Peter und Annemarie mit rosenroten Wangen und Näschen – denn es war tüchtig kalt geworden – aufs höchste befriedigt von ihrer Weihnachtswanderung heimkehrten, gab es für sie auch noch allerlei zu schaffen. Vadder Hinrich hatte für jedes der Kinder ein niedliches Tannenbäumchen aus der Heide geholt. Das durften sie sich selbst nach eigenem Geschmack schmücken. Gerda behängte den ihren mit bunten selbstgeflochtenen Papierketten, mit zierlichen Körbchen und rotbäckigen Äpfelchen. Auch Vronli und Gretli, Lothar und Klein-Annekathrein fanden einen recht bunten Baum am schönsten. Peter war nur für Silberlametta und vergoldete Tannenzapfen. Annemarie aber machte sich ein weißes Winterbäumchen. Nichts weiter als flimmernde Schneewatte und Lichter, so sah Großmamas Weihnachtsbaum immer aus, während der in Nesthäkchens Elternhaus glänzende Kugeln, flimmernde Sterne und allerlei Süßes für die drei Leckermäulchen zu tragen pflegte.
Nun standen all die Bäumchen fix und fertig da. Dörthe trug sie in das Weihnachtszimmer. Jedes Kind hatte dort sein Tischchen, auf dem die unausgepackten Pakete aus der Heimat lagen. Aber noch andere schöne Sachen waren darauf ausgebreitet. Doch – das darf ich ja noch nicht verraten!
Seit dem Tode ihres kleinen Knaben pflegte Frau Kapitän Clarsen alljährlich den Kindern der in den Wellen ums Leben gekommenen Lotsen, Schiffer und Fischer den Weihnachtsbaum anzuzünden und ihnen zu bescheren. Auch heute traten die kleinen flachsblonden Friesenkinder mit dem feierlich durch die Winterheide ziehenden Glockenklang zugleich an. Sorgsam traten sie sich draußen auf der Matte den Schnee von den Nagelschuhen. Dann schoben sie sich verlegen mit »Ick wünsch’ de Fru Kaptän ok ’n gesegnetes Fest« näher. Im Eßsaal ward für die kleinen Waisen der Weihnachtsbaum angezündet. Aber nicht nur seine Lichter waren es, die das Zimmer so festtäglich erstrahlen ließen. Die glücklichen Kinderaugen alle strahlten mit den Weihnachtskerzen um die Wette. Sie warfen ihren hellen Schein auch in das Herz der einsamen Frau mit den weißen Haaren und machten es froh und zufrieden.
Die Clarsenschen Kinder, die den armen Kleinen ebenfalls gern eine Freude machen wollten, hatten die Erlaubnis erhalten, daß jedes ein Stück von seinem Spielzeug herschenken durfte! Die meisten Mädelchen besaßen mehrere Puppen, da gaben sie den kleinen Blondköpfchen mit Freuden eine ab. Annemarie aber hatte nur ihre Gerda.
»Nein, Gerdachen, dich geb’ ich nicht weg, wir beide bleiben zusammen, bis wir alt und grau sind. Mit dir sollen meine Kinder und Enkelchen noch mal spielen«, sagte Doktors Nesthäkchen leise zu ihrer Puppe, die mit ängstlichen Glasaugen das unter ihren Spielsachen eine Auswahl treffende kleine Mädchen beobachtete. »Lieber gebe ich meinen großen Gasball oder eins meiner Märchenbücher.«
Mit »Vel (viel) Dank ok, Fru Kaptän«, schurrten die kleinen Füßchen wieder aus dem Hause hinaus.
Nun endlich kam die Bescherung für die Bewohner der Villa. Die Kinder konnten es schon gar nicht mehr erwarten. Als die Weihnachtsklingel erklang und die Türen zum Zimmer der Frau Kapitän, das die Zöglinge sonst nur selten betraten, sich öffneten, wagten sie sich zuerst nicht näher. Viele Tischchen standen in dem geräumigen Zimmer, und auf jedem flammte das selbstgeputzte Weihnachtsbäumchen. Ganz anders als zu Hause sah es aus und doch – als Fräulein Mahldorf am Klavier jetzt »Stille Nacht, heilige Nacht« anschlug, und alles mit heller Stimme einfiel, da hatte kein Kind das Gefühl, in der Fremde zu sein. Dasselbe Lied sangen jetzt die Eltern und Geschwister daheim, die Klänge des Weihnachtsliedes verbanden sie mit ihren Lieben in der Ferne.
Kaum war der letzte Ton verzittert, so war auch kein Halten mehr. Ein jedes stürzte zu seinem Tischchen, das es an dem Weihnachtsbäumchen herauserkannte. Aber noch immer wurden die verheißungsvoll umfangreichen Pakete aus der Heimat nicht geöffnet. Da lag noch so manches, was erst noch mit Jubel in Empfang genommen werden mußte. Jedem der kleinen Mädchen hatte Frau Kapitän einen Bernsteinanhänger an einem Kettchen zur Erinnerung geschenkt. Von Tante Lenchen bekamen sie ein Album mit Ansichten der Insel Amrum. Fräulein Mahldorf hatte ihnen »Friesische Sagen und Märchen« aufgebaut, und selbst Miß John hatte auf jedes Tischchen ein Päckchen Schokolade gelegt. Das war ein Glück, ein Freuen und sich Bedanken. Dann aber ging’s an die Heimatskiste. Die Papiere und Schnüre flogen, glückselige Ausrufe begleiteten ein jedes Stück, das den Tiefen der Kisten entstieg.
»Ein Täschchen – ein Sonntagskleid – ach, die entzückenden Schuhchen – Hurra, ich hab’ den Rodelschlitten, den ich mir gewünscht – und ich die Markensammlung. – Tante Lenchen, sehen Sie bloß mal, eine richtige Uhr« – so ging das hin und her.
Frau Kapitän und Tante Lenchen hatten die Gabe, sich mit jedem der Kleinen mit zu freuen. Vor soviel Kinderglück mußte jede trübe Erinnerung, die gerade an festlichen Tagen des Jahres ihre Stimme besonders laut zu erheben pflegt, verstummen.
Aber die Damen selbst gingen auch nicht leer aus. In der Handarbeitsstunde bei Fräulein Mahldorf hatten die Mädelchen alle für Frau Kapitän und für Tante Lenchen emsig gestichelt. Kissen und Deckchen, Körbchen und Läufer waren da entstanden, mit denen die so treu für sie Sorgenden erfreut wurden.
Inzwischen hatte Frau Kapitän ihren Dienstboten, Line und Dörthe, den Weihnachten beschert. Auch in den Heimatspaketen der Kinder fand sich eine nette Kleinigkeit für die Mädchen des Hauses. Außerdem war es Sitte, daß die Zöglinge jedem Mädchen drei Mark gaben. Von ihrem Taschengelde, das Frau Kapitän für die Kinder verwaltete, wurden ihnen dieselben ausgezahlt.
Für Annemarie bedeutete das eine schwierige Überlegung. Die Kleine hatte nicht vergessen, daß Dörthe damals kurz nach ihrem Eintritt ihre Unordentlichkeit Tante Lenchen gemeldet hatte. Was – dafür, daß die Dörthe sie verklatscht hatte, sollte sie ihr noch obendrein einen ganzen Taler schenken? Nein, das tat sie bestimmt nicht. Zehn Pfennige war mehr als genug für sie. Was konnte man sich für einen Groschen nicht alles kaufen! Ein kleines Badepüppchen, einen Triesel, einen winzigen Ball, Gummizucker und Johannisbrot. Nein, wirklich, die Dörthe konnte noch ganz zufrieden sein, wenn sie ihr einen ganzen Groschen schenkte!
Nachdem Doktors Nesthäkchen Line, der Köchin, ihren Taler und den Blusenstoff von den Eltern überreicht hatte, wandte sie sich an Dörthe. Auch diese bekam aus Berlin einen netten Stoff.
»Da«, sagte Annemarie und händigte dem Hausmädchen das Geschenk der Eltern ein, »und hier ist noch ein Groschen für Sie, Dörthe« – das klang ungeheuer großartig – »und wenn Sie mich, als ich herkam, nicht verklatscht hätten, daß ich meine Sachen herumliegen lasse, hätte ich Ihnen sogar einen Taler geschenkt!« So – die Dörthe sollte wenigstens doch auch wissen, warum die Line einen Taler bekam, und sie nur einen Groschen.
Das Mädchen machte ein ganz betroffenes Gesicht. Viele Jahre war sie schon in der Villa Daheim, aber solch ein Weihnachten hatte ihr noch kein Kind angeboten. Sie wußte nicht, sollte sie sich ärgern oder lachen.
Auch Tante Lenchen, die Annemaries Rede gehört, mußte sich zur Seite wenden, um ihre belustigte Miene zu verbergen. Dann aber neigte sie sich zu dem energischen kleinen Blondkopf herab.
»Annemarie,« flüsterte sie ihr zu, »hätte die Dörthe mir damals nicht mitgeteilt, daß du deine Sachen herumliegen läßt, dann würde ich mich jetzt bei der Wochenkontrolle wohl nicht jedesmal über deinen Schrank und deine Kästen freuen können. Du bist der Dörthe nur zu Dank verpflichtet, daß du jetzt ein ordentliches kleines Mädchen geworden bist!« sagte sie mahnend.
Doktors Nesthäkchen wurde rot. Es schwankte. Dann aber siegte Annemaries gutes Herz. Wenn das wirklich so war, daß sie der Dörthe dankbar sein mußte – und Tante Lenchen mußte es doch wohl wissen – dann war es Anrecht, dem Mädchen den Taler nicht zu geben. Schnell lief die Kleine hinter Dörthe her.
»Da, Dörthe, ich hab’s mir doch anders überlegt, da haben Sie Ihren Taler! Aber den Groschen müssen Sie nun wiedergeben: Jetzt lachte die Dörthe wirklich über das drollige kleine Mädchen – Annemarie fand das ganz in der Ordnung. Natürlich, die konnte sich auch freuen, wenn sie den Taler nun doch noch bekam.
Nachdem die Bescherung in der Villa vorüber war und die schönen Geschenke genugsam bewundert worden, schlüpften die Clarsenschen Kinder in ihre warmen Mäntel. Nun ging es zu Vadder Hinrich und Modder Antje in das mit Eiszapfen behangene Friesenhäuschen, denen ihren Weihnachten zu bringen.
Ein bewunderndes »Ah« entschlüpfte den Kinderlippen, als sie die Tür des buntkacheligen Friesenstübchens öffneten. In der Mitte hing von der Decke herab eine weihnachtliche Bauernkrone aus Tannengewinde und bunten, herabflatternden Bändern, ringsum im Kreise mit brennenden Lichtchen besteckt.
»Ih, sowat habt ihr lütten Stadtdeern doch woll noch nich seihn (gesehen)«, sagte Mutter Antje zu ihren bewundernden kleinen Gästen. »Nu sollt ihr aber ok min (meinen) Weihnachtskuchen kosten.« Gutmütig stopfte sie die Mäulchen und Händchen mit Gebäck voll. Kaum nahm sie sich vor lauter Gastlichkeit Zeit, die Gaben, die Tante Lenchen für sie beide auf dem weißgescheuerten Tisch ausbreitete, in Empfang zu nehmen.
Am meisten freuten sich Vadder Hinrich und Modder Antje über Annemaries Weihnachtsgeschenk. Das kleine Mädchen hatte die böse Sturmnacht, in der die beiden alten Leutchen sie heimgeholt, nicht vergessen. Dankbar hatte sie jedem von ihnen ein Paar Pulswärmer gestrickt.
»Nee, wo nüdlich! Dat hat de lütte Deern selbst für uns makt (gemacht)?« Oll Modder Antje konnte sich gar nicht vor Freude beruhigen.
Vadder Hinrich aber ging an die alte Truhe in der Ecke und begann darin zu kramen. Dann brachte er sieben allerliebste Segelschiffchen herbei, die er für seine kleinen Freunde verfertigt. Ei, die sollten im nächsten Sommer aber tüchtig auf den Wellen schaukeln!
Die ganze kleine Gesellschaft nahm nun auf der Ofenbank um den grünen Kachelofen, in dem das Kienfeuer gemütlich prasselte und knackte, Platz. Mutter Antje holte ihren Spinnrocken herbei – denn am Weihnachtsabend spinnt man sich den Segen für das kommende Jahr ins Haus, so berichtet die friesische Sage. Oll Vadder Hinrich stopfte sich seine Pip Toback. Und nun ging’s ans Vertellen (Erzählen). Der Faden des Spinnrädchens schnurrte mit dem Faden der Erzählung der Alten um die Wette.
Mit heißen Wangen und glänzenden Augen lauschten die Kinder. Wie die guten »Onnerbankjes« – so heißen die kleinen Geister, weil sie heimlich unter der Bank hocken und alles im Hause hören und sehen – dem armen Fischer am Weihnachtsabend einen goldenen Fisch ins Netz gezaubert, daß er Geld genug hatte, sein Leben lang. Wie sie der armen Witwe mit den hungrigen Kleinen den Wundertopf geschenkt, in dem stets eine gute Weihnachtsgrütze brodelte. Wie sie dem Kranken einen Trank von vielerlei Heidewurzeln gebraut, daß er wieder ganz gesund wurde. Aber auch von Schabernack, von so mancher Strafe wußte die spinnende Alte zu berichten, welche die kleinen Wichtelmännchen den faulen und schlechten Menschen zuteil werden ließen.
Ängstlich lugte der Peter unter die Ofenbank, auf der er saß. Hockte da auch keiner von den winzigen Gesellen, die ihm übel mitspielen wollten? Denn ein ganz reines Gewissen hatte der Peter eigentlich niemals.
Aber alles nimmt mal ein Ende, leider auch der Weihnachtsabend. Durch den schneeknirschenden Garten stampften die Kinderfüße wieder zurück zur Villa. Annemarie Arm in Arm mit ihrer Freundin Gerda. Beide blickten zum sternfunkelnden Himmel empor. Stern an Stern blitzte und flammte da – das war der himmlische Weihnachtsbaum, den der liebe Herrgott für seine Englein dort droben angezündet.