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15. Kapitel
Die alte Näherin

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Inhaltsverzeichnis

Inzwischen hatte Fräulein Julchen mit Pompadour und Filzschuhen, mit Nadelkissen, Brille und Wachs ihren Einzug in Villa Daheim gehalten. Sie hatte das Fremdenzimmer bezogen, das im gleichen Stockwerk mit den Schlafzimmern der Kinder lag. Von morgens bis abends surrte ihre Nähmaschine, und von morgens bis abends schwirrte auch die Unterhaltung in dem kleinen Raum. Wenn Tante Lenchen oder eine der andern Damen die Kinder jetzt suchten, wußten sie gleich, wo sie dieselben finden würden. Wie beneideten alle Klein-Annekathrein, die noch keine Schule hatte und auch am Vormittag die Gesellschaft des buckligen Fräulein Julchens genießen konnte.

Zum Glück hatte Petrus ein Einsehen mit den Wünschen der Clarsenschen Kinder: Fast die ganze Woche goß es, was nur vom Himmel herunter wollte. Die Kinder konnten nicht aus dem Hause – zu ihrer größten Freude. Meer und Himmel verschwommen zu einem einzigen Grau, der Strand mit all seinen lustigen Burgen lag in dichtem Nebel.

Umso gemütlicher war es im Zimmerchen der alten Näherin, wo schon am frühen Nachmittag die Petroleumlampe mit dem grünen Schirm angezündet wurde. Denn bei elektrischem Licht konnte Fräulein Julchen nicht sehen, dazu waren ihre Augen zu altmodisch. Nicht einmal die großen Backfische verschmähten es, sich bei der alten Näherin einzufinden. Da saßen sie alle, wie die Hühner auf einer Stange, nebeneinander auf dem großen Ausziehtisch, der zum Zuschneiden benutzt wurde. Nur Peter kauerte ganz dicht neben der surrenden Maschine, aber nicht gerade zur Freude von Fräulein Julchen, denn sobald sie die Maschine einen Augenblick außer Betrieb setzte, um etwas mit der Hand zu nähen, hatten seine unnützen Finger heimlich den Lederriemen von dem Rad gelöst, und zur größten Verwunderung von dem alten Fräulein ging die Nähmaschine plötzlich nicht mehr. Dann begann sie, die Brille auf der Nasenspitze, daran herumzubasteln und zu probieren, bis sie endlich die Ursache entdeckte und auch gleichzeitig den Missetäter.

Meistens drohte das gutmütige Fräulein Julchen nur, aber manchmal ward ihr die Sache doch zu bunt. Dann wurde Peter unter jubelnder Beteiligung der andern Kinder an die Luft gefetzt, denn das schiefe, kleine Fräulein war allein zu schwach, um gegen den kräftigen Jungen aufzukommen.

Doktors Nesthäkchen war eine der größten Verehrerin von Fräulein Julchen geworden. Und noch eine – Puppe Gerda. Denn für die hatte Annemarie, die sonst den ganzen Tag im Freien zugebracht, jetzt endlich wieder Muße. Jedes der kleinen Mädchen brachte seine Puppe mit in die Nähstube. Da gab es bunte Flickchen und Puppenlappen in Mengen. Dort wurden unter Anweisung des guten alten Fräuleins Schürzchen, Hüte, ja, sogar auch Kleider für die Puppenkinder angefertigt. Die Backfische halfen den Kleinen, und die Jungen trieben Unfug und störten.

Am schönsten aber war es, wenn Fräulein Julchen ihre Gruselgeschichten zum besten gab. Dann rückten sie alle noch näher zusammen, um sich nicht zu graulen. Am meisten aber fürchtete sich die alte Näherin selbst bei ihren Schauergeschichten, denn eine Heldin war sie gerade nicht.

»Erzählen, Fräulein Julchen, bitte erzählen Sie uns was!« bettelten sie alle.

»Ja, aber recht was Gruseliges«, das war Peter, für den es nie toll genug werden konnte.

»Na, kennt ihr denn schon die Geschichte, wie unser Wittdün entstanden ist, Kinder?« Die bucklige Näherin putzte sich umständlich ihre Brille.

»Nein – nein – erzählen Sie!« still wurde es in dem Stübchen. Nur die Nähmaschine rasselte die Begleitung zu Fräulein Julchens eintöniger, etwas heiserer Stimme.

»Ja, das war hier alles mal Meer früher, vor vielen hundert Jahren. Da hausten bloß die Wassergeister in ihren glasgrünen Smaragdpalästen tief unten auf dem Meeresgrund. Und die jungen Nixen, mit den niedlichen Fischschwänzchen, die da immer in ihrem grünlichen Dämmerlicht sitzen mußten, ließen sich von ihrer alten Großmutter am liebsten Märchen erzählen. So erzählte ihnen die Alte auch mal, daß weit, weit von ihnen ein Festland sein sollte, wo nicht alles Wasser war, wo es einen blauen Himmel gab und goldenen Sonnenschein. Grüne Wiesen und fruchtbare Felder, bunte Blumengärten und große steinerne Städte waren auf jenem schönen Festlande. Die Erde hieß man es. Und Wesen lebten dort, die bewegten sich nicht wie die Bewohner ihres Wasserreichs durch Schwimmen vorwärts; nein – aufrecht, auf zwei Beinen schritten die einher. Menschen wurden sie genannt. Darüber mußten die jungen Nixlein laut lachen, denn das kam ihnen doch gar zu komisch vor, daß jemand aufrecht einherging und nicht auf dem Bauch schwamm wie sie.

Silberhärchen aber, die jüngste der Enkelkinder, konnte gar nicht genug von jenem merkwürdigen Lande hören, in dem die goldene Sonne strahlte. Immer wieder mußte ihr die Großmama davon erzählen. Schwamm sie mit ihrer Erzieherin, Fräulein Meerrobbe, spazieren, dann entwischte das junge Nixchen ihr manches Mal und schwamm auf eigene Faust weiter, um die Erde, von der die Großmutter erzählt, zu suchen. Ihr Vater, der König des Quallenreiches, war ärgerlich, wenn Fräulein Meerrobbe Klage über die ungehorsame kleine Prinzessin führte, die stets ihre eigenen Wege schwamm. Aber selbst das nützte nichts. Silberhärchen sehnte sich aus ihrem Wasserdämmerreich, in das nie ein Sonnenstrahl drang, zur lichten Erde empor.

Eines Tages war die Gelegenheit günstig. Fräulein Meerrobbe hatte eine dicke Backe und durfte nicht ausschwimmen. Silberhärchen sollte unter Aufsicht der alten dicken Hummer, ihrer Kinderfrau, welche sie einst in der Wellenwiege geschaukelt, im Schloßgarten spielen. Dieser Garten war der Stolz des Quallenkönigs. Dort gab es wundervolle alte Bernsteinbäume und leuchtende rote Korallenblumen. Silberhärchen aber fand es gar nicht schön in dem Garten. Die wollte gern die richtigen, grünen Bäume, von denen die Großmutter erzählt, auf Erden sehen. So entwischte sie der alten dicken Hummer, ehe die sie noch mit ihren großen Scheren festhalten konnte. Ganz allein schwamm das kleine Nixlein in das große, große Meer hinein, immer weiter und weiter. Heute mußte es die Erde finden, eine so günstige Gelegenheit kam niemals wieder. Kreuz und quer schwamm es, doch das Land, das es suchte, fand es nicht. Aber, was schlimmer war, es fand auch nicht mehr den Weg zurück in das Quallenreich. Schon wurden seine Arme müde, es konnte nicht weiterschwimmen. Da stieß es sich plötzlich an etwas Scharfem. Es war ein Felsenriff, das aus dem Meere emporragte. Das Nixchen klammerte sich daran, um auszuruhen. Da sah es, daß Steinstufen in den Felsen eingehauen waren, eine richtige Treppe führte in die Höhe. Neugierig, wie Silberhärchen war, hatte sie sogleich alle Müdigkeit vergessen. Eins, zwei, drei zog sie sich die Stufen empor. Es wurde lichter und lichter um sie herum. Und plötzlich mußte sich das Nixlein geblendet beide Augen zuhalten. Der erste Sonnenstrahl hatte es getroffen.

Als sich Silberhärchen allmählich an das glänzend goldene Licht gewöhnt hatte, hielt sie Umschau. Keine grünen Wiesen und keine Blumengärten waren da zu sehen, keine steinernen Städte und keine aufrecht gehenden Menschen. Nur Wasser, grünlich blaues Wasser mit weißen Schaumperlen ringsum. Silberhärchen befand sich auf einem Felsenriff, das mitten aus dem Meere emporragte. Da begann sie zu weinen, denn nun war sie weder daheim im Wasserreich bei den Ihren, noch auf der Erde, nach der sie sich gesehnt.

Der Quallenkönig aber schäumte vor Wut, daß das Meer hoch aufbrandete, als er von der Flucht seines Lieblingskindes Silberhärchen und von ihrer Sehnsucht nach dem Festlande erfuhr.

›So möge sie selbst zum Festlande werden!‹ rief er zornig. Schaurig klang der Fluch durch die grünen Wogen. Silberhärchen auf ihrem Felsenriff aber war plötzlich verschwunden. Statt ihrer hob sich eine schöne Insel mitten aus dem Meere empor mit grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern, mit Blumengärten und mit Menschen. ›Amrum‹ nannten die Menschen dieses neue Eiland. Die weit gen Süden ins Meer hineinragenden Dünen aber hießen sie Wittdün – weiße Dünen. Wenn einer jedoch genau hinsieht, so um Mitternacht bei Vollmondschein, dann flimmern und glänzen diese weißen Dünen wie lauter Silber. Das sind die hellen, welligen Silberhaare des verzauberten Nixleins. Oft aber, in wilden Sturmnächten, tut dem Quallenkönig sein Fluch leid. Dann heult er mit dem Sturm um die Wette, und die Flut streckt gierig ihre Arme nach dem verzauberten Eiland aus, es wieder ins Wasserreich zurückzuziehen.

An der Satteldüne, wo jetzt weite, kahle Sandflächen sich dehnen, standen einst grüne, blühende Ortschaften. Gewiß habt ihr schon mal was von den dort untergegangenen Dörfern Kniepham und Witjapham gehört. Die hat sicher der Quallen-König geholt.«

Immer leiser war die Stimme der buckligen Näherin geworden. Das letzte hatte sie nur noch zu flüstern gewagt. Ängstlich starrte sie zum Fenster, durch das der frühe Oktoberabend schaute. Gleichmäßig schlug der Regen gegen die Scheiben.

Die Kinder hatten atemlos gelauscht. Furchtsam faßte Klein-Annekathrein nach den Rockfalten des alten Fräuleins. Auch Gerda hatte herzklopfend die Hand ihrer Freundin Annemarie gefaßt. Keins sprach. Alle standen noch unter dem Bann des Märchens von der Entstehung Wittdüns.

»War das wundervoll graulich!« Annemarie, das Plappermäulchen, war die erste, welche die Sprache wiederfand.

»Ich geh’ nie mehr abends auf die Dünen«, Vronli flüsterte es ihrer Schwester Gretli zu.

»Aber ich!« fuhr Peter, der sich so leicht vor nichts fürchtete, übermütig dazwischen. »Ich werde das Nixlein mal an ihren Silberhärchen ziepen!« vorläufig begnügte er sich mit dem Zopf eines neben ihm sitzenden Mädchens.

»Pst – Jung – rede nicht so gottlos – daß dich der Quallenkönig nicht holt!« scheu blickte die abergläubische alte Näherin in alle Ecken des Stübchens.

Nach dem Abendessen winkte Peter Annemarie auf die Diele heraus.

»Du – ich habe ’ne feine Idee!«

Wenn der Peter eine seine Idee hatte, war es sicher etwas Ungezogenes. Trotzdem Annemarie das ganz genau wußte, siegte ihre Neugier.

»Was ist es denn – sag’ es mir doch, Peterchen.«

»Nee, du klatschst ja, dir erzähle ich nichts mehr« – er wollte sie nur noch neugieriger machen.

»Ehrenwort, rechte Hand – ich klatsche nicht«, Annemarie brannte vor Neugier.

»Wir wollen heute um Mitternacht an Fräulein Julchens Fenster als Quallenkönig anklopfen«, flüsterte der kleine Bösewicht ihr mit unterdrücktem Lachen zu.

»Nee – nee, da graule ich mich selbst – – –«

»Sag’ ich’s nicht, du bist ’ne feige Memme!«

»Ach wo, feige bin ich gar nicht« – das konnte Annemarie nun mal nicht vertragen, das ging ihr gegen ihre Ehre. »Aber um Mitternacht schlafe ich doch überhaupt schon.« Die Kleine war glückselig, auf diese Ausrede gekommen zu sein.

»Na, es muß ja doch nicht gerade Mitternacht sein, es geht auch früher. Fräulein Julchen legt sich schon mit den Hühnern schlafen. Wenn wir da gegen zehn an ihre Fensterscheibe pochen, denkt sie bestimmt, es ist Mitternacht.«

»Geht aber doch nicht! Wie willst du denn an ihr Fenster klopfen? Das Zimmer hat doch keinen Balkon.«

»Schadet nichts«, wenn es sich um einen ungezogenen Streich handelte, war Peter nie um einen Ausweg verlegen. »Wir nehmen einfach eine alte Bohnenstange aus dem Garten. Von unserm Balkon aus reichen wir damit ganz bequem an Fräulein Julchens Fenster heran.«

Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden. Schließlich war auch Doktors Nesthäkchen rangenhaft genug, um an dem Streiche Gefallen zu finden. Wenn es sich von ihrem Balkon aus machen ließ, das war ja gar nicht so graulich. Vergessen waren wieder mal die weißen Haare der Frau Kapitän und Annemaries damit zusammenhängende gute Vorsätze.

»Also Punkt zehn auf dem Balkon – für die Bohnenstange sorge ich – kannst dich ja öfters mal ins Bein kneifen, damit du nicht einschläfst«, damit war Annemarie entlassen.

Ob sie ihre Freundin Gerda einweihte? Nee, lieber nicht, die würde ihr abreden – und Peter hielt sie am Ende dann doch für eine »Klatsche«.

Still ward’s in Villa Daheim, überall waren die Lichter verlöscht, alles schlief. Nur in dem netten Zimmer mit den rosagetünchten Wänden warf sich ein kleines Mädchen schlaflos in den Kissen herum. Annemarie brauchte sich nicht erst ins Bein zu kneifen, um munter zu bleiben. Ihr Gewissen, das sie deutlich vor dem ungezogenen Streich warnte, ließ sie schon keine Ruhe finden.

Horch – zehn Schläge hallen von der großen friesischen Bauernuhr unten in der Diele durch das schlummernde Haus. Da erhebt sich Doktors Nesthäkchen lautlos. Lautlos schlüpft es in seine Sachen. Noch einen sehnsüchtigen Blick auf die festschlafende Ellen und Gerda, dann huscht Annemarie durch einen schmalen Türspalt auf den regendunklen Balkon hinaus.

Puh – was für ein schauriges Wetter! Der Sturm ächzt in den Bäumen, er rast um die Wette mit dem Meer. Ist das der Quallenkönig, der nach seinem Kinde ruft? Annemarie zittert vor Angst und Kälte wie Espenlaub. Sie hat nicht übel Lust, wieder in ihr Bett zu entwischen. Aber da ist ja schon der Peter auf dem anliegenden Balkon mit seiner langen Bohnenstange. Der soll sie nicht für feige halten.

»Pack’ an«, mit vereinten Kräften wird die Latte zum Fenster der sanft schlummernden Näherin geführt.

»Los!« Die Stange klopft zart und behutsam gegen die Fensterscheibe.

Fräulein Julchen schlummert ruhig weiter.

»Doller – der Quallenkönig pocht nicht so rücksichtsvoll« – wild schlägt die Bohnenlatte gegen das Fensterglas.

Klirr – mit lautem Geprassel fallen die Scherben, aber mit noch lauterem »hu – hu!« fährt das abergläubische alte Fräulein kreischend aus dem Schlaf empor.

Peter hält sich den Bauch vor Lachen. Annemarie aber eilt, weinend vor Schreck über die zerbrochene Fensterscheibe, in ihr Zimmer zurück.

Am nächsten Tage wurde strenges Gericht gehalten. Die auf dem Balkon liegengebliebene Stange verriet den Täter. Aber auch sonst wäre Tante Lenchen wohl auf keinen anderen als den ungezogenen Peter gekommen.

Er war anständig genug, Annemarie nicht auch anzugeben. Das tat diese ganz von selbst. Peter sollte nicht allein gestraft werden.

Tante Lenchen war sehr traurig darüber, daß auch Annemarie an dem häßlichen Streich beteiligt gewesen. Das war für diese schlimmer als die Strafe, die sie bekamen.

Das Schlimmste aber war, daß sie sich jetzt nicht mehr in das Stübchen des guten alten Fräulein Julchens, bei der sich die kleinen Sünder entschuldigen mußten, hineinwagte – um die Freude hatte Annemarie sich selbst gebracht.

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