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Esel, der er ist

Der Anker rasselt in die Tiefe. Nun gut, es sind nur noch zwölf Meter unter dem Kiel an dieser Stelle, die Erik als Ankerplatz für sein Segelboot, die Bounty, bestimmt. Drei Tage und Nächte war er bereits durch das türkisblaue Meer der Karibik gesegelt auf der Suche nach einer wirklich einsamen Insel, auf der er es alleine aushalten würde mit sich.

Der hitzige Wind aus Südsüdwest bläst den Spinnaker am Bug der Bounty stetig auf und bald sieht er steuerbords voraus ein schmales grünes Band aus den harmlosen Wellenkämmen emportauchen. Sicherlich ist diese Insel unbewohnt, so fernab von anderen Inseln oder vom Festland, und es zieht ihn unwiderstehlich zu ihr hin. Sein Pulsschlag beschleunigt sich, so wie immer, wenn er spürt, dass ihn ein Abenteuer erwartet und eine Energie in ihm hochsteigt, die ihm unbändiges Glücklichsein verheißt.

Nachdem sich der Anker am Meeresboden festgezogen hat, erkundet er mit einem Fernglas die abgelegene langgezogene Insel und erkennt einen feinen Sandstrand, der von hohen Palmen gesäumt, dahinter von einem dunkelgrünen Dickicht umgeben ist. Mehr gibt es nicht zu sehen, keine Menschenseele, keine wilden Tiere, kein Unterstand oder sonstige Anzeichen, dass dies nicht die einsamste aller möglichen Inseln wäre.

„Alles richtig gemacht, Erik Hansen, alter Esel. Was für ein paradiesisches Fleckchen Erde!“

Er hat Zelt, Isomatte, Kocher, Wasserkanister, eisgekühltes Dosenbier und anderes Equipment für einen zweitägigen Aufenthalt im Paradies bereits in das Beiboot gepackt und stößt sich, nachdem er die lose liegenden Leinen aufgeschossen und das Schott geschlossen hat, kräftig von der Segelyacht ab. „Ein bezauberndes Inselchen, für mich alleine. Wundervoll! Ich glaube es einfach nicht.“

Im knietiefen Wasser angekommen, zieht er das Schlauchboot auf den Strand, sichert es erst mit einer Leine und einem Achterknoten an einem starken Palmenstamm, bevor er sich, die Hände in die Hüften gestemmt, nach allen Himmelsrichtungen dreht und sich staunend umsieht.

Leuchtendgrüne, riesige Palmwedel berühren sich raschelnd. Zusammen mit den erbost kreischenden Möwen, den lauten Rufen von papageienartigen Vögeln und dem Murmeln des Wellenschlags der karibischen See klingt die Insel wie ein paradiesisches Orchester. Die Sonne lässt die Sandkristalle erstrahlen, vereinzelt liegen gestrandete Muscheln im feinen Sandbett. „Ein Traum. Wahnsinn! Un-fass-bar.“ Erik ist hellauf begeistert, berauscht von der exotischen Schönheit, die ihm hier zu Füßen liegt, und von seinem Glück.

Langsam sinkt die Sonne in Richtung Horizont und Erik richtet sich pfeifend sein Lager ein. Er setzt sich vor sein Zelt auf die Isomatte, zieht zischend den Ring eines Dosenbieres auf und nimmt genüsslich einen kühlen Mundvoll. „Schöner kann es nicht mehr werden.“ Er dankt dem Sonnenuntergang, den Papageienvögeln und den winkenden Palmen für dieses Wunder, das ihm, dem alten Mann, hier zuteilwird. Über die wohltuende Einsamkeit in seinem Garten Eden sinnierend, blickt er hinaus auf sein Boot, das auf dem nun tiefblauen Meer dümpelt. Langsam zeigen sich die ersten Sterne am Nachthimmel und er erkennt das Sternbild des Krebses mit seinen beiden Eselssternen, Asellus Borealis und Asellus Australis. Ein wenig kennt er sich aus mit den Sternen, immerhin.

Zuerst wird ihm unwohl, als würde er beobachtet, aus dem Dickicht heraus. Sein Rücken kitzelt und juckt entsprechend. Er setzt sich gerade und rückt sich ein wenig unbehaglich zurecht. Als nächstes hört er ein leises Stampfen von – von was? Er verkrampft sich und macht sich darauf gefasst, gestoßen oder überrannt zu werden. Soll er sich umdrehen? Starr sitzen bleiben? Ist das Angstschweiß auf seiner Stirn? Komm, du kleiner Schisser, steh schon auf. Lieber der Gefahr ins Auge blicken. Die sich nähernden Tritte klingen wie zartes Stapfen und da – ein Schnauben! Ein Tier, ein größeres Tier! Ruhig jetzt, ganz ruhig. Langsam und konzentriert sammelt er die leere und die übrigen vier vollen Bierdosen um sich herum und zieht die schweren Wasserkanister näher zu sich heran. Das Schnauben ist nun direkt hinter ihm und der Schwanz des unbekannten Tieres peitscht unablässig auf einen Fellkörper. Surrende Fliegenschwärme und ein ungeheuer intensiver Geruch nach Hitze und Staub kündigen die Eselin an.

„Ja, wo kommst du denn her?“ Erleichtert erhebt sich Erik und sieht einer dunkelbraunen Eselin in die runden, glänzenden Augen. „Hast du Durst?“ Ein tiefes Schnauben ist ihm Antwort genug und er gibt ihr Wasser aus seinem Vorrat zu trinken. Er selbst legt sich auf seinen Schlafsack vor das Zelt und sieht nun beruhigt dem Licht beim Schwinden zu, bis alle Farben seiner Umgebung von der milden Nacht verschluckt werden.

Die Eselin bleibt bei ihm, ein paar Meter entfernt im Wärme abstrahlenden Sand stehend, und scheint zu warten. Wie kommt die Eselin auf die Insel? Er ist sich fast sicher, dass es keine weiteren Esel oder auch Menschen auf der Insel gibt. Dafür ist sie viel zu klein und zu weit weg von jeglicher Zivilisation. Ohne eine schlüssige Erklärung zu finden, schläft er schließlich ein, tief atmend und mit der Welt und sich im Reinen.

Die Eselin wartet, bis der Vollmond hoch am Himmel steht, um Erik mit heißem Schnauben in sein Ohr aufzuwecken. Das Licht schimmert über der Wasseroberfläche und wirft Palmenschatten auf den hell reflektierenden Strand.

Erik fährt sich mit dem rechten Huf über sein Gesicht, das fast vollständig mit rauen, borstigen Haaren bewachsen ist. Er kratzt sich an den Wangen und findet, dass seine Nase und das Kinn nach vorne in die Länge gewachsen sind. Mit einem kräftigen Schnauben aus seinen großen Nüstern bringt er sich auf seine dünnen Beine und verjagt mit seiner Schwanzquaste Fliegen, die ihm lästig werden, die unter seine Fellhaare kriechen, um ihre Eier unter seine Haut zu stechen. Wie sie ihn piesacken, das macht ihn ganz wild, so dass er, sich schüttelnd, um die Eselin tänzelt.

Die Eselin zupft ihn sanft an seiner Mähne, die sich wie ein schwarzes Zierband entlang seines Halses den Rücken hinablegt. Erik folgt der Eselin durch das schattige Dickicht hinter dem Palmensaum und nach einigen Metern verschluckt der Dschungel das Mondlicht vollständig. Von Zeit zu Zeit bleibt die Eselin stehen und wartet auf ihn, der unbeholfen über den unebenen Waldboden stakst. Ein wunderbarer, lockender Geruch entströmt dem Fell des geduldigen Tieres und so erträgt er den unsicheren Weg auf harten Hufen, umgeben von unheimlichem Wispern, Knacken und leuchtenden katzenartigen Blicken aus der dichtesten Dunkelheit. Seine in die Länge gewachsenen Ohren drehen sich nervös in alle Richtungen, aber die Orientierung hat er längst verloren.

„So warte doch“, will er ihr hinterherrufen, „wo willst du mit mir hin? Das kannst du doch mit mir altem Esel nicht machen. Ich laufe jetzt zurück. Ich bin müde und meine Knochen tun mir weh.“ Aber sein verzweifeltes, schrilles Wiehern lässt nur Vögel aus dem Schlaf auffliegen. Bis sie zusammen auf der anderen Seite der Insel wieder zurück ins Mondlicht treten, hat er seinen Widerstand längst aufgegeben und trottet der Eselin ergeben hinterher.

Sie treffen auf eine Herde von Grautieren, die verstreut auf dem Sandstrand lagern und an vertrocknetem Gras kauen. Die mondhelle Nacht legt einen silbernen Glanz auf die Rücken der geschwächten alten Esel, die sich im warmen Sand Gesellschaft leisten. Ein leises Schnauben liegt über den Tieren wie eine beruhigende Melodie. Erik kann erkennen, dass einem Esel die Beine gebrochen sind, ein anderer fast erblindet ist, und am Rande der Gruppe liegt eine Eselin mit einem sonderbaren Ausschlag, so dass sie sich ihr Fell blutig gebissen hat. Der Gestank nach Krankheit und Tod ist grauenvoll und verstört ihn. Die vereinzelten Aufschreie der Esel krampfen sich in sein Herz. Wo ist er hier? Ist das ein verdammter Eselsfriedhof? Ein Tierlazarett? Er wendet sich zur Flucht, aber die Eselin führt ihn durch die am Ende ihres Lebens angekommenen Tiere und bleibt vor einem sehr alten, weißgrauen Esel stehen. Das muss der königliche Esel sein, der im Mondlicht majestätisch auf einem Haufen vertrockneter Palmwedel und totem Holz residiert.

„Nun siehst du, was uns am Ende unseres Esellebens erwartet. Geh und erzähle es den Menschen, erzähle ihnen, wie es uns geht nach harter Arbeit und den schweren Lasten, die sie uns aufgebürdet haben. Wir dienten ihnen Tag ein, Tag aus, aber hierher auf diese Insel kommen wir, um uns im Vollmond zu versammeln und hinüberzugehen. Dahin, wohin uns nie ein Mensch folgen wird, so glaubten wir. Erzähle den Menschen von dem, was du hier siehst, aber behalte diesen Ort für dich. Diese einsame Insel. Verrate uns nicht.“

Erik steht vor dem Eselkönig im Schatten des Mondlichtes, entsetzt und sprachlos über das Elend der leidenden Esel. Er hat nie einem Tier Leid zugefügt, soweit er sich bewusst ist, und trotzdem fühlt er sich schuldig. Die Eselin beißt ihn bald sanft in den Hals, neigt ihren Kopf zum Rand des Dickichts und begleitet ihn ein Stück zurück zu seinem Lagerplatz.

Der Mond steht blass und weiß am heller werdenden Himmel, als Erik sich in der Morgendämmerung aus der Hitze seines Schlafsacks schält, aufsteht und sich wohlig dehnt. Wie jeden Morgen macht er Kniebeugen, so lange, bis seine Kniegelenke nicht mehr knacken und er sich geschmeidiger fühlt, einige Liegestützen probiert er auch. Er wischt sich den Schlaf aus den Augen, Sandfliegen von den Beinen und fährt sich mit gespreizten Fingern durch die weißen Haare, die er dann zu einem dünnen Zopf zusammenbindet. Die Bounty liegt ruhig in der Ankerbucht und wird von zwei Möwen umkreist. Langsam kehren die Farben in den Tag zurück.

Seit dem Aufwachen hat Erik ein ungutes Gefühl von einem Traum, der, so fühlt er, wichtig ist. Wichtig für ihn und den heutigen Tag. „So ein Mist!“ Seine Euphorie ist wie von Starkwind weggepustet und sein einzigartiger Strandplatz hat seine Leuchtkraft verloren. Aber da war doch etwas heute Nacht? Warum fühlt sich alles so anders an als gestern? Etwas in ihm bleibt unvollständig, seine Abenteuerlust ist verflogen. Weg.

Er wird jetzt gleich weitersegeln, im nächsten Hafen anlegen und in einer Strandbar gepflegt frühstücken.

Nach einem warmen Morgenbier packt er sein Zelt und die verbliebenen Vorräte in sein Schlauchboot und rudert über schwach gekräuselte Wellen zurück zur Bounty. Er holt den Anker ein und hat es mit einem Mal eilig, sein Inselparadies zu verlassen. Noch einmal dreht er sich zur Insel um, meint im Palmensaum die Eselin stehen zu sehen und ihr Schatten folgt ihm über den Strand bis ans Ufer. Aber vielleicht bildet er sich das auch nur ein, er, der alte Esel, der er ist.

Brigitte Mattes

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