Читать книгу Hin und weg - Geschichten für unterwegs - Elvira Kolb-Precht - Страница 7
ОглавлениеSummerwild
„Ohhhh, summerwild“, singe ich lautstark mit. Oder heißt es summer wine? Ach, ist doch egal! „Ohhhh, summer wine, dumdidum.“ Als sich mein Magen laut knurrend in den Refrain einmischt, schaue ich zum Armaturenbrett meines alten Käfers. „Kein Wunder“, sage ich an meinen Magen gerichtet: „Wir sind ja auch schon ewig unterwegs.“ Gestern hatte ich kurzerhand eine Handvoll Wäsche und ein paar Kleidungsstücke in eine Reisetasche geworfen und war einfach losgefahren. Die Gründe dafür zucken wie Blitze durch mein Bewusstsein. Dieses ewige Einerlei. Dieses stumme Nebeneinanderleben. Soll er doch sehen, wie er allein fertig wird. Ob er überhaupt merkt, dass ich weg bin?
„In 13 Kilometern erreichen Sie Ihr Ziel“, ertönt plötzlich die Stimme meines Navis.
„Ziel?“, sage ich erschrocken. Habe ich ein Ziel? Wann habe ich das festgelegt und wo geht es hin?
Das große Raststätten-Schild lässt meinen Gedankenzug abrupt stillstehen. „50 Kilometer bis zum Eurotunnel“, lese ich mir selbst laut vor. Jetzt fällt mir wieder ein, wie ich ziellos durch die Gegend gefahren bin und dann kurzentschlossen die Taste „Programmierte Ziele“ auf meinem Navi gedrückt habe. Hier sind hunderte Ziele hinterlegt. Alles Orte unserer Träumereien. „Scheißträumerei“, sage ich zu mir selbst.
Als ich die Autotür öffne, schlägt mir eine dunstige Wolke aus Benzin und Abgasluft entgegen. Mein Magen beginnt sich zu drehen. Schnell steige ich aus, verschließe das Auto und gehe zum Eingang der Raststätte. Hier riecht es nach starkem Kaffee, frischen Blätterteigteilchen und altem Männerschweiß. Ich versuche die Luft anzuhalten, bis der übelriechende Kerl vor mir die Schlange verlassen hat. Ich bestelle einen doppelten Espresso und zwei Croissants. Von meinem Fenstertisch aus kann ich einen Reisebus sehen. Eine farbenprächtige Menschenmenge quillt aus dem Bus und strebt dem Restauranteingang entgegen. Kopfschüttelnd verfolge ich sie mit meinen Blicken.
„Könnte ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?“ Erschrocken blicke ich auf. „Entschuldigen Sie“, spricht die wohlklingelnde, leicht rauchige Stimme weiter. Mein Mund ist plötzlich staubtrocken, als ich versuche, das Croissant hinunterzuschlucken. „Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich Sie so von der Seite anquatsche.“ Wortlos staune ich über die Statur, die zu der Stimme gehört. „Ich habe Sie aus dem Käfer mit dem Münchner Kennzeichen steigen sehen und mich gefreut, in weiter Ferne eine Landsmännin zu sehen.“
„Weite Ferne?“, lache ich. „Timbuktu wäre weit.“ Nur ganz leicht kräuseln sich seine herzförmig geschwungenen Lippen. Aber seine dunklen großen Augen lächeln. Mit einer kurzen Handbewegung erlaube ich ihm, sich zu setzen. Eine Weile schauen wir dem Treiben vor der Fensterscheibe zu.
Ich empfinde plötzlich eine Stille, als wären wir beide allein an diesem Ort. Mein Kopf dreht sich wie in Zeitlupe. Meine Augen saugen sich an seinem Gesicht fest und mein Mund fragt: „Was verschlägt Sie denn in diese weite Ferne?“ Sein langer Blick geht mir unter die Haut.
„Tja, was verschlägt mich in die Ferne? Wahrscheinlich das Gleiche wie die meisten!“ Er schlängelt sich um Antworten herum, denke ich. „Und was suchen die meisten Menschen Ihrer Meinung nach?“
Er atmet tief ein, dann sagt er: „Ein Abenteuer.“ Dieses eine Wort lässt mein Kopfkino so schnell anlaufen, dass mir schwindelig wird und ich die Augen schließen muss. Als ich sie wieder öffne, ist sein Gesicht nahe dem meinen. Seine Hand greift nach meiner, die zur Faust geballt auf dem Tisch liegt. Federleicht streichen seine Fingerspitzen über meine weißen, hervorgetretenen Fingerknöchel. Dieser Hauch von Etwas lässt mich wie elektrisiert erstarren. Und seine Stimme flüstert: „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
Ich bin nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Ich sitze einfach nur da. Sekunden, Minuten, Stunden. Ich weiß es nicht.
Das Geräusch von zerbrochenem Geschirr lässt mich erwachen. Wir beide schauen dem Kellner versonnen zu, wie er versucht, die Scherben und den Schmutz zu beseitigen. Ohne zu überlegen sprudeln die Worte plötzlich aus mir heraus: „Ist wie im richtigen Leben. Du stapelst alles, was dir lieb und teuer ist, auf einen Haufen, und wenn du mal einen Moment unaufmerksam bist, zerbricht alles in Scherben.“
„Oder du merkst, dass der Haufen, den du jahrelang mühevoll gesammelt hast, Schrott ist und haust ihn selbst in die Tonne“, sagt er trocken. Wieder schauen wir uns an und lächeln. „Aber manchmal“, flüstert er leise, „ist es genau das Richtige. Alles weg und neu starten.“
„Neu starten.“ Ich lege meinen Kopf leicht auf die Seite. Das mache ich immer, wenn ich über etwas intensiv nachdenke. „Ein Neustart würde aber bedeuten, das Alte zu löschen! Und wie löscht man Erinnerungen?“
Jetzt legt auch er seinen Kopf etwas schief. „Man muss sie ja nicht löschen. Man könnte sie durch neue ersetzen.“
„Aber sie sind immer noch da“, sage ich in seine Gedanken hinein.
„Ja! Oder man legt sie in eine Schublade, einen Karton, ein Schließfach, packt sie einfach weg.“
Ich lächle ihn an. „Aber sie sind immer noch da.“
„Ja! Sie sind alle noch da. Die guten und die schlechten“, sagt er leise. Wieder schauen wir nach draußen. Die Luft in der Mittagshitze flimmert. Und dieses Flirren jagt Erinnerungsfetzen durch meinen Kopf. Ausgelassen tanzend im Sommerregen. Verschwitzt Händchen haltend am Badesee. Picknick unterm Sternenhimmel.
„Ich will die guten Erinnerungen nicht wegschließen. Sie waren zahlreich“, sage ich wie zu mir selbst. Ich spüre, wie mir bei dem Gedanken ganz warm wird. Und mein Mund lächelt ein Lächeln, wie es nur Menschen lächeln können, die magische Erinnerungen haben.
„Überwiegen die schlechten?“, fragt er nach einer Weile.
„Ja“, antworte ich leise.
„Um wieviel mehr?“
Ich überlege eine Weile, bevor ich überzeugt sage: „Sehr viel.“ Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. „Dann waren die schlechten Erinnerungen so schlecht, dass sie die guten überlagert haben?“
Mein Blick folgt der Touristenherde, die sich wieder nach draußen begibt. Als sich die Unruhe gelegt hat, sage ich: „Die schlechten wären gar nicht so schlecht gewesen. Aber gar keine?“
Er schaut mich lange an. „Ich weiß nicht, wie es passieren konnte…“ Tränen schimmern in seinen Augen, als er sagt: „Wie konnte ich all das Wunderbare vergessen? Wie konnte ich dich vergessen?“ Auch meine Augen füllen sich mit Tränen.
„Ich war ja immer da, und du warst immer da. Nur das Wir verschwand irgendwann.“
„Es wird nie wieder verschwinden.“ Er steht auf, nimmt meine Hand und führt sie zu seinen Lippen. Wie er es immer getan hat, wenn Worte nicht nötig waren. Eng umschlungen laufen wir Richtung Auto und ich frage: „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“
„So wie ich dich auf der ganzen Welt finden würde“, sagt er liebevoll. Verträumt schaue ich zu ihm auf. „Wir sind seelenverwandt. … Und ich habe dein Handy geortet.“
Magdalena Punkt