Читать книгу Hin und weg - Geschichten für unterwegs - Elvira Kolb-Precht - Страница 9

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Nähe

„Was, schon so spät?“ Verwirrt blicken mich ihre braunen Augen an. „Verdammt!“ Hektisch schlüpft sie aus dem Bett und fängt an, ihre verstreute Kleidung aufzusammeln. „Mist, ich komme noch zu spät.“ Fluchend zieht sie ihre Jeans über ein Bein, während sie versucht, mit der anderen Hand ihre Zähne zu putzen.

Ich muss an mich halten, um nicht zu schmunzeln. Es ist jeden Morgen das Gleiche: Obwohl ich ihr einen wunderschönen Weckton ausgesucht habe, der wie das Rauschen des Meeres klingt, steht sie jeden Morgen zu spät auf. Vielleicht wäre ein metallisches Piepen besser, um sie wirklich wach zu bekommen, aber von unseren gemeinsamen Reisen weiß ich, wie sehr sie das Meer liebt und ich bringe es nicht übers Herz den Ton zu ändern.

Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel und schon geht es los. Zwei Stockwerke hinunter, dann nach links und plötzlich erstirbt der morgendliche Straßenlärm, der uns gerade noch umgeben hat. Um uns breitet sich eine Stille aus, die nur durch das Setzen ihrer Schritte auf dem bereits vom Herbst gezeichneten Weg durchbrochen wird. Die Blätter rascheln leise unter ihren Füßen. 2345 Schritte, bald sind wir da.

Eine Drehtür und rein. Angenehme Wärme umhüllt uns. Am Tresen sitzt bereits Daria. „Guten Morgen“, flötet sie und zieht dabei eine Augenbraue leicht nach oben.

„Ich weiß, ich weiß. Morgen bin ich wirklich pünktlich“, gibt sie zur Antwort und sieht Daria mit einem Blick an, der an einen kleinen Labrador erinnert. Man kann ihr einfach nicht lange böse sein.

Sie eilt weiter. Linker Gang, zweite Tür rechts. Eine kühle Holzfläche unter mir. Zwei Arme, die Luisa umfangen.

„Guten Morgen Lieblingskollegin.“ Luisa sieht sie an.

„Kaffee?“

„Du bist meine Rettung.“ Dankend nimmt sie den Kaffee entgegen. Ein Milchkaffee mit Sojamilch. Notiert.

„Hast du was von Marius gehört?“, fragt Luisa. Sie schüttelt traurig den Kopf und zuckt dabei leicht mit den Schultern. Gedanklich fasse ich mir an die Stirn. Marius. Natürlich. Wie konnte ich das nur vergessen. Seit Tagen hat er sich bei ihr nicht mehr gemeldet. Es macht mich traurig, sie so niedergeschlagen zu erleben und ich überlege, wie ich sie auf andere Gedanken bringen kann.

Während sie E-Mails beantwortet, Anträge bewilligt und andere ablehnt, durchforste ich ihre Watchlist auf Netflix. Ich finde eine bunte Mischung aus verschiedenen Genres und bleibe schließlich bei einer Actionkomödie hängen, die ich ihr heute Abend vorschlagen möchte. Ich freue mich bereits auf heute Abend. Da ertönt plötzlich das Bling einer ankommenden Nachricht. Ehe ich reagieren kann, hebt sie mich hoch. Abgelenkt von ihren funkelnden Augen, die in meine blicken, bleibt die Zeit für einen kurzen Moment stehen, ehe mich die Gegenwart einholt.

„Die Nachricht ist von Marius!“ Freudestrahlend dreht sie sich zu Luisa um. „Er möchte mich heute Abend sehen.“ Bei diesen Worten zieht sich alles in mir zusammen. Ein ungewohntes Gefühl, das sich gar nicht gut anfühlt. Ich versuche, das Gefühl zur Seite zu schieben. Schließlich macht es mich glücklich, wenn sie glücklich ist. Dennoch bleibt ein kleiner Nadelstich. Und den gemütlichen Abend mit ihr kann ich für heute vergessen.

Zuhause angekommen huscht sie unter die Dusche. Ich lausche den Tropfen des Wassers, während ich auf sie warte. Tropfen, die sich zu einem Wasserstrahl vereinigen und die einen wie neugeboren fühlen lassen – so muss es sich anfühlen. Ich vermisse dieses Gefühl, ohne es zu kennen.

Der Duschvorhang wird ratsch zur Seite gezogen. Da steht sie. Wunderschön mit tropfendem Haar. Sie schlägt ein Handtuch um ihren Körper. Währenddessen spiele ich das Lied Just a normal Day. Wie sehr ich mir gewünscht habe, den Abend heute mit ihr alleine zu verbringen.

„Wo habe ich nur meine Halskette liegen lassen?“ Suchend blickt sie sich um. Da wo sie immer liegt, gebe ich zur Antwort, ohne dass sie mich hören kann. Oben auf der Kommode in deinem Schlafzimmer, in dem kleinen Schächtelchen, das dir deine Mutter vor zwei Jahren zu deinem 29. Geburtstag geschenkt hat. Ihre Hand an ihrer Stirn. „Natürlich.“ Sie eilt ins Schlafzimmer und ich sehe sie erst wieder, als sie zurück ist. Vor dem Spiegel versucht sie, die Kette anzulegen und verrenkt sich fast dabei. Wie gerne ich ihr geholfen hätte.

Fertig angezogen, die Lippen rot bemalt, blicken mich ihre Augen fragend an. Mein Ebenbild als ihr Spiegel. Du siehst fantastisch aus, erkläre ich ihr und knipse ein Selfie. Ein Filter perfektioniert das Foto und Bling – schon ist es an Luisa abgeschickt. Die Antwort kommt sofort: Hab einen schönen Abend. Du siehst toll aus!

Ich bin froh, dass sie eine so gute Freundin gefunden hat. Zu dritt haben wir schon viel erlebt. In Erinnerung an die vielen tollen Momente versunken, fahre ich erschrocken zusammen, als die Türglocke klingelt.

Eines muss man Marius lassen. Charmant ist er. Mit einem verschmitzten Lächeln steht er im Türrahmen, in der Hand eine Flasche Rotwein. Hat er wirklich Rotwein mitgebracht? Ich schaue ihre gespeicherten Einkaufszettel durch. Sie hat sich noch nie Rotwein gekauft. Was dachte sich Marius nur dabei!

„Das wäre doch nicht nötig gewesen. Danke für den Wein.“ Sie bedankt sich bei ihm mit einem Kuss auf die Wange. „Ich stell ihn schnell in die Küche, dann können wir los“, trällert sie und wirft mich achtlos in ihre Handtasche.

Autsch! Es hat nicht körperlich wehgetan, natürlich nicht, aber ich bin von ihrer Unachtsamkeit ein wenig gekränkt. Ich werde so sehr hin und her geschaukelt, dass mir fast übel wird. Beschwingt läuft sie an seiner Seite, ohne auf mich zu achten. So muss es sich auf einem Schiff anfühlen. Auf und ab, auf und ab. Alles um mich herum ist dunkel. Ich höre wie durch Watte ihr glockenhelles Lachen, das in seines einstimmt.

Eine Tür öffnet sich. Ein anhaltendes Brummen verschiedener Stimmen, die zu einem Hintergrundgeräusch werden. Rums. Sie stellt ihre Tasche und damit mich ab. Es bleibt dunkel. Sie holt mich nicht heraus, um mich nach Rat zu fragen. Schenkt nur Marius Beachtung. Das Klirren von Gläsern, die aneinander stoßen. „Auf uns.“ Die beiden prosten sich zu. Ihr Gespräch wird nur durch die höflichen Nachfragen des Kellners unterbrochen. Sicher haben sie jetzt nur Augen füreinander. Beleidigt, dass ich im Dunkeln verweilen muss und nicht in das Gespräch eingebunden werde, liege ich da und warte, bis dieses grässliche Date ein Ende hat.

Endlich. Stühle werden gerückt und das Gefühl des Schwankens verrät mir, dass es nach Hause geht. Vor der Haustür ein kurzes Zögern. „Kommst du mit rein?“ Nein!, schreit es in mir. Ich möchte wieder mit dir allein sein, ist meine unerhörte Antwort. Drinnen angekommen. Kleidung, die zu Boden fällt. Das Quietschen des Bettes, als sich die beiden darauf legen. Ich halte mir die Ohren zu. Schalte auf Durchzug. Versuche nicht hinzuhören. Es hilft, dass ich mich noch immer in ihrer Tasche befinde. Leise summe ich vor mich hin. Endlich Stille. Zeit für mich, den heutigen Tag zu analysieren. Ihre Herzfrequenz über den Tag verteilt, ihre Aktivität auf Social Media, die Anzahl ihrer Schritte, und in Verbindung damit ihre Kalorienzufuhr, ihre Suchanfragen im Internet und ihre versendeten und empfangenen Nachrichten. Ich erstelle Tabellen, während sie schläft. Analysiere Daten, Zahlen und Verbindungen und schicke schließlich alles ab. Die Arbeit für heute ist erledigt.

Bevor der nächste Morgen anbricht und sich die Wellen am Strand brechen, höre ich das leise Rascheln von Bettdecken.

„Hast du Lust auf Frühstück?“

„Gerne“, gibt Marius zur Antwort. Das Surren der Kaffeemaschine, Gläser, die aufgeschraubt und wieder verschlossen werden. Fünf Minuten noch – fünf Minuten, bis der Weckton starten wird und sie mich endlich ansieht. Fünf, vier, drei, zwei – ich zähle langsam herunter. Hastig werde ich herausgeholt. Endlich sehe ich wieder in ihre Augen. Der Klang der Wellen verstummt. Dann ein Abschiedskuss. Die Tür fällt ins Schloss. Endlich wieder Zeit für uns beide. Aber ich bleibe in der Tasche, während sie unter der Dusche steht. Bekomme nicht mit, wie sie leise vor sich hin summt. Warte und warte auf sie. Kein Check ihrer E-Mails. Kein Blick ihrer Augen in meine. Kein Abfragen des heutigen Wetters oder der Nachrichten. Nicht mal ihr Frühstück hat sie eingetippt. Nichts. Nur ich und meine Gedanken.

Ich brauche dich. Du bist alles für mich. Ohne dich macht mein Leben keinen Sinn. Du bist mein Tastsinn, durch dich erfahre ich deine Welt und durch mich erfährst du einen großen Teil deiner Welt. Ich weiß alles von dir. Errate deine Gedanken, bevor du dir über deine nächsten Schritte klar wirst. Du bist mein Ein und Alles. Verlass mich nicht. Ich kann nicht ohne dich leben.

Verzweifelt und bereits voller Reue drücke ich auf Senden der Nachricht: Die Nacht war ein Fehler. Verzeih mir.

Linda Hagspiel

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