Читать книгу Hin und weg - Geschichten für unterwegs - Elvira Kolb-Precht - Страница 11

Оглавление

Luck of the Irish

Frank Hauer verlor seinen Rucksack nicht auf dem Weg nach Köln. Im Grunde genommen lief die Fahrt problemlos ab. Am Sonntagmorgen traf er so früh im Münchner Hauptbahnhof ein, dass die Wagen des Intercity Express noch geschlossen waren. Während er auf dem Bahnsteig wartend herumstand, fragte sich Frank, für wie viele seiner Mitreisenden „Kölle“ das Endziel sein würde. Wahrscheinlich für die meisten, dachte er. Schließlich fand gerade die fünfte Jahreszeit statt.

Mit einem Zischen gingen die Wagentüren auf. Da der Zug ab München fuhr, musste Frank sich nicht durch volle Gänge drängen. Zufrieden verstaute er seinen schwarzblauen Rucksack. Auch das Wetter spielt mit, dachte Frank voller Vorfreude, es soll diese Woche kalt, aber klar bleiben. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er auf eine junge Frau aufmerksam wurde, der es nicht gelang, einen Lederkoffer über ihrem Sitz zu platzieren. Frank stand auf und fragte: „Kann ich helfen?“

Sie lächelte. „Oh, das ist nett.“

In seiner Rolle als Kavalier wuchtete Frank den Koffer auf die Ablage.

„Danke!“ Zwei dunkelbraune Opale blitzten ihm entgegen. Ihre Augen sind wie Feuer, dachte Frank, und ihre blonden Haare passen perfekt dazu. Ob sie diese immer zum Pferdeschwanz gebunden trägt?

Sie nahm ihm gegenüber auf der linken Fensterseite des Wagens Platz. Er schätzte sie auf um die Dreißig.

Während sie aus dem Fenster sah, wanderte Franks Blick über ihren Nacken auf ihren Oberkörper. Plötzlich streckte sie die Arme über den Kopf. Diese Bewegung hob deutlich ihre Brüste unter dem kirschroten Pullover hervor. Frank musste sich erregt abwenden.

Mensch, bestimmt brennen meine Wangen wie ein Notsignal. Er holte tief Luft und sah wieder hin. Zwei freie Sitzplätze und ein Gang lagen zwischen ihm und der Mitreisenden, aber momentan waren sie beide noch allein im Großraum. Man konnte sich in normaler Lautstärke unterhalten, ohne jemanden zu belästigen.

Frank zögerte kurz. Traust du dich eine wildfremde Person anzusprechen, fragte er sich selbst. Die Zugfahrt war lang, und eine Reise bot immer eine gute Gelegenheit neue Bekanntschaften zu schließen.

„Sorry, falls ich störe“, wandte sich Frank an die Frau, „fahren Sie auch nach Köln?“

„Yep“, erwiderte sie mit einem Lächeln.

„Tut wohl der halbe Zug, nicht wahr? Schließlich ist Karneval.“ Himmel, dachte er, ich liebe es, wie sie lächelt. Hoffentlich komme ich nicht als Stalker daher. „Mal ehrlich, im Vergleich zu Köln ist Fasching hier in München eher bescheiden. Man bekommt am Dienstag nur den halben Tag frei.“

„Stimmt, ist kein Rosenmontagsumzug“, entgegnete seine Gesprächspartnerin. „Fahren Sie allein?“

„Ja“, sagte Frank. „Hab Urlaubstage vom letzten Jahr übrig. Wir können uns auch duzen.“

„Gerne!“

Die Frau strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Kenn das von meiner eigenen Stelle. Arbeite nämlich für die Deutsche Bahn, kann also vergünstigt reisen.“ „Bist du Schaffnerin, oder so?“

„Oder so.“ Sie ging nicht näher auf die Aussage ein.

Frank überlegte, wie er mehr über sie erfahren konnte, ohne aufdringlich zu wirken.

„Na, jedenfalls, dieses Jahr gehe ich als Leprechaun“, nahm er das Gespräch wieder auf und hoffte, dass sie von ihrem Kostüm erzählen würde. Die Frau tat ihm den Gefallen nicht.

„Als was?“, fragte sie stattdessen.

„Als irischer Kobold. Wart mal!“ Er öffnete hastig seinen Rucksack und setzte sich einen grünen Filzzylinder mit einem vierblättrigen Kleeblatt aus Stoff auf.

„Vielleicht mal ein Bild gesehen? So Zwerge halt. Ganz in Grün.“

„Ah, doch“, erwiderte die Frau. „Sind Glückssymbole, oder?“

„So ungefähr“, meinte Frank. „Fängt man einen, muss er seinen Topf voll Gold rausrücken.“

Sie runzelte ihre Stirn. „Gibt’s da nicht einen Spruch über irisches Glück?“

„Luck of the Irish“, erklärte Frank. „Das Glück der Iren.“ Er verstaute den Hut wieder im Rucksack. „Ist aber eher ne zynische Redewendung.“

Die Frau blickte interessiert. „Wieso?“

„Na, weil sie sich aufs 19. Jahrhundert bezieht, wo viele Leute in Irland aus Not gezwungen waren, ihr Heil anderswo zu suchen. Entspricht unserem Glück im Unglück.“

„Bist du etwa Ire?“

„Gott bewahre!“ Frank schlug sich auf die Brust. „Ich bin geistig völlig gesund.“

Kurz blickte die blonde Fremde ihn verwirrt an. Dann prustete sie los und wälzte sich lachend im Sitz. Er hatte nie zuvor etwas Schöneres gesehen.

„Also kein gemeingefährlicher Psycho, wie?“ Die Frau grinste.

„Nee“, gab Frank zurück, „aber da ne grüne Hose und Weste schon daheim rumlagen, musste nur ein passender Hut gekauft werden. Fertig war der Leprechaun.“

Sein Herz pochte heftig. Viele Gelegenheiten zum Flirten hatte es in seinem Leben bisher nicht gegeben, aber sie beide schienen auf der gleichen Wellenlänge zu liegen.

„Na, da bin ich beruhigt“, sagte die Mitreisende mit gespielter Erleichterung. Sie hatte leicht den Kopf geneigt und eine Augenbraue angehoben. Frank meinte, darin eine Aufforderung zu lesen.

Okay, feuerte er sich an, stell dich jetzt endlich vor.

Genau in diesem Augenblick betrat eine größere Reisegruppe den Zug und blockierte den Blick zwischen ihm und der unbekannten Schönheit. Zwar legte sich bald der Trubel, aber an eine Fortführung des Gesprächs war nicht mehr zu denken. Sowohl der Platz neben Frank als auch der neben der Frau waren nun belegt. Sie hätten über die Köpfe der Mitreisenden hinweg rufen müssen.

Während der Zug losfuhr, verfluchte sich Frank, dass er nicht nach ihrem Namen gefragt hatte. Als er wieder zu ihr hinsah, hatte sie einen E-Reader hervorgeholt. Er lehnte sich resigniert zurück und versuchte zu dösen.

Kölle Alaaf! Dafür war Frank nach Nordrhein-Westfalen gefahren. Doch trotz der zahlreichen Ablenkungen kehrten seine Gedanken immer wieder zu der Unbekannten aus dem ICE zurück. Frank betrachtete die Abertausenden von Jecken, die durch die Kölner Innenstadt tollten, und fragte sich unwillkürlich bei jeder Blondine, ob es die namenslose Mitreisende war.

Warum habe ich Idiot nicht die Leute zwischen uns gefragt, ob sie mit uns die Plätze tauschen, dachte er. Wir hätten die ganze Fahrt über zusammensitzen können.

Statt wie die anderen „Kamelle“ und „Strüssjer“ zu kreischen, zwängte sich Frank durch die Menschenmengen und hielt nach seiner Traumfrau Ausschau.

Die Blonde mit Pferdeschwanz, die eine Zigarette raucht? Nee, die ist viel älter. Vielleicht der Clown dort? Nee, zu groß.

Frank folgte dem Karnevalsumzug vom Chlodwigplatz über Neumarkt und Rudolfplatz zum Dom. Süßes und Konfetti flogen zu der Musik von de Höhner und Bläck Fööss durch die Luft, doch er achtete nicht darauf.

Ist sie das, die sich mit der Familie von Schlümpfen unterhält? Nein, doch nicht. Da, die Fuchsmaske trägt einen blonden Pferdeschwanz. Hoppla, das ist ja ein Kerl.

So sehr sich Frank auch den Kopf zerbrach, ihm fiel nichts ein, wie er seine Traumfrau in dem Trubel wiederfinden könnte. Selbst falls wir uns über den Weg laufen sollten, dachte er verzweifelt, habe ich keinen blassen Schimmer, wie sie jetzt aussieht. Und ich kenne nicht einmal ihren Namen.

Da sah Frank die Tribüne des Westdeutschen Rundfunks. Ihm kam eine Idee. Sich entschuldigend rempelte er an Perücken und Winterjacken vorbei, bis er ganz vorne an einer gut sichtbaren Stelle stand. Während die Vereine mit ihren Wagen und Blaskapellen vorbeizogen, versuchte Frank noch lauter als die restliche Menge zu brüllen, hüpfte auf und ab und schwenkte wild seinen Zylinderhut. Dabei schaute er immer wieder zu den Kameramännern auf der Tribüne.

Bitte, flehte er stumm, zoomt auf den verrückten Kobold. Vielleicht sieht sie mich irgendwo auf einer Leinwand oder im Livestream und erkennt mich wieder.

Nach etlichen Stunden gab Frank auf. Der Rosenmontagsumzug war vorbei, und seine Mühen hatten ihm nur einen schmerzenden Arm sowie eine wunde Kehle eingebracht. Halbherzig stromerte Frank noch durch die Afterpartys in einigen Kneipen, bis er schließlich die Aussichtslosigkeit seiner Suche einsah. Daraufhin ertränkte er seinen Liebeskummer mit ausreichend Kölsch und Schnaps.

Da Frank seine Heimreise äußerst müde und verkatert antrat, hätte er leicht seinen Rucksack am Kölner Hauptbahnhof vergessen können. Doch sein Gepäck ging nicht dort verloren. Frank dachte auch in München daran, seinen schwarzblauen Rucksack aus dem ICE mitzunehmen. Es geschah buchstäblich auf der letzten Strecke seiner Reise, als er aus der S-Bahn in Moosach ausstieg.

Gleich bin ich daheim, dachte er noch. Augenblick? Warum fühlt sich mein Rücken so leicht an? Ach, Scheiße! Nein!

Frank rannte zurück, aber die S-Bahn fuhr bereits weiter nach Freising. Immerhin trug er die Wohnungsschlüssel sowie seine Brieftasche am Körper. Glück im Unglück, dachte er. Ich kann es morgen ja mal auf der Website des Fundservices probieren. Außerdem hängt meine Anschrift an dem Rucksack.

Am Freitagabend klingelte jemand an der Eingangspforte des Gebäudes. Aus der Sprechanlage ertönte eine Frauenstimme: „Frank Hauer?“

Er horchte auf. Die Stimme klang bekannt.

„Luck of the Irish“, kam es aus der Anlage.

Frank meinte, sein Herz würde aussetzen. Konnte es sein?

„Hey, Luck of the Irish?”, fragte die Stimme. „Erinnerst du dich?“

Frank rannte durchs Treppenhaus und riss die Eingangstür auf.

Eine Frau mit dunkelbraunen Augen und blonden Haaren hielt ihm seinen Rucksack hin. Auf ihrem Kopf trug sie einen grünen Zylinderhut mit einem vierblättrigen Kleeblatt. Sie grinste spitzbübisch.

Frank war zu glücklich über das unverhoffte Wiedersehen, um etwas Sinnvolles sagen zu können.

„Nun, mein Herr“, fragte die Frau, „wie beurteilen Sie den Lieferservice der Deutschen Bahn für verlorenes Gepäck?

Frank verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete mit gespieltem Ernst: „Ich fürchte, gnädige Frau, ich muss eine Beschwerde bei Ihren Vorgesetzten einreichen. Wegen widerrechtlichem Öffnen fremden Eigentums.“

„Mag sein“, erwiderte sie, „doch ein gefangener Leprechaun muss seinen Goldtopf rausrücken. Übrigens, ich heiße Conni.“

Stephan Priddy

Hin und weg - Geschichten für unterwegs

Подняться наверх