Читать книгу Hin und weg - Geschichten für unterwegs - Elvira Kolb-Precht - Страница 8
ОглавлениеIrgendwas mit Schwänen
Ich stehe in der Warteschlange so weit hinten, dass ich gerade noch das Schild lesen kann, auf dem steht „Sonderausstellung: Ludwig II, Richard Wagner und Cosima – eine ungewöhnliche Freundschaft“. Mir ist das völlig egal. Meinetwegen stehe ich noch fünf Stunden bis zum Einlass ins Schloss Neuschwanstein hier. Gemeinsam mit all den chinesischen Touristen auf Bayern-Tour, die sich links und rechts der Schlange in den absurdesten Posen fotografieren lassen.
Hauptsache ich bin nicht zu Hause und denke ständig nur an IHN und an UNS – wobei es ein UNS ja nicht mehr gibt. Der Anblick der Chinesen ist so witzig, dass ich trotzdem lächeln muss. Manche haben sogar rosa Rüschenschirme dabei, die sie über sich halten und so tun, als wären sie Mary Poppins, die gerade mit dem Schirm auf die Erde schwebt. Immerhin habe ich es geschafft, ein paar Stunden nicht an ihn zu denken, tröste ich mich. Gut so – wie lange habe ich es geschafft? Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und werfe einen Blick darauf. Ich klopfe mir in Gedanken selbst auf die Schulter und lobe mich für diesen Tagesrekord. Tatsächlich habe ich seit meiner Abreise in München bis eben nicht ein einziges Mal an Richie gedacht! Stopp – aber jetzt denke ich ja schon wieder an ihn! Seufzend stecke ich das Handy mit der neuen weißen Hülle mit Schwanenmotiv wieder in meine Hosentasche. Dabei achte ich darauf, dass die aufgeklebten Swarovski-Steinchen nicht zu stark den Stoff meiner Hose streifen.
Die Hülle ist ein Souvenir meines Salzburg-Kurztrips letztes Wochenende. Was tut man nicht alles, um sich von Liebeskummer abzulenken – erst Salzburg, heute der Tagesausflug nach Neuschwanstein. Luis, wenn das so weitergeht, lernst du nicht nur die eigene Heimat (Österreich ist ja auch irgendwie Heimat) besser kennen, sondern bald auch die ganze Welt, denke ich. Der Typ am Ticketschalter sieht nicht schlecht aus, würdigt mich aber keines Blickes, was mein Selbstbewusstsein nicht gerade aufbaut. Ansonsten sehe ich hier kein anderes Gesicht – keines, das mir so gefällt, wie das von Richie!
Damals, vor einem halben Jahr, flüsterte ich ins Ohr meiner besten Freundin Cora: „Ich muss den Typen kennenlernen, der dieses Stück inszeniert hat!“ Wir hatten gerade Richies Variante von „Lohengrin“ gesehen. Ich war völlig hin und weg – nicht nur von der Inszenierung, vom Bühnenbild und den Schauspielern, sondern vor allem von Richies Künstlerseele, die in diesem Stück mitschwang.
Obwohl ich die meisten Studenten an der Akademie der Künste kannte, hatte ich mit Richie noch nie mehr zu tun gehabt. Aufgefallen war er mir hin und wieder – sein strubbeliges Haar, sein Dreitagebart, immer irgendwie in Eile, in Gedanken.
„Sorry Luis, Richie ist nicht da, er probt gerade in Wien“, sagte Cora damals und rollte mit den Augen, als hätte ich was Megadummes gesagt.
„Wien? Warum?“ Ich musste mich wie ein Volltrottel angehört haben, denn Coras Blicke sprachen Bände.
„Na, weil er das Stipendium dort bekommen hat! Und außerdem – was willst du mit Richie? Er spielt nicht in deiner Liga, mein Süßer!“ Cora strich mir über mein gegeltes Haar, obwohl sie wusste, dass ich das hasste. „Wie meinst du das?“, empörte ich mich, und Cora drückte mir zur Versöhnung einen Kuss auf die Wange. „Richie ist NICHT schwul!“, antwortete sie. Ich weiß noch, dass mich Coras Aussage einen Moment lang verzweifeln ließ, bis ich beschloss, dass sie einfach Unrecht haben musste.
Das Gedränge in Richtung Schlosseingang reißt mich aus meinen Gedanken. Eine Frau mit unangenehmem Rosenparfüm tritt mir auf meine neuen weißen Sneakers. Ich überlege noch, ob ich sie anschnauzen soll, da stehe ich schon im Innenhof. Vor mir erhebt sich das gigantische Märchenschloss, das der König erbauen ließ, um sich in seine Traumwelt zu flüchten. Ich vergesse das blöde Rosenparfüm und lasse mich vom Eindruck der Türmchen und Tore um mich herum überwältigen. Hier könnte ich mich eindeutig besser von meinem Liebeskummer ablenken als in meinem winzigen Apartment mit Blick auf die A99, denke ich.
In der Masse der anderen Teilnehmer der Führung drängle ich durch die ersten Zimmer des Schlosses. Durch den umgehängten Verstärker höre ich die Stimme des grauhaarigen Guides laut genug, trotz des Gemurmels der übrigen Besucher. Was würde sich Ludwig denken, wenn er wüsste, dass hier jeden Tag bis zu 6000 Touris durch seine Räume laufen?
Der Guide erklärt, dass die Räume des Palais damals schon mit Zentralheizung beheizt wurden. Ich muss daran denken, wie Richie und ich schlotternd in einem Schlafsack lagen, als es beim Klassik-Festival regnete und wir durchnässt in unser Zelt flüchteten.
„Weg mit dir“, schimpfe ich mit meinen Gedanken an Richie. „Ich will hier doch Ablenkung!“
Die Rosenparfüm-Frau sieht mich von der Seite stirnrunzelnd an. Habe ich das jetzt laut gesagt?
„Nicht Sie, ich habe nur laut gedacht!“, sage ich schnell und verziehe mich auf die andere Seite des Raums.
„Richie ist übrigens aus Wien zurück“, sagte meine beste Freundin Cora damals, als wir im Café saßen und in meiner Lieblingszeitschrift „Schöner Wohnen“ blätterten.
„Ich dachte, der hat dort ein Stipendium?“
„Ach, das hat er hingeschmissen. Wenn Richie mal Kohle hat, ist die gleich wieder weg. Und angeblich ist sein neuer Gig auch in die Hose gegangen.“
Plötzlich erhellte sich Coras Gesicht. Sie sprang auf und fiel Richie um den Hals. „Wir haben gerade von dir gesprochen!“, flötete Cora und tat, als wären sie Best Friends. Er ließ es über sich ergehen, und genau in diesem Moment trafen sich unsere Blicke. Ich wusste es sofort! Richie ist mein Seelenverwandter, mein Geliebter! Und ich – ich weiß nicht, was ich für ihn war. Ich habe ihm ein Bier ausgegeben, später noch einen Rotwein und dann hatten wir noch einen Absacker in … ich weiß nicht mehr. Als Richie am nächsten Tag neben mir aufwachte, waren wir wohl zusammen. Richie ging einfach nicht mehr nach Hause – er aß bei mir, schlief bei und mit mir, und ich war wohl so etwas wie seine Muse. Lange traute ich mich nicht danach zu fragen, bis ich erfuhr, dass Richie gar kein anderes Zuhause hatte.
„Und nun folgen Sie mir in den nächsten Raum.“ Die Worte des Guides holen mich aus meinen Gedanken zurück. Im nächsten Zimmer des Schlosses fällt das Licht durch die großformatigen Fensterscheiben, die für die damalige Zeit total ungewöhnlich waren. Ich denke an Cora und mich. Auch wenn ich immer noch in diesem blöden Ein-Zimmer-Apartment wohne, träume ich schon lange von einem alten Gebäude, das ich eigenhändig ausstatten und designen könnte. Cora ist Innendesignerin und hat ein Händchen dafür, meine Ideen umzusetzen, auch wenn sie vorerst nur auf Papier festgehalten werden.
„Ich brauche gute Ideen von einem Spinner wie dir“, sagte sie zu mir, als sie den Plan der alten Villa vor mir auf dem Tisch ausbreitete.
„Auf alle Fälle gehört zu dieser Villa ein Pool. Oder ein See. Oder irgendwas mit Schwänen!“, sagte ich, als ich den Grundriss der Villa sah.
„Mit Schwänen? Luis, jetzt drehst du völlig durch!“ Cora faltete den Plan zusammen. Kurze Zeit später hatten wir uns zumindest auf eine Schwanentapete geeinigt. Cora und ich verbrachten viele Stunden mit dem Ausstatten der Villa. Richie hatte momentan eh wenig Zeit für mich. Er war mit den Vorbereitungen einer neuen Inszenierung beschäftigt. Dieses Arrangement hatte ihm Cora verschafft. Ihr neuer Freund war Dirigent eines großen Orchesters und sie hatte deshalb viele Kontakte in die Musikszene.
Plötzlich sind Wagnerklänge zu hören. Die Musik, die im nächsten prunkvollen Saal aus den Lautsprechern schallt, holt mich wieder in die Realität zurück.
„Wussten Sie, dass dieses Bild die Freundschaft zwischen König Ludwig und Richard Wagner hervorragend widerspiegelt?“ Der Guide deutet auf ein Gemälde. Ich stehe vor dem Bild mit reich verziertem goldenem Rahmen. Die beiden Männer auf dem Gemälde scheinen sich angeregt zu unterhalten, während im Hintergrund eine Frau zu sehen ist. Ich fühle mich auf eine seltsame Art stark zu dem Bild hingezogen.
Ich gehe noch einen Schritt auf das Gemälde zu und fixiere König Ludwigs Augen. Das rote Seil, das verhindern soll, dass die Besucher zu nah herantreten, spüre ich an meinem Bauchnabel. „Junger Mann, einen Schritt zurück bitte“, höre ich die Stimme des Guides wie durch Watte. Ich kann aber nicht anders. Noch einen Schritt nach vorn, meine Augen können nicht wegsehen. Ich rieche das Rosenparfüm ganz in der Nähe, aber nicht einmal das bringt mich dazu, meinen Blick von den Augen König Ludwigs abzuwenden.
„Und wissen Sie, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat?“, höre ich den Guide weitersprechen. Ich bekomme nicht mehr mit, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat, denn ich tauche ein in das Bild, spüre den Boden unter meinen Füßen nicht mehr. Ich habe das Gefühl, wie Mary Poppins mit dem rosa Rüschenschirm vom Boden abzuheben und auf die Höhe des Bildes zu schweben. Das Gemurmel der Besucher wird leise und ich höre nur noch die Rufe der Falken um mich herum, die von draußen in das Gemäuer hereindringen.
Richard steht mir plötzlich gegenüber. „Ludwig, bitte glaube mir!“, sagt er zu mir und sieht mich flehend an. Er streckt die Hände nach mir aus, aber ich stehe wie angewurzelt da. Ich kann ihm nicht mehr glauben – kein Wort. Ich hätte auf Cosimas Blicke achten sollen, auf Richards Blicke. Dann hätte ich es gewusst.
„Gib es doch endlich zu“, sage ich dann laut. „Cosima und du – ihr habt eine Liebesbeziehung!“
Richard empört sich: „Nein, haben wir nicht. Cosima ist schließlich verheiratet. Sie ist die Frau des Dirigenten! Niemals würde ich … – wir sind kein Paar! Der Dirigent unterstützt mich bei der Inszenierung. Da kann ich doch nicht…“, sagt Richard und sieht mich flehend an. Fast schon panisch. „Bitte Ludwig, glaube mir!“
„Du weißt, dass eine heimliche Liebesbeziehung mit Cosima bedeutet, dass du des Schlosses verwiesen wirst?“, antworte ich kühl. Ich versuche noch, seinen wundervollen Augen zu widerstehen. Aber ich schaffe es nicht. „Ich glaube dir“, füge ich dann leise hinzu.
Zwei Stunden später sitze ich im Reisebus auf dem Weg nach München. Ich kann mich an die restliche Führung durch das Schloss nur noch vage erinnern. Wie ein ferner Traum zieht das Erlebte an mir vorbei. Mit zittrigen Händen suche ich Cora in meinen Handy-Kontakten. Das Gefühl von Watte in meinen Ohren hat mich nicht mehr verlassen. Meine Gedanken spielen verrückt, völlig verrückt. „Hier ist Cora!“, überrascht mich ihre Stimme am Handy.
„Hi Cora...“, sage ich und schon spricht die Mailbox weiter. „Ich bin im Moment nicht erreichbar.“ Ich lege auf und bin kurz ratlos. Dann gehe ich auf Coras Blog für Innendesign und erstarre. Sofort sehe ich das neue Foto, das sie heute erst gepostet hat. Dort steht sie – in der frisch renovierten Villa. Sie streckt eine Hand nach vorn ins Bild. An ihrem Finger glitzert ein Ring mit einem protzigen Stein. In der anderen Hand hält sie ein Schild, auf dem steht: „Safe the date!“ Und neben Cora steht ihr Verlobter, den Arm liebevoll um ihre Schulter gelegt – Richie!
Julia Gehrig