Читать книгу Steinschlag - Emil Zopfi - Страница 11
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Im Korridor stapelte Andrea Holzkisten aufeinander, kletterte auf den wackligen Turm und machte sich mit einem Schraubenzieher an der Lampenfassung zu schaffen. Als das Telefon klingelte, verlor sie beinahe das Gleichgewicht.
Es war ihr Vater. Seine Stimme klang aufgekratzt. «Ich muss unbedingt den Tatort sehen!», schrie er ins Telefon.
«Welchen Tatort?»
«Die Tote vom Berg!»
«Du willst dort hinauf? Glaubst du, du schaffst das?»
«Schliesslich habe ich eine Tochter, die Bergführer ist.»
«Bergführerin bitte. Du willst dich von einer Frau führen lassen?»
«Bleibt mir wohl nichts anderes übrig», grummelte er. Dann fügte er in bedeutungsvollem Tonfall bei: «Ich hab da ein paar interessante Dinge herausgefunden.»
«Was denn?»
«Ich kenne den Mann.»
«Ach? Woher denn?»
«Der Name steht heute in der Zeitung. Hast du’s nicht gelesen?»
«Ich war unterwegs mit einem Gast.»
«Eine eigenartige Todesanzeige. Mit einem Gedicht garniert. Tiefsinnig und vieldeutig. Man kann zwischen den Zeilen lesen.»
«Was für ein Gedicht?»
«Goethe. Aber hol dir eine Zeitung, lies selbst.»
«Wie heisst er denn? Und die Frau?»
«Claudia und Werner Baumberger-Lévi. Sagt dir das was?»
Andrea dachte nach. Baumberger war ein Name aus der Gegend. Lévi klang fremd.
«Mach die Augen auf, wenn du das nächste Mal in die Stadt fährst.»
«Ach Robert …» Sie seufzte. «Sprich doch nicht immer in Rätseln.» So war er. Anekdoten, Witze, Anspielungen, Ironie.
«Lévi», sagte er. «Das Zementwerk.»
Nun erinnerte sie sich. Die Fabrik beim Kalksteinbruch hinter der Raststätte. Turmartige Brennöfen und Silos, qualmende Schlote, Förderbänder und Staub.
«Lévi war ein Familienbetrieb. Als sie an die Zementholding verkauften, haben die Lévis irre Geld gemacht. Eine der reichsten Familien der Gegend. Kapitalisten. Betonköpfe. Das ist Claudia Lévi.»
«Und Baumberger?»
«Sozusagen das Gegenteil. Ein alter Kunde.»
«Des Zementwerks?»
«Nein, von mir. Von meiner Firma.»
«Was meinst du damit?»
«Amtsgeheimnis. Verstehst du?»
«Verstehe, Herr Kommissar», sagte Andrea. «Ruf morgen früh an. Wir können zusammen zur Unfallstelle wandern. Was willst du überhaupt dort oben?»
«Es war kein Unfall!», schrie er ins Telefon. «Eine Untersuchung läuft!»
«Und da willst du auch noch mitmischen? Hast du überhaupt Wanderschuhe?»
«Irgendwo auf dem Estrich. Ich hoffe, sie passen mir noch.»
«Fett setzt ja bekanntlich nicht an den Füssen an. Aber bist du auch noch fit? Wir werden über eine Stunde brauchen.»
«Früher musste ich doch auch immer mit …» Seine Stimme stockte. «Ich rufe morgen an.»
Andrea legte den Schraubenzieher weg, mit dem sie während des Gesprächs auf den Schreibtisch getrommelt hatte. Ihre Hand war feucht. «Früher musste ich doch auch immer mit …» Der Satz hatte sie getroffen. Früher. Er hatte die Wanderungen gehasst, er verabscheute die Berge. Doch tat er Mutter den Gefallen. Sie war in Pratt aufgewachsen, hatte sich nie heimisch gefühlt in der Stadt. «Wie eine Bergdohle im Käfig», sagte sie manchmal.
Wenn sie wanderten, trug sie den Rucksack und ging immer mit leichtem Schritt voran, als habe er überhaupt kein Gewicht. Vater keuchte hinterher, Schweissperlen auf der Glatze. «Du trägst den Rucksack, ich die Verantwortung», war einer seiner Sprüche gewesen. Oft blieb er dann irgendwo sitzen, rauchte, ass den Proviant auf und trank die Feldflasche leer, während sie und Mutter einen Gipfel bestiegen. Wenn sie noch leben würde, stellte sich Andrea vor, würde sie bestimmt klettern, sich durch Felswände führen lassen von ihrer Tochter, stolz auf ihre Bergführerin. Sie würden auf dem Gipfel sitzen an der Sonne, die Bergdohlen füttern, sich ohne Worte nahe und glücklich sein.