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Sie stolperte, versuchte sich festzuhalten, griff ins Leere, fiel gegen die Wand und schlug mit dem Ellbogen auf einen Pickelhammer, der am Boden lag. Der Schmerz zuckte wie ein elektrischer Schlag durch ihren linken Arm. Sie schrie auf. Dann lag sie am Boden, mit dem Rucksack am Rücken, und rieb sich das Gelenk. Sie hatte noch keine Zeit gefunden, im Korridor eine Lampe zu montieren. Alles war provisorisch in ihrem Leben. Beruf, Beziehungen, Finanzen. Die Wohnung ein Chaos, der Korridor eine Abstellkammer für Seile und Säcke, Schuhe, Eispickel, Steigeisen, Bündel von Karabinern und Schlingen und Klemmkeilen.

Morgen ist Sonntag, sagte sie sich, Nebel und Regen. Sie würde Zeit finden, um aufzuräumen, Ordnung in ihre Dinge und ihr Leben zu bringen. Einen Augenblick blieb sie im Dunkeln liegen, massierte mit dem Daumen den schmerzenden Sehnenansatz am Ellbogen. Sah die tote Frau vor sich, wie sie auf dem Felsabsatz lag, den Arm schützend über dem Kopf.

Andrea spürte den Schweiss des raschen Auf- und Abstiegs auf der Haut prickeln. Sie befreite sich vom Rucksack, rappelte sich hoch und tastete sich zur Tür des Zimmers, in dem sie eine Art Büro eingerichtet hatte. «Andrea Stamm, Rock’n’ Ice.» Das war ihr Label. Ein Wortspiel, Fels und Eis, hübscher Fels. Es erinnerte an Rock’n’ Roll, an Musik, an Amerika.

Die rote Lampe des Beantworters blinkte. Sie machte Licht, drückte auf die Taste, zog den Faserpelz aus und hängte ihn an einen Kleiderhaken, während sie der gespeicherten Stimme zuhörte. «Daniel Meyer. Hätten Sie Zeit, eine Klettertour zu führen, Montag. Rufen Sie doch bitte zurück. Ich bin bis Mitternacht erreichbar.»

Sie notierte die Nummer auf einen Zettel, klemmte ihn aufs Magnetbrett. Dann duschte sie, rieb sich den Ellbogen mit Salbe ein, machte sich ein Käsesandwich, hockte im Schneidersitz auf den Futon und zappte durch die Programme. Sie döste ein, der Lärm von Schüssen schreckte sie auf. Über den Fernsehschirm flimmerte eine Verfolgungsjagd durch eine amerikanische Stadt, Reifen quietschten, Sirenen wimmerten. Es war kurz vor Mitternacht. Sie schaltete aus, ging nochmals ins Büro, wählte die Nummer.

«Stadtspital, Sie wünschen?»

Eine verschlafene Frauenstimme. Andrea glaubte, sie sei falsch verbunden.

«Sie wünschen?», wiederholte die müde Stimme.

«Ich suche einen Daniel Meyer.»

«Sie haben Doktor Meyers Nummer gewählt. Er ist im Augenblick nicht erreichbar. Worum geht es?»

«Er hat auf meinen Beantworter gesprochen. Ich soll zurückrufen.»

«Ist es privat?»

«Nein, geschäftlich.»

Die Frau schien nachzudenken, sagte schliesslich: «Ich lasse ihn suchen. Wen darf ich melden?»

«Andrea Stamm. Kletterschule Rock’n’ Ice.»

«Wie bitte?»

Andrea wiederholte. Dann schlug ihr misstönende Musik ins Ohr. Sie wartete.

«Meyer.»

«Rock’n’ Ice, Andrea Stamm. Ich soll Sie zurückrufen.»

«Die Bergführerin?»

«Die bin ich.»

«Ich habe Montag meinen freien Tag. Möchte die Sila klettern.»

«Die Sila?» Für einen Augenblick fand Andrea keine Worte. Die Sila wäre der erste anspruchsvolle Auftrag. Nicht bloss eine Wanderung mit Senioren, ein Klettersteig oder ein bescheidener Grat. Die Sila wäre der Durchbruch.

«Hätten Sie Zeit?», fragte der Mann. «Der Wetterbericht klingt nicht schlecht.»

«Ich kenne Sie ja nicht.»

«Natürlich nicht. Aber Sie kennen den Berg. Sie sind mir als Führerin empfohlen worden.»

«Von wem?»

«Stefan Weyermann.»

«Ach Stef!»

Stef hatte sie empfohlen. «Dann, ja dann …» Sie machte den Satz nicht fertig. Dachte: Warum? Was will Stef damit? Schob die Frage weg, verschob sie auf später. Sie musste jetzt zusagen, Ja sagen, zum zweiten Mal an diesem Tag. Ja zum Tod, ja zum Leben. Beides gehörte zum Beruf, den sie gewählt hatte. Sie musste alles vergessen, was vergangen war. Nur nach vorn blicken. «Ja, dann Montag, die Sila», sagte sie.

«Super», sagte Meyer. Er war Arzt, liess sie seine Ungeduld spüren. «Sie seien eine hervorragende Kletterin, hat mir Stefan versichert. Sie nähmen an Wettkämpfen teil. Die Sila sei für Sie Peanuts.»

«Welche Route?», fragte Andrea.

«Die klassische Westwand. Ich kenne sie von früher. Eine Nostalgietour sozusagen.»

«Die Route ist saniert, mit neuen Haken und Abseilringen ausgerüstet.»

«Was kostet der Trip?»

«Die Westwand, Moment mal …» Andrea tat, als müsse sie in einer Liste nachsehen. Sie war es noch nicht gewohnt, klar und ohne zu zögern den Preis einer Bergtour zu nennen. Kam sich dabei vor, als ob sie etwas verkaufe, was sie eigentlich verschenken sollte. Doch es musste sein. Auch Ärzte hatten ja ihren Tarif. Sie nannte die schöne runde Zahl, die ihr mehr Eindruck machte als die Wand selber. Wenn es klappte, würde sie ein paar Rechnungen bezahlen können.

«Okay», sagte der Arzt. «Montag also.»

Sie vereinbarten Zeit, Treffpunkt. Andrea legte auf. Trat auf den Balkon. Noch immer lag Nebel. Vom Wohnblock auf der andern Strassenseite drangen die Lichter gedämpft herüber. Ein Auto fuhr vorbei. Dann war es wieder still, die Welt in schwarze Watte gehüllt.

Steinschlag

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