Читать книгу Steinschlag - Emil Zopfi - Страница 8
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An der Kaffeebar der Autobahnraststätte sassen nur wenige Leute, rauchten, lasen Zeitung. Sie bestellte einen Espresso und einen Brioche, blätterte durch die Sonntagszeitung, fand nichts über den Unfall. Dann rief sie ihren Vater an.
«Bist du unterwegs?», fragte er. «Ich verstehe dich kaum.»
«Auf dem Weg zu dir.»
«Nicht auf einem Berg?»
«Schlechtes Wetter.»
«Ist das Wetter schlecht, dann ist der alte Papa recht.» Er lachte über den Reim, den sie ziemlich blöd fand. Sie vernahm eine Stimme aus dem Hintergrund. Im Rauschen des Mobiltelefons hörte sich seine Antwort an wie holpriges Englisch.
«Hast du Besuch?»
«Mein Schutzengel ist da.»
Sein meckerndes Lachen ging ihr auf den Geist. Sollte sie wieder umkehren? Auf eine der Damen, die er auf Carreisen oder Tanznachmittagen anbaggerte, hatte sie nicht die geringste Lust. «Meine Zuckerpuppe» nannte er sie. «Mein Haussegen, meine Dulcinea». Diesmal war es sein Schutzengel. «Seit wann sprechen Schutzengel Englisch?», fragte Andrea.
«Engel sprechen Englisch. Darum heissen sie Engel.
«Sehr witzig.»
«Spiel nicht die beleidigte Tochter. Kommst du zum Essen?»
«Hab keinen Hunger.»
«Also du kommst», sagte er. «Beeil dich. Es gibt was Besseres als Leberwurst.» Er hatte ein Flair für Damen, die gut kochten.
Auf dem Parkplatz waren zwei Männer vor ihrem Jeep stehen geblieben. Er fiel auf. «Rock’n’ Ice» prangte auf beiden Seiten in Graffitischrift. Ein Farbverlauf von Gelb nach Blau sollte die Verbindung von Fels und Eis darstellen. Darunter stand ihre Webadresse: www.rocknice.com.
«Sieht geil aus», hörte sie einen der Männer sagen, bevor sie weitergingen. Der Jeep war die Investition ihres Vaters ins Unternehmen. «Von deinem Erbteil.» Das hatte er wohl ironisch gemeint, wie so vieles. Es war ein älteres Modell, das schon etwas Rost angesetzt hatte bei Fahrten durch Gebirge und Wüsten. Robert hatte den Wagen für einen guten Preis einem bekannten Garagenbesitzer abgeschwatzt. «Der war mir noch was schuldig. Von früher.»
Auf der Autobahn rauschte sie auf der Überholspur an den Sonntagsfahrern vorbei, summte zu einer CD von Laurie Anderson und zum Zischen der Reifen auf dem feuchten Asphalt. «You’re walking. And you don’t always realize it, but you’re always falling …»
Sie parkte an der Quartierstrasse vor dem Reihenhaus mit dem kleinen Garten. Eine Siedlung für städtische Angestellte, Strassenbahner, Arbeiter des Wasserwerks, Polizisten. Hier war sie aufgewachsen, doch fühlte sie sich nicht mehr zu Hause in dieser Welt von Ruhebänken, Rosenbeeten, Gemüse und Gartenzwergen. Sie stiess das Gartentor auf, schritt über den Plattenweg zum Haus. Das Rasenviereck im Garten war nicht gemäht, die Johannisbeersträucher mit Brennnesseln durchwuchert, die Gemüsebeete voller Unkraut, ein paar Salatköpfe aufgeschossen. Keine Bohnen, kein Rosenkohl, kein Lauch waren gepflanzt. Die Erdbeerstöcke verdorrt, die Mutter immer sorgfältig mit Holzwolle unterlegt hatte. Andrea schob die Erinnerungen weg und klingelte.
Robert öffnete, drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. «Warum klingelst du? Komm doch rein.» Er duftete nach Rasierwasser und trug ein orangefarbenes Polohemd mit blauen Segelschiffen, das sich über seinem Bauch spannte. Die obersten Knöpfe standen offen, eine Kette mit einer Silbermünze baumelte an seinem Hals über den weissen Brusthaaren.
«Ich wollte nicht stören.»
«Du störst doch nie. Du bist hier zu Hause, Tochter.»
Es war einmal, dachte sie. Ein Duft von exotischen Gewürzen erfüllte den Korridor und befremdete sie. Durch die Milchglasscheibe der Küchentür sah sie einen Schatten am Herd hantieren, hörte Öl zischen und Pfannen klappern. Der Schutzengel kochte.
«Es gibt Thai-Food, original.»
Robert deutete mit einer Handbewegung zur Sitzgruppe am Fenster. «Einen Apéro?»
«Wenn du Orangensaft hast.»
«Noch immer abstinent?»
Andrea nickte: «Immer.»
Er seufzte, ging hinaus.
Das Wohnzimmer sah ordentlicher aus als bei früheren Besuchen. Keine Zeitungen lagen auf den Sesseln und dem Clubtisch herum, keine Wäsche türmte sich auf der Sitzbank am Tisch. Die Kacheln und die Messingtür des Ofens glänzten.
Robert brachte ein Glas Orangensaft aus der Küche. «Frisch gepresst.» Aus dem Schrank holte er eine Flasche Scotch, schenkte sich ein. Sie prosteten sich zu. «Schön, dich wieder einmal zu sehen, Tochter.»
«Sag nicht immer Tochter, bitte.»
«Du bist nun halt mal meine Tochter.» Er nahm einen Schluck, blickte zur Tür, stellte das Glas ab und fuhr sich mit beiden Händen über den grauen Haarkranz. Auf seiner Glatze standen Schweisstropfen.
«Gehts dir gut?», fragte Andrea.
Robert blickte in sein Glas, liess die Eiswürfel kreisen. «Gut, ja. Eigentlich ganz gut. Und dir?» Er griff nach ihrer Hand. «Du kaust noch immer Nägel?»
Sie zog die Hand zurück. «Sie brechen ab beim Klettern.»
Nach geraumer Zeit ging die Tür, eine zierliche Frau trat über die Schwelle, blieb stehen, nickte Andrea zu und lächelte schüchtern. Mein Gott, eine Thai, schoss ihr durch den Kopf. Sie hatte eine Dame in Roberts Alter erwartet, nun stand ein Mädchen mit einem Engelsgesicht neben ihm, das ihm knapp über die Schulter reichte. Er legte seinen Arm um ihre Taille und schob sie sacht ins Wohnzimmer. «Andrea, this ist Ning.»
Er wich ihrem Blick aus, wandte sich zu Ning: «I would like to introduce you to my daughter Andrea.» Er presste den Satz hervor, als hätte er ihn für eine Prüfung auswendig gelernt.
Andrea ergriff eine schmale Hand, die ihren Druck kaum erwiderte und sich gleich wieder entzog. Das war also der Schutzengel. Ein Mädchen mit Grübchen in den Wangen, schmalen Augen, dunklen, nach hinten gesteckten Haaren und einem arglosen Lächeln im Gesicht. Ning aus Thailand. Aus welchem Himmel bist du gefallen in dieses kleinkarierte Quartier, in dieses trostlose Haus. Sie rang sich ein «Glad to meet you» ab.
«Glad to meet you», zwitscherte der Engel aus dem Fernen Osten, betonte das «You», huschte hinaus und kehrte mit einer Platte zurück, auf der sich Frühlingsrollen türmten. Sie verschwand gleich wieder, brachte einen Topf Suppe, eine grosse Schüssel Reis, kleinere mit Auberginen, Bambussprossen und gebratenem Geflügel, Büchsen und Flaschen mit Austern- und Kokossauce.
Robert schnipselte an der Kappe einer Flasche Barolo, zog den Zapfen, roch an ihm, rümpfte die Nase, schenkte sich ein, kostete mit dem ernsten Gesicht des Kenners. Er unternahm alles, um Andreas Blick und ihren Fragen auszuweichen. «Ich nehme Englischstunden an der Volkshochschule. Im Alter muss der Geist beweglich bleiben.»
«Im Alter, ja.» Andrea setzte sich, griff sich mit zwei Fingern eine Frühlingsrolle. Sie schmeckte frisch und knusprig.
«Ich fürchtete anfangs, ich müsse mit Stäbchen essen», sagte Robert.
«We use sticks only for noodles», erklärte Ning.
Andrea wunderte sich, dass er das scharfe Essen überhaupt antastete. Er behauptete sogar, es schmecke ihm, obwohl es ihm Schweissperlen auf die Stirn trieb.
«Robert has told me a lot about you», sagte Ning. «You are a mountain guide, aren’t you.» Ihr Englisch war gut.
«Yes, I am.»
«Oh, I would very much like to see the mountains. The goats, the meadows, where Heidi lives.»
«I show you the mountains», sagte Robert. «We make trips. See Matterhorn, Jungfraujoch, Säntis.» Er trank hastig, schenkte sich Wein nach, obwohl das Glas noch halb voll war.
«Heidi is only a fiction», warf Andrea hin und bereute es sogleich.
Doch Ning strahlte sie an. «I saw Heid in the movies in Thailand. It was so terrific and I dreamed to see the mountains once in my life.»
«I show you the mountains if you like», sagte Andrea. «The real mountains.»
«Oh, I would like so much. You are so kind. People here are so kind», sagte Ning mit dem immer gleichen Lächeln, von dem man nicht wusste, welche Gefühle und welche Geschichte es verbarg.
Andrea bot sich an abzuwaschen, doch Ning liess es nicht zu. «Next time you can help.»
Sie erwartete also ein nächstes Mal. Das hiess, sie wollte bleiben.
Robert setzte sich in einen Sessel, steckte sich eine Zigarre an. «Ning ist ein Geschenk des Himmels», sagte er mehr zu sich als zu Andrea.
«Und wie kommt man zu so himmlischen Geschenken?»
Er blickte gedankenverloren in den Rauch, blieb aber stumm. Ning servierte Kaffee und Plätzchen, schwebte wieder in die Küche zurück.
Andrea begann von der Bergung der Toten zu berichten.
«Wie heisst die Frau?»
«Ich weiss nicht …» Amstad hatte ihr erzählt, der Mann habe Alarm geschlagen. Er sei ausser sich gewesen, habe nicht einmal den Unfallort genau beschreiben können. Amstad musste den Namen der Frau kennen, hatte vergessen, ihn zu erwähnen, oder aus irgendeinem Grund verschwiegen.
«Er hat vielleicht befürchtet, du gebest den Namen an die Presse weiter.»
«Kann sein. Oder ich habe ihn überhört in der Aufregung.»
«Wie hat er den Alarm bekommen? Von wo aus hat der Mann telefoniert? Wohin ist er anschliessend gegangen?»
Andrea zuckte die Achseln. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie nichts gefragt hatte und nun nicht Bescheid wusste. Sie war einfach Amstad gefolgt. «Siehst du, ich wäre eine schlechte Polizistin geworden.»
Robert ging nicht auf die Anspielung ein. Als sie nach dem Gymnasium nicht studieren wollte, hatte er ihr die Polizeischule vorgeschlagen. Sie war nicht sicher, ob er es wirklich ernst gemeint hatte. «Bergführer ist doch kein Beruf für eine Frau», hatte er ihr vorgehalten. «Gefährlich, schlecht bezahlt, keine soziale Sicherheit, immer mit einem Bein im Abgrund.»
Dann erst recht!, war ihre Reaktion gewesen. Dabei zweifelte sie manchmal selber. War es ihr Beruf? Oder nur der Traum, ihre Leidenschaft zu leben? Durch den Nebel stapfen mit einem stummen Kollegen, um eine Tote zu finden und einzupacken, war gewiss nicht das, was sie sich erträumt hatte.
«Gibt es eine Untersuchung? Hat man Spuren gesichert?»
«Es war eine Bergung, kein Polizeieinsatz.»
«Es muss eine Untersuchung geben. Das ist Vorschrift. Ein Bergführer sollte das wissen.»
«Wahrscheinlich hat Amstad die Polizei benachrichtigt. Er hat genug Erfahrung.»
«Wahrscheinlich ist keine Antwort, Tochter. Ich werde der Sache nachgehen.» Sein Polizeiinstinkt erwachte. Das Thema war ihm offensichtlich angenehmer als Fragen nach seinem Schutzengel.
«Ihr hättet die Leiche nicht anfassen dürfen, bevor eine Amtsperson vor Ort gewesen ist.»
«Amstad meinte, die Luchse würden sie fressen.»
«Unsinn! Man hätte einen Untersuchungsrichter aufbieten müssen.»
«Bei jedem Unfall?»
«Nicht bei jedem. Aber bei diesem. Es gibt keine Zeugen. Es könnte sich ja um Mord handeln.»
Robert tupfte die Zigarre in den Aschenbecher, holte sich einen Cognac, liess ihn im Schwenker kreisen. «Ning wohnt jetzt bei mir. Wie findest du das?» Er grinste wie ein Schüler, der mit seinem ersten erotischen Abenteuer prahlt.
«Willst du mich um Erlaubnis fragen?»
«Ich will nur wissen, was du darüber denkst.»
«Wenn ich sagen würde, ich finde es total daneben?»
Er nahm einen Schluck, hob die Schultern.
«Brauchst du denn einen Schutzengel?»
«Ich brauche …» Er setzte den Schwenker an die Lippen und nahm einen Schluck.
Andrea trat hinter ihn, legte ihre Hände auf seine Schultern, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Flaum seiner Glatze. Wie alt war er? Gut sechzig, frühpensioniert. Und Ning? Nicht zu schätzen, irgendwo zwischen achtzehn und vierzig. Engel haben kein Alter. Engel sprechen Englisch. Engel fallen vom Himmel. Engel werden gebraucht.
«Soll ich der Sache nachgehen? Was meinst du?» Er strich sich über den Haarkranz, erhob sich dann schwerfällig und schwankend. «Ich habe noch einen heissen Draht zur Firma.»
«Wenns dich interessiert», sagte sie. «Ich muss jetzt gehen. Habe morgen einen Gast.»
«Dann läuft das Geschäft also?»
«Es läuft, du kannst beruhigt sein.»
In der Küche polierte Ning den Abwaschtrog und summte dazu eine Melodie.
«The meal was delicious», sagte Andrea.
«Thank you very much. You are so kind.»
Andrea drückte ihr die Hand vorsichtig, sie hatte Angst, mit ihren Kletterhänden die zarten Finger zu brechen.
Als sie im Wagen sass, stand Ning mit Robert am Fenster. Sie hatte sich bei ihm eingehängt, schien sich an ihm festzuhalten und winkte. Andrea winkte zurück.