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Er wartete auf dem Parkplatz an der Abzweigung ins Bergtal, an seinen Wagen gelehnt, und rauchte. Es war noch dunkel, und Andrea nahm seine gedrungene Gestalt zuerst nur als Schatten wahr. Die Zigarette zischte in eine Pfütze.

«Daniel.» Sein Händedruck war fest, seine Gesichtszüge wirkten im grauen Morgenlicht weich. Die Augen lagen im Schatten hinter dicken Brillengläsern.

«Wartest du schon lange?»

«Kein Problem.» Er schaute auf die Uhr. «Du bist pünktlich. Ich bin meist zu früh. Wahrscheinlich ist es die Angst, das Leben zu verpassen.» Der Satz klang melancholisch.

«Wir fahren mit dem Jeep», schlug Andrea vor. «Die Alpstrasse ist steil.»

Kehre um Kehre wand sich die Strasse durch den Wald ins Bergtal. Nebel schlich dem Hang entlang, von den Bäumen tropfte es auf die Strasse. In den Kurven glitzerten die nassen Stämme der Buchen im Licht der Scheinwerfer.

«Früher war hier Naturstrasse», bemerkte Daniel.

«Du kennst die Gegend gut?»

«Wir kamen oft hierher.» Er sei ein Freak gewesen, bevor er studiert habe. «Total angefressen.» Dann lange im Ausland, seit kurzem zurück am Spital. Als Arzt komme er leider nur noch selten zum Klettern. Er zog seine Brille aus, die sich beschlagen hatte, ein kantiges Designermodell mit Metallrand, putzte sie mit einem Papiertaschentuch. Dann lehnte er sich zurück, versank in Schweigen. Andrea war es unangenehm, doch sie mochte nicht fragen. Woher er Stef kenne. Ob er Familie habe. Was er alles schon geklettert sei.

«Darf ich rauchen?», fragte er nach einer Weile.

«Selbstverständlich.»

Er hielt ihr die Packung hin, sie lehnte ab.

«Besser so.»

Ein typischer Arzt, dachte sie. Ärzte rauchen und raten ihren Patienten, damit aufzuhören.

Es dämmerte, als der Wald lichter wurde und vom Dorf eine Reihe von Wochenendhäusern in Sicht kam. Chalets mit Betonsockeln und geschnitzten Balkongeländern. In der «Alpenrose» brannte Licht. Seit zwei Künstlerinnen die alte Dorfbeiz führten, kehrte Andrea oft ein nach einer Tour.

Hinter der Kapelle mit dem frei stehenden Turm setzte die Alpstrasse steil an. Sie war für den Privatverkehr gesperrt, doch Andrea steckte ein Schild aufs Armaturenbrett: «Bergführerin».

«Hier war nur ein Fussweg», sagte Daniel. «Wir mussten in der Hütte übernachten. Gibts die noch?»

«Sie gehört der Kletterschule aus Pratt.»

«Der Konkurrenz?»

«Kann man so sagen. Wir haben vereinbart, dass ich sie auch benutzen darf.»

Auf dem Sattel vor der Hütte liessen sie die letzte Nebelbank hinter sich. Grau schälte sich die Felswand vor ihnen aus dem Schatten. Ein Sporn aus hellem Gestein ragte in ihrem rechten Teil mehrere hundert Meter senkrecht in die Höhe: die Sila. Sie wirkte glatt, kalt und abweisend.

In der Senke hinter dem Sattel endete die Fahrstrasse auf einem Parkplatz bei einer Gruppe von Alphütten. Andrea reichte ihrem Gast die Thermosflasche. «Kaffee?»

«Das nenne ich Service.» Er schraubte die Kappe von der Flasche und schenkte sich ein. Der Kaffee dampfte in der kühlen Luft und verbreitete einen angenehmen Duft. Das heisse Getränk wärmte die Seele und weckte die Unternehmungslust.

Ein Senn trieb Kühe aus dem Stall, sein archaisches «Hou, hou, hou» hallte durch die Stille. Er hob seinen Stock zum Gruss, rief etwas herüber, dann schlug er auf die Rücken der Kühe ein, die sich widerwillig ins Freie drängten. Hinter den trüben Scheiben einer Hütte schimmerte Licht, Rauch stieg aus einem Kamin.

Andrea ging voran durch nassen Ampfer, der rund um die Alphütten wucherte, folgte einem Trampelpfad der Kühe zwischen Graspolstern und Alpenrosenstauden zum Fuss der Schutthalden. Die ersten Sonnenstrahlen berührten den Felskamm, der sich weit nach Westen dahinzog. Seine Zacken zeichneten sich scharf wie ein Scherenschnitt in den Morgenhimmel. Die Wand darunter erschien schwarz und konturlos. Andrea liess sich nicht beeindrucken, sie kannte die Sila, sie war ihr gewachsen.

Daniel folgte mit geübtem Schritt. Sie legte Tempo zu, verminderte es wieder auf der Zickzackspur durch die Geröllhalde. Der Weg verlor sich im Schutt. Andrea stieg in der Falllinie weiter auf den Pfeilerkopf zu, der den Einstieg in die Westwand der Sila bildete. Auch bei der ersten leichten Kletterei über glatt geschliffene Platten folgte Daniel dicht hinter ihr. Auf einem Absatz stellte sie den Rucksack ab, trank einen Schluck Wasser.

«Darf ich noch eine rauchen?»

«Warum fragst du?»

«Du bist die Führerin, du bestimmst.»

«Ich erlaube es dir.» Sie lachten.

Andrea zog ihren Klettergürtel fest, klippte Expressschlingen, ein paar Klemmkeile und Friends daran und fädelte das Doppelseil ein. Daniel setzte eine Brille mit Drahtgestell und kleinen Gläsern auf, sicherte sie mit einem Bändel. Mit der Zigarette zwischen den Lippen hängte er sich an einen Ringhaken. Seine Handgriffe waren geübt und sicher. Sie bereiteten sich vor, als seien sie ein eingespieltes Team.

«Alles okay?» Sie warf ihm einen Blick zu, sah, dass er schon sicherte.

«Du kannst gehen.»

Sie hängte sich den kleinen Klettersack mit Proviant und Wasser um und kletterte los. Geneigtes Gelände, das Vorsicht erforderte wegen losen Gesteins. Steinschlag, dachte sie, während sie über Blöcke und Absätze höher stieg. Der Gedanke an die Tote war ihr unangenehm. Sie fürchtete, dass er sie den ganzen Tag verfolgen würde. Beschäftigte sie etwas zu Beginn einer Klettertour oder hatte sie eine Melodie im Kopf, so begleiteten sie die Klänge, die Gedanken und Bilder den ganzen Tag. Es war, als ob die Konzentration auf die Griffe und Tritte, den Rhythmus des Kletterns und des Sicherns, den Gedanken und Gefühlen wenig Raum lassen würde, sich frei zu entfalten.

Während sie ihren Gast sicherte, sah sie die Frau auf dem Weg dahinschreiten, durch den Nebel jenes Nachmittags. Hinter ihr der Mann, von dem sie sich noch kein Bild machen konnte. Schweigend, in Gedanken versunken wanderte das Paar. Plötzlich krachte es über ihnen in der Wand. Vielleicht schrie er: «Stein!» Doch schon zuckte sie zusammen unter dem Schlag, taumelte gegen den Abgrund, überschlug sich im Sturz, blieb auf dem Felsband liegen. So könnte es geschehen sein. Die Frau hatte wegen des rauschenden Wassers weder den Stein noch den Warnruf gehört.

Andrea warf einen Blick auf den Ringhaken, an dem sie sich in der Wand sicherte. Alles in Ordnung. Sie schaute hinab zur Alp, wo die letzten Nebelfetzen über den Hügelzug trieben, der sich vom Sattel gegen Süden erstreckte. Wie Schiffe sahen sie aus, deren weisse Segel in der Sonne leuchteten. Die Täler waren blaue, mit Schatten erfüllte Fjorde. Sie hörte das zärtliche Tingeln der Kuhglocken, die Rufe des Hirten. Daniel erreichte den Stand, der erste Überhang lag unter ihnen.

Sie waren aufgewärmt, nun erwachte ihre Kletterlust erst richtig. Noch immer im Schatten erreichten sie den Plattengürtel, die Schlüsselstelle. Daniel bat um eine Pause. Am Sicherungsring hängend reichte sie ihm die Wasserflasche und einen Getreideriegel. «Jetzt kommt das schönste Stück.»

«Ich weiss. Ich kenne die Route. Bin gespannt, wie dus packst.» Er steckte sich eine Zigarette an.

«Wie oft hast du sie geklettert?»

«Mehrmals. Sogar allein wollte ich es mal versuchen. Erster Solo.»

«Du warst ein Crack zu deiner Zeit, nicht wahr?»

«Zu meiner Zeit? Vielleicht …» Er blies Rauch durch die Nase. «Man ist selten das, was man zu sein glaubt.»

«Was hast du denn geglaubt von dir?»

«Ich meinte, ein verrückter Freak zu sein. Ein Querschläger, ein Querulant, ein Desperado, ein Frauenheld. Genügt das?»

«Wunderbar», sagte sie. «Schade, bin ich nicht früher geboren.»

«Oder ich später.»

Sie sahen sich an und lachten. Er hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gebunden, versteckte damit den Ansatz einer Glatze und glich so den Freaks, mit denen sie in den Staaten geklettert war. In seinem Ohrläppchen blinkte ein Ring. Ein Arzt und Kletterfreak mit Ohrring und melancholischer Stimme.

Sie waren sich nahe, am Haken hängend, ihre Ellbogen berührten sich. Die Befangenheit der ersten Begegnung war verflogen. Andrea fragte: «Und was bist du wirklich, wenn nicht ein Freak, ein Querulant, ein Querschläger?»

«Ein Spiessbürger, eine treue Seele. Und ein guter Arzt, hoffe ich.»

«Auch schön», sagte sie. Dann kletterte sie leicht und beschwingt über die glatte Platte, fast euphorisch klippte sie Haken um Haken, hörte die Kuhglocken und das Tingeln der Karabiner, hörte irgendwo Wasser rauschen oder Wind, und dann, noch kletternd, ein fernes Brummen. Sie kam zum Stand, richtete sich ein, und während Daniel bedächtig über die Schlüsselstelle folgte, gelegentlich nach Griffen suchte, aber nie im Seil hing, sah sie den dunklen Punkt aus dem Schatten ins Sonnenlicht steigen. Ein Heli wie eine rote Hummel. Er strich dem Wandfuss entlang gegen Westen, verschwand hinter einer Krete. Er war gekommen, um die Tote zu bergen, die seit zwei Tagen in einem alten Biwaksack auf einem Felsband lag.

«Was ist das?», fragte Daniel am Stand. «Unfall?»

«Eine Frau, am Samstag vom Steinschlag getroffen.»

«Beim Klettern?»

«Auf dem Weg unter der Wand. Dort, wo er die Runse quert. Sie war mit ihrem Mann auf dem Abstieg von der Hohen Platte.»

«Auf dem Weg? Eigenartig.»

Andrea erzählte, wie sie die Tote gefunden und gesichert hatten. Das Brummen des Helikopters schallte gegen die Wand. Er stand über der Krete in der Luft.

«Sie setzen die Winde ein. Der Heli kann dort nicht landen, es ist zu steil.»

«Hast du die Frau gekannt?»

«Ich weiss nicht einmal ihren Namen.»

Sie kletterten weiter. Einen Überhang überwand sie fast im Spagat, elegant und schnell, fühlte sich dabei wie eine Balletteuse auf einer senkrechten Bühne. Obwohl sie vor Ballett eine tiefe Abscheu hatte, vor einstudierten, von einem Ballettmeister choreografierten Abläufen. An der Wand bestimmte sie selber, hier war sie die Meisterin, sie fand ihren Rhythmus und ihren Weg selber. Deshalb war sie wohl Bergführerin geworden. Sie wollte führen, nicht geführt werden.

Unter den Ausstiegsrissen, kurz vor dem Gipfel, überströmte sie eine Welle von Sonnenlicht. Sie tranken Wasser, teilten sich eine Banane und einen Apfel. Unvermittelt schlug das flatternde Dröhnen des Helikopters um eine Kante, er drehte von der Wand weg, schraubte sich in die Höhe, schleppte an einem Seil ein Netz, und in diesem hing die Leiche im gelben Sack und drehte sich um ihre eigene Achse. Der Helikopter wendete sich gegen das Tal, tauchte in den Schatten, sein Gebrumm verebbte. Sie schauten ihm nach. Daniel sagte: «Mich haben sie auch mal so geholt. Von hier oben.»

«Glück gehabt also.»

«Glück gehabt. Und einen Freund, der mir das Leben gerettet hat.»

Er blickte dorthin, wo der Helikopter verschwunden war, wo sich die Hügel zu den Alpen hin erstreckten, ein grüngraues Wellenmeer von Weiden, Wäldern, Fels. Er sah in die Ferne und doch in sich hinein, schien es, zog an seiner Zigarette und sprach kein Wort mehr, bis Andrea weiterkletterte, die Risse hinauf, die zum Gipfel der Sila führten. Der Felsturm war aus härterem Gestein als die Wand der Plattenburg, aus der er vorsprang. Härter als der Rest der umliegenden Berge. Eine Sage erzählte, die Sila sei eine versteinerte Frau. Deshalb liebte Andrea diesen Turm aus Stein, der fester und stärker war als alle andern Felsen des Gebirgszugs. Die Sila würde noch aufrecht stehen, wenn die umliegenden Berge zerbröckelt und zu Staub zerfallen waren.

Wieder packte sie der Gedanke an den Steinschlag, dieses Zeichen des Zerfalls. Sie sah den Stein niederkrachen, aber plötzlich war da ein Mann, eine schemenhafte Gestalt mit erhobener Hand. Sie versuchte, das Bild in ihrem Kopf auszulöschen, doch es hatte sich festgesetzt, begleitete sie während der letzten leichten Schritte zum Gipfel.

Sie sassen neben dem Steinmann auf der Spitze des Felsturms, redeten Belangloses, assen Brot und Äpfel aus Andreas Rucksack. Daniel rauchte. Über seinen Unfall schwieg er sich aus, erwähnte nur, dass sie damals weitergeklettert seien, durch eine brüchige Wand zum Gipfel der Plattenburg, des Bergs, der die Sila überragte. Dort hätten sie biwakiert. Der Rest der Geschichte war offenbar ein Tabu. Wie sein Verhältnis zu Stef. Seine Familie. Wie er lebte. Ob er Kinder hatte. Nichts erfuhr sie, und fragen mochte sie nicht. Nicht einmal geküsst hatten sie sich, wie das sonst üblich war, wenn Mann und Frau einen Gipfel erreichten. Doch ihre Rollen waren klar, sie war die Führerin, er der Geführte. Ein Kuss schien nicht angebracht. Sie hatten sich die Hand gedrückt, er hatte gesagt: «Grandios, wie du kletterst. Danke für die Führung.»

Während der Tour hatte sie kaum Schmerzen im Ellbogen verspürt, doch nun nahmen sie zu. Sie rieb sich die schmerzende Stelle.

«Ist was?»

«Kleine Verletzung.»

«Wovon?»

«Angeschlagen.»

Er fragte zum Glück nicht, wie es passiert war, bog ihren Arm sacht nach hinten. «Schmerzt das?»

«Nein.»

Er betastete den blauen Fleck mit Fingern, deren Kuppen vom Klettern rau waren. «Tut das weh?»

«Ein bisschen.» Sie presste die Lippen zusammen.

«Entzündung der Sehnenansätze. Von einer Zerrung, die nicht ausgeheilt ist, wahrscheinlich.»

Sie reichte ihm die Taschenapotheke aus dem Klettersack. Er massierte Salbe auf die schmerzende Stelle, riss eine Verbandpatrone auf, legte ihr einen festen Verband an. «Du solltest dich schonen in nächster Zeit. Und zum Hausarzt.»

«Habe keinen. Ich bin nie krank.»

«Dann such dir einen. Ich würde den Ellbogen röntgen lassen.»

«Kann ich das bei dir? Du bist doch ein guter Arzt, hast du gesagt.»

«Ohne eigene Praxis. Zu mir kommst du nur als Notfall.»

Sie seilten sich ab, sehr schnell, die Abseilpiste war mit dicken Haken, so genannten «Muniringen», ausgerüstet. Es war früher Nachmittag, als sie auf der Alp beim Jeep ankamen. Auf dem Parkplatz stand ein Polizeiauto und daneben Amstads Rover.

Steinschlag

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