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Kurz darauf erhoben sich die beiden Bergführer, entschuldigten sich mit einem Kletterkurs am kommenden Tag. Das Wetter sei gut, man wolle in die Höhe. «Du auch?»

«Nur eine Wanderung.»

«Was man nicht alles macht, um zu überleben in unserem Beruf.» Frick gab ihr die Hand, Gisler nickte ihr zu.

Andrea winkte der Kellnerin, bezahlte mit Amstads Note, fragte nach Zeitungen. Sie steckten in der Rücklehne einer Bank beim Eingang, um Holzklammern gerollt. Andrea zog den Anzeiger aus der Stadt heraus. Dabei bemerkte sie, wie ihr ein Gast, der einsam am Fenster sass, mit dem Blick folgte. Nebst vier Männern, die Karten spielten, war er der Einzige im Lokal. Sie setzte sich wieder an den runden Tisch, bestellte einen Espresso, blätterte durch die Zeitung und fand die Todesanzeige.

«Claudia Baumberger-Lévi, tragisch verunglückt in ihren geliebten Bergen.» Darunter das Gedicht.

KENNST DU DEN BERG UND SEINEN WOLKENSTEG?

DAS MAULTIER SUCHT IM NEBEL SEINEN WEG;

IN HÖHLEN WOHNT DER DRACHEN ALTE BRUT;

ES STÜRZT DER FELS UND ÜBER IHN DIE FLUT!

KENNST DU IHN WOHL?

DAHIN! DAHIN

GEHT UNSER WEG! O VATER, LASS UNS ZIEHN!

JOHANN WOLFGANG GOETHE

Andrea las das Gedicht mehrmals, sah zwischen den Zeilen den Berg, in Wolken und Nebel gehüllt, den Weg über dem Abgrund, den stürzenden Fels und das Wasser des Bachs. Es war das Bild der Runse, wo sie Claudia Baumberger gefunden hatten. Das trotzige Kind, das gegen den Willen seines Vaters dort hinauf gestiegen war, wo ein Drache lauerte. Die Lévis seien eine der reichsten Familien der Gegend, hatte Robert gesagt. Doch die Todesanzeige war nur vom Ehemann der Toten unterzeichnet und von einer Jeanette Baumberger, vielleicht einer Tochter.

«Entschuldigen Sie … darf ich mich zu Ihnen setzen?» Der Einsame stand an ihrem Tisch, sah sie mit verlegenem Lächeln an. Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch, eine flüchtige Bekanntschaft. Doch seine verträumten Augen, der blonde Dreitagebart, die hohe Stirn mit Ansatz zur Glatze erinnerten sie an Joe Cocker auf dem Umschlag einer CD.

«Darf ich?», fragte der Doppelgänger des Machos aus Sheffield, setzte sich ihr gegenüber. «Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen?»

«Danke, ich wollte gleich gehen.»

«Schade. Was lesen Sie da?» Er griff nach der Zeitung. «Todesanzeigen?»

«Geht Sie nichts an.» Andrea riss die Seite mit der Todesanzeige heraus, faltete sie, stand auf.

«Sie sind hart», sagte er.

Der Hieb sass. Bin ich hart? Versteinert wie die Sila? Die Burgfrau, die alle Freier in den Abgrund gestossen hatte, wie die Sage erzählte, und dafür büssen musste?

«Hart oder sehr traurig», hörte sie den Mann sagen, dessen Stimme so rau und sanft klang wie jene des Sängers.

Er sei geschäftlich in der Gegend, Ingenieur, sagte er.

Sie fragte nicht. Wollte nicht wissen, wer er war, woher er kam, wohin er ging. Sie erzählte von Bergen und Wüsten, von Kalifornien, wo er sich auskannte. Sequoia Park, Death Valley, Yosemite, Tuolumne Meadows.

Er hörte ihr zu, bis die Kellnerin begann, Stühle auf die Tische zu stellen. Er begleitete sie durch die leeren Strassen bis zu ihrem Block.

Nachts träumte sie von einem Felsturm, der wie eine Flamme im Abendlicht loderte. «The Morning Glory Spire» in der City of Rocks in Idaho. Sie wollte den himmelhohen Turm aus rötlichem Granit erklettern. Band sich ans Seil, reichte ihrem Gast das andere Ende.

«Du bist hart», flüsterte er. Sie kletterte, wollte ihm rufen, ihr zu folgen, doch erinnerte sie sich nicht mehr an seinen Namen.

Als sie erwachte, schien die Sonne auf den Balkon. Die Storen waren heruntergedreht, sodass das Licht nur gedämpft ins Zimmer fiel. Das Telefon klingelte.

Steinschlag

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