Читать книгу Die Eroberung von Plassans - Эмиль Золя, Emile Zola, Еміль Золя - Страница 4

KAPITEL I

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Désirée klatschte in die Hände. Sie war ein Kind von vierzehn Jahren, kräftig für ihr Alter und hatte das Lachen eines fünfjährigen Mädchens.

„Mama, Mama!“ rief sie. „Sieh mal, meine Puppe!“

Sie hatte ihrer Mutter ein Stückchen Stoff weggenommen, an dem sie seit einer Viertelstunde herumarbeitete, um eine Puppe daraus zu machen, indem sie es zusammenrollte und an einem Ende mit Hilfe eines Fädchens abschnürte.

Marthe blickte von dem Strumpf auf, den sie mit einer Sorgfalt stopfte, die man bei einer Stickerei aufwendet. Sie lächelte Désirée zu.

„Das ist ja ein Wickelkind“, sagte sie. „Da nimm, mach eine Puppe. Du weißt, sie muß einen Rock haben wie eine Dame.“ Sie gab ihr einen Flicken Indienne, den sie auf ihrem Arbeitstisch fand; dann machte sie sich wieder sorgsam über ihren Strumpf her.

Sie saßen beide an einem Ende der schmalen Terrasse, das Mädchen auf einer Fußbank zu Füßen der Mutter. Die untergehende Sonne, eine noch warme Septembersonne, badete sie in ruhigem Licht, während der Garten vor ihnen schon in grauem Schatten einschlief. Kein Geräusch stieg draußen von diesem verlassenen Winkel der Stadt auf. Unterdessen arbeiteten sie schweigend reichlich zehn Minuten. Désirée gab sich unendliche Mühe, ihrer Puppe einen Rock zu machen.

Hin und wieder hob Marthe den Kopf und betrachtete das Kind mit etwas trauriger Zärtlichkeit. Als sie sah, daß es Désirée sehr schwerfiel, fing sie wieder an:

„Warte, ich werde ihr die Arme ansetzen.“

Sie nahm die Puppe, als zwei große Burschen von siebzehn und achtzehn Jahren die Freitreppe herabkamen. Sie küßten Marthe.

„Schimpf nicht mit uns, Mama“, sagte Octave heiter. „Ich habe Serge zur Musik mitgenommen . . . Es waren viele Leute auf dem Cours Sauvaire!“

„Ich habe geglaubt, ihr wäret im Gymnasium aufgehalten worden“, murmelte die Mutter, „sonst wäre ich recht unruhig gewesen.“

Aber Désirée hatte sich, ohne weiter an die Puppe zu denken, Serge an den Hals geworfen und klagte ihm laut:

„Mir ist ein Vogel weggeflogen, der blaue, den du mir geschenkt hast.“ Sie hätte am liebsten geweint. Ihre Mutter, die diesen Kummer vergessen glaubte, zeigte ihr vergeblich die Puppe. Sie hielt ihren Bruder am Arm, und während sie ihn zum Garten hinzog, wiederholte sie mehrmals: „Komm sehen!“ Serge folgte ihr in seiner bereitwilligen Sanftheit und suchte sie zu trösten. Sie führte ihn zu einem kleinen Gewächshaus, vor dem ein Käfig auf einen Sockel gestellt war. Dort erklärte sie ihm, daß der Vogel in dem Augenblick entflohen sei, als sie die Tür geöffnet habe, um ihn daran zu hindern, sich mit einem anderen zu balgen.

„Bei Gott! Das ist nicht verwunderlich“, rief Octave, der sich auf das Terrassengeländer gesetzt hatte, „sie ist immerzu dabei, sie anzufassen, sie sieht nach, wie sie beschaffen sind und was sie in der Kehle haben zum Singen. Neulich hat sie sie einen ganzen Nachmittag lang in ihren Taschen spazierengetragen, damit sie es schön warm hatten.“

„Octave!“ sagte Marthe in vorwurfsvollem Ton. „Quäle das arme Kind doch nicht.“

Désirée hatte nichts gehört. Sie erzählte Serge in allen Einzelheiten, auf welche Weise der Vogel weggeflogen war.

„Siehst du, so ist er entwischt, er hat sich nebenan auf Herrn Rastoils großen Birnbaum gesetzt. Von da ist er hinten auf den Pflaumenbaum gehüpft. Dann ist er über meinen Kopf wieder zurückgekommen und ist in die hohen Bäume der Unterpräfektur 1 geflogen, wo ich ihn nicht mehr gesehen habe, nein, überhaupt nicht mehr.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Vielleicht kommt er wieder“, wagte Serge einzuwerfen.

„Meinst du? — Ich möchte die anderen am liebsten in eine Schachtel sperren und den Käfig die ganze Nacht über offenlassen.“

Octave konnte nicht umhin zu lachen; aber Marthe rief Désirée zurück.

„Komm doch mal sehen, komm doch mal sehen!“

Und sie hielt ihr die Puppe hin. Die Puppe war prächtig, sie hatte einen steifen Rock, einen aus einem Stoffbausch geformten Kopf, und ihre Arme waren aus einem Band gemacht und an den Schultern festgenäht. Eine plötzliche Freude erhellte Désirées Gesicht. Sie setzte sich wieder auf die Fußbank, dachte nicht mehr an den Vogel, küßte die Puppe, wiegte sie mit kleinmädchenhafter Kindlichkeit in der Hand.

Serge war neben seinen Bruder getreten und stützte sich mit den Ellenbogen auf das Terrassengeländer. Marthe hatte ihren Strumpf wieder zur Hand genommen.

„Nun“, fragte sie, „hat die Musik gespielt?“

„Sie spielt jeden Donnerstag“, antwortete Octave. „Es ist nicht recht von dir, Mama, nicht hinzukommen. Die ganze Stadt ist da, die Fräulein Rastoil, Madame de Condamin, Herr Paloque, die Frau und die Tochter des Bürgermeisters . . . Warum kommst du nicht?“

Marthe blickte nicht auf; sie murmelte, während sie ein Loch fertigstopfte:

„Ihr wißt doch, Kinder, daß ich nicht gerne fortgehe. Ich bin hier so ungestört. Außerdem muß jemand bei Désirée bleiben.“

Octave öffnete die Lippen, aber er sah seine Schwester an und schwieg. Er blieb da, pfiff leise vor sich hin, schaute zu den Bäumen der Unterpräfektur hoch, die vom Spektakel schlafen gehender Spatzen erfüllt waren, und musterte Herrn Rastoils Birnbäume, hinter denen die Sonne unterging. Serge hatte ein Buch aus seiner Tasche hervorgeholt, das er aufmerksam las. Es herrschte eine andächtige, von stummer Zärtlichkeit warme Stille bei dem angenehmen gelben Licht, das nach und nach auf der Terrasse verblich. Marthe, die inmitten dieses Abendfriedens keinen Blick von ihren drei Kindern ließ, machte lange, regelmäßige Stiche.

„Kommt denn heute alles zu spät?“ fing sie nach einer Weile wieder an. „Es ist gleich sechs Uhr, und euer Vater kommt nicht nach Hause . . . Ich glaube, er ist nach Les Tulettes hinübergegangen.“

„Ach ja!“ sagte Octave. „Dann ist das nicht verwunderlich . . . Die Bauern von Les Tulettes lassen ihn nicht mehr los, wenn sie ihn haben . . . Handelt es sich um einen Weinkauf?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Marthe, „ihr wißt ja, daß er nicht gern von seinen Geschäften spricht.“

Von neuem trat Schweigen ein. Im Wohnzimmer, dessen Fenster zur Terrasse hin weit offenstand, deckte die alte Rose seit einer Weile den Tisch und klapperte mit dem Geschirr und dem Tafelsilber. Sie schien sehr schlechter Stimmung zu sein, stieß die Möbel hin und her und brummelte abgehackte Worte. Dann pflanzte sie sich an der Tür zur Straße auf, reckte den Hals und schaute in die Ferne zum Place de la Sous-Préfecture. Nach einigen Minuten Wartens kam sie auf die Freitreppe und rief:

„Na, kommt Herr Mouret nicht zum Abendessen nach Hause?“ „Doch, Rose, warten Sie“, antwortete Marthe friedfertig.

„Es brennt nämlich alles an. Da ist kein Sinn und Verstand bei. Wenn der Herr solche Ausflüge unternimmt, sollte er doch vorher Bescheid sagen . . . Mir ist es ja schließlich gleichgültig. Das Abendessen wird nicht zu genießen sein.“

„Glaubst du, Rose?“ sagte hinter ihr eine ruhige Stimme. „Wir werden es trotzdem verspeisen, dein Abendessen.“ Das war Mouret, der nach Hause kam.

Rose wandte sich um, sah ihrem Herrn ins Gesicht, war gleichsam drauf und dran loszuplatzen; aber angesichts der absoluten Ruhe dieses Antlitzes, in dem ein Schimmer bürgerlicher Spottlust hervorbrach, fiel ihr nicht ein Wort ein, und sie machte sich davon.

Mouret ging auf die Terrasse hinunter, wo er, ohne sich hinzusetzen, umherstapfte. Er begnügte sich damit, Désirée, die ihm zulächelte, mit den Fingerspitzen einen leichten Klaps auf die Wange zu geben. Marthe hatte aufgeblickt; nachdem sie ihren Gatten angesehen hatte, schickte sie sich an, ihr Nähzeug in ihren Tisch zu räumen.

„Sind Sie nicht müde?“ fragte Octave, der auf die weißbestaubten Schuhe seines Vaters sah.

„Doch, ein bißchen“, antwortete Mouret, ohne weiter von dem langen Weg zu sprechen, den er eben zu Fuß zurückgelegt hatte. Aber er erblickte mitten im Garten einen Spaten und eine Harke, die die Kinder wohl dort vergessen hatten. „Warum werden die Geräte nicht wieder reingebracht?“ schrie er. „Ich habe es hundertmal gesagt. Wenn es geregnet hätte, wären sie verrostet.“ Er ärgerte sich nicht weiter. Er ging in den Garten hinunter, holte selber den Spaten und die Harke, die er hinten in dem kleinen Gewächshaus sorgsam aufhängte. Während er wieder zur Terrasse hinaufstieg, durchstöberte er mit den Augen alle Winkel der baumbestandenen Gartenwege, um zu sehen, ob alles schön aufgeräumt war.

„Lernst du deine Schulaufgaben?“ fragte er, als er an Serge vorbeikam, der nicht von seinem Buch abgelassen hatte.

„Nein, Vater“, antwortete der Junge. „Das ist ein Buch, das mir Abbé Bourrette geliehen hat, der Bericht über die ,Missionen in China‘.“

Mouret blieb plötzlich vor seiner Frau stehen.

„Was ich fragen wollte“, begann er, „ist niemand gekommen?“ „Nein, niemand, mein Freund“, sagte Marthe mit überraschter Miene.

Er wollte weitersprechen, schien sich aber anders zu besinnen. Er stapfte noch eine Weile umher, ohne irgend etwas zu sagen, ging dann zur Freitreppe vor und rief:

„Na, Rose! Und das Abendessen, das anbrennt?“

„Wahrhaftig!“ schrie hinten aus dem Hausflur die wütende Stimme der Köchin. „Jetzt ist nichts mehr fertig, alles ist kalt. Sie müssen warten, Herr Mouret!“

Mouret lachte still vor sich hin; er blinzelte mit dem linken Auge und schaute dabei seine Frau und seine Kinder an. Roses Zorn schien ihn sehr zu ergötzen. Dann vertiefte er sich in den Anblick der Obstbäume seines Nachbars.

„Es ist verblüffend“, murmelte er, „Herr Rastoil hat dieses Jahr prächtige Birnen.“

Marthe, die seit einer Weile unruhig war, schien eine Frage auf den Lippen zu liegen. Sie entschloß sich und sagte schüchtern:

„Hast du heute jemanden erwartet, mein Freund?“

„Ja und nein“, antwortete er und fing an, auf und ab zu wandern.

„Hast du etwa das zweite Stockwerk vermietet?“

„Ja, in der Tat, ich habe es vermietet.“ Und da ein verlegenes Schweigen entstand, fuhr er mit friedfertiger Stimme fort: „Heute früh, ehe ich nach Les Tulettes aufbrach, bin ich zu Abbé Bourrette hinaufgegangen. Er hat mir sehr zugesetzt, und, meiner Treu, da habe ich zugesagt . . . Ich weiß wohl, daß es dich verdrießt. Denk bloß mal ein bißchen nach, du bist unvernünftig, meine Gute. Wir brauchen diesen zweiten Stock überhaupt nicht; er verfällt. Das Obst, das wir in den Zimmern aufbewahrten, hat dort eine Feuchtigkeit aufkommen lassen, die die Tapeten ablöste . . .Weil ich gerade daran denke, vergiß nicht, das Obst gleich morgen wegschaffen zu lassen: unser Mieter kann jeden Augenblick eintreffen.“

„Wir fühlten uns doch so wohl, allein in unserem Haus“, ließ sich Marthe mit halblauter Stimme entschlüpfen.

„Ach was!“ entgegnete Mouret. „Ein Priester, der stört nicht sehr. Er lebt für sich und wir für uns. Diese Schwarzröcke, die verstecken sich, um ein Glas Wasser hinunterzugießen . . . Du weißt, wie gerne ich sie habe. Faulenzer größtenteils . . . Na ja! Das hat mich ja gerade zum Vermieten bewogen, daß ich einen Priester gefunden habe. Bei denen ist nichts wegen des Geldes zu befürchten, man hört sie nicht einmal den Schlüssel ins Schloß stecken.“

Marthe blieb untröstlich. Sie betrachtete um sich her das glückliche, in der scheidenden Sonne badende Haus, den Garten, in dem der Schatten grauer wurde; sie betrachtete ihre Kinder, ihr eingeschlafenes Glück, das dort in diesem engen Winkel lag. „Und weißt du, wer dieser Priester ist?“ begann sie wieder. „Nein, aber Abbé Bourrette hat in seinem Namen gemietet, das genügt. Abbé Bourrette ist ein biederer Mann . . . Ich weiß, daß unser Mieter Faujas heißt, Abbé Faujas, und daß er aus der Diözese Besançon kommt. Er wird sich mit seinem Pfarrer nicht haben verstehen können; man wird ihn hier an der Kirche Saint-Saturnin zum Vikar ernannt haben. Vielleicht kennt er unseren Bischof, Monsignore Rousselot. Schließlich sind das nicht unsere Angelegenheiten, verstehst du . . . Ich, ich verlasse mich in alldem auf Abbé Bourrette.“

Marthe beruhigte sich allerdings nicht. Sie bot ihrem Gatten Widerpart, was bei ihr selten vorkam.

„Du hast recht“, sagte sie nach kurzem Schweigen, „der Abbé ist ein ehrenwerter Mann. Nur erinnere ich mich, daß er mir, als er gekommen ist, um die Wohnung zu besichtigen, gesagt hat, er kenne denjenigen nicht, in dessen Namen zu mieten er beauftragt sei. Das ist einer von diesen Aufträgen, wie man sie sich unter Priestern von einer Stadt zur anderen erteilt . . . Es scheint mir, du hättest nach Besançon schreiben, dich erkundigen können, um schließlich zu wissen, wen du bei dir aufnimmst.“ Mouret wollte sich nicht aufregen; er lachte selbstgefällig.

„Es ist nicht der Teufel, vielleicht . . . Du zitterst ja am ganzen Körper. Ich wußte nicht, daß du so abergläubisch bist. Du glaubst doch wenigstens nicht, daß die Priester Unglück bringen, wie man sagt. Sie bringen auch kein Glück, das stimmt. Sie sind wie andere Menschen . . . Na schön! Wenn dieser Abbé da ist, wirst du sehen, ob mir eine Soutane Angst einjagt!“

„Nein, ich bin nicht abergläubisch, das weißt du“, murmelte Marthe. „Ich bin irgendwie sehr betrübt, das ist alles.“ Er pflanzte sich vor ihr auf, er unterbrach sie mit einer barschen Handbewegung.

„Das genügt, nicht wahr?“ sagte er. „Ich habe vermietet, sprechen wir nicht mehr davon.“ Und im spöttischen Ton eines Bürgers, der ein gutes Geschäft abgeschlossen zu haben glaubt, fügte er hinzu: „Klipp und klar ist jedenfalls eines, ich habe für hundertfünfzig Francs vermietet. Das sind hundertfünfzig Francs mehr, die jedes Jahr ins Haus kommen.“

Marthe hatte den Kopf gesenkt, erhob nur noch durch ein unbestimmtes Wiegen der Hände Einspruch, wobei sie sacht die Augen schloß, wie um die Tränen, von denen ihre Lider ganz geschwollen waren, nicht herabrinnen zu lassen. Sie warf einen verstohlenen Blick auf ihre Kinder, die während der Auseinandersetzung, die sie eben mit ihrem Vater hatte, nicht zugehört zu haben schienen, weil sie zweifellos an solche Auftritte gewöhnt waren, in denen sich Mourets spottsüchtige Laune gefiel.

„Wenn Sie nun essen wollen, können Sie kommen“, sagte Rose mit ihrer mürrischen Stimme und trat dabei auf die Freitreppe vor.

„Recht so. Zum Essen, Kinder!“ rief Mouret fröhlich und schien nicht die geringste schlechte Stimmung zu behalten.

Die Familie erhob sich. Da brach in Désirée, die in ihrer armen Einfalt ernst geblieben war, der Schmerz gleichsam wieder auf, als sie jedermann sich bewegen sah. Sie warf sich ihrem Vater an den Hals und stammelte:

„Papa, mir ist ein Vogel weggeflogen.“

„Ein Vogel, mein Liebling? Wir werden ihn wieder einfangen.“ Und er liebkoste sie, er gab sich sehr schmeichlerisch. Aber auch er mußte hingehen und sich den Käfig ansehen.

Als er das Kind zurückbrachte, befanden sich Marthe und ihre beiden Söhne bereits im Wohnzimmer. Die untergehende Sonne, die durch das Fenster schien, machte die Porzellanteller, die Becher der Kinder, das weiße Tischtuch ganz heiter. Das Zimmer war lau, andächtig, mit dem grünen Hintergrund des Gartens.

Als Marthe, durch diesen Frieden beruhigt, lächelnd den Deckel der Suppenschüssel abnahm, entstand ein Geräusch im Hausflur. Rose eilte verstört herbei und stammelte:

„Der Herr Abbé Faujas ist da.“

Die Eroberung von Plassans

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