Читать книгу Die Eroberung von Plassans - Эмиль Золя, Emile Zola, Еміль Золя - Страница 8

KAPITEL V

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Am folgenden Tag kam die alte Frau Rougon, Marthes Mutter, die Mourets besuchen. Das war dort ein ganz großes Ereignis, denn es bestand eine kleine Mißhelligkeit zwischen dem Schwiegersohn und den Eltern seiner Frau, vor allem seit der Wahl des Marquis de Lagrifoul, den jene beschuldigten, durch Mourets Einfluß auf dem Lande zum Erfolg gekommen zu sein. Marthe ging allein zu ihren Eltern. Ihre Mutter, „dieser Schwarzkopf Félicité“, wie man sie nannte, war mit ihren sechsundsechzig Jahren noch von jungmädchenhafter Magerkeit und Lebhaftigkeit. Sie trug stets mit Rüschen überladene Seidenkleider und hatte Gelb und Kastanienbraun besonders gern.

Als sie sich an jenem Tag einstellte, waren nur Marthe und Mouret im Wohnzimmer.

„Sieh mal an!“ sagte Mouret sehr überrascht. „Da ist deine Mutter . . . Was will sie denn bei uns? Es ist noch keinen Monat her, daß sie hier war . . . Da steckt doch sicher wieder irgendwas dahinter.“

Die Rougons, deren Kommis er vor seiner Heirat gewesen war, als ihr enger Laden im alten Stadtviertel nach Bankrott roch, waren Gegenstand seines ewigen Mißtrauens. Sie vergalten es ihm übrigens mit einem starken und tiefen Groll, verabscheuten in ihm vor allem den Kaufmann, der rasch gute Geschäfte gemacht hatte.

Wenn ihr Schwiegersohn sagte: „Ich verdanke mein Vermögen nur meiner Arbeit“, kniffen sie die Lippen zusammen; sie begriffen vollkommen, daß er sie beschuldigte, ihr Vermögen durch dunkle Machenschaften erworben zu haben. Trotz ihres schönen Hauses am Place de la Sous-Préfecture war Félicité mit der wilden Eifersucht einer alten Händlerin, die ihre Wohlhabenheit nicht dem verdankt, was sie am Ladentisch erspart hat, insgeheim neidisch auf die kleine ruhige Wohnung der Mourets.

Félicité küßte Marthe auf die Stirn, als sei ihre Tochter noch immer sechzehn Jahre alt. Dann reichte sie Mouret die Hand. Beide unterhielten sich für gewöhnlich in einem süßsauren, spöttischen Ton.

„Nun!“ fragte sie lächelnd. „Sind die Gendarmen also noch nicht gekommen, um Sie abzuholen, Sie Aufrührer?“

„Aber nein, noch nicht“, antwortete er ebenfalls lachend. „Sie warten darauf, daß Ihr Gatte ihnen Befehle erteilt.“

„Oh! Das ist sehr hübsch, was Sie da sagen“, entgegnete Félicité, deren Augen flammten.

Marthe richtete einen flehenden Blick auf Mouret; er war soeben wirklich zu weit gegangen. Aber er war in Schwung gebracht, er fuhr fort:

„Wir sind wirklich unaufmerksam; wir empfangen Sie hier im Wohnzimmer. Ich bitte Sie, gehen wir in den Salon hinüber:“ Das war einer seiner üblichen Scherze. Er ahmte Félicités großartiges Gehabe nach, wenn er sie bei sich empfing. Marthe mochte ruhig sagen, daß man sich hier wohl fühle, sie und ihre Mutter mußten ihm in den Salon folgen. Und dort gab er sich viel Mühe, öffnete die Fensterläden, schob die Sessel zurecht. Der Salon, den man nie betrat und dessen Fenster meistens geschlossen blieben, war ein großes verlassenes Zimmer, in dem Möbel mit weißen, von der Feuchtigkeit des Gartens angegilbten Überzügen herumstanden.

„Es ist unerträglich“, murmelte Mouret und wischte den Staub von einer kleinen Konsole, „Rose vernachlässigt alles.“ Und sich zu seiner Schwiegermutter umwendend, fügte er mit einer Stimme, in der die Ironie durchbrach, hinzu: „Entschuldigen Sie, daß wir Sie so in unserer armseligen Bleibe empfangen . . . Es kann nicht jedermann reich sein.“

Félicité blieb die Luft weg. Sie starrte Mouret einen Augenblick an, war drauf und dran loszuplatzen. Sich dann einen Ruck gebend, senkte sie die Lider; als sie sie wieder aufschlug, sagte sie mit liebenswürdiger Stimme:

„Ich habe eben Madame de Condamin guten Tag gewünscht und bin hereingekommen, um zu hören, wie es der kleinen Familie geht . . . Die Kinder befinden sich wohlauf, nicht wahr? Und Sie auch, mein lieber Mouret?“

„Ja, alle befinden sich vortrefflich“, antwortete er, verwundert über diese große Liebenswürdigkeit.

Aber die alte Dame ließ ihm keine Zeit, in die Unterhaltung wieder einen feindseligen Ton zu bringen. Sie fragte Marthe zärtlich nach einer Menge Nichtigkeiten, gab sich als gute Großmama und schalt ihren Schwiegersohn, daß er „die Kleinen und die Kleine“ nicht öfter zu ihr schicke. Sie sei so glücklich, sie zu sehen!

„Ach! Wißt ihr“, sagte sie schließlich nachlässig, „jetzt haben wir Oktober; ich werde meine Empfangstage wiederaufnehmen, donnerstags wie in den anderen Jahren . . . Ich rechne auf dich, nicht wahr, meine liebe Marthe? — Und Sie, Mouret, wird man Sie nicht manchmal sehen, schmollen Sie uns noch immer?“ Mouret, den das rührselige Geschwätz seiner Schwiegermutter schließlich verwirrte, wußte für einen Augenblick keine schlagfertige Antwort. Auf diesen Hieb war er nicht gefaßt, ihm fiel nichts Boshaftes ein, und er begnügte sich zu antworten:

„Sie wissen sehr wohl, daß ich nicht zu Ihnen kommen kann . . . Sie empfangen eine Menge Leute, die entzückt wären, mir unangenehm zu werden. Außerdem möchte ich mich nicht auf Politik einlassen.“

„Aber Sie irren sich“, entgegnete Félicité, „Sie irren sich, hören Sie, Mouret! Würde man nicht sagen, mein Salon sei ein Klub? Das habe ich nicht gewollt. Die ganze Stadt weiß, daß ich mich bemühe, mein Haus liebenswürdig zu machen. Wenn man bei mir über Politik spricht, so geschieht das heimlich in den Ecken, versichere ich Ihnen. Ach ja, die Politik, sie hat mir früher genug Verdruß bereitet . . . Warum sagen Sie das?“

„Sie empfangen die ganze Bande von der Unterpräfektur“, murmelte Mouret mit mürrischer Miene.

„Die Bande von der Unterpräfektur?“ wiederholte sie. „Die Bande von der Unterpräfektur? — Ohne Zweifel, ich empfange diese Herren. Ich glaube dennoch nicht, daß man Herrn Péqueur des Saulaies in diesem Winter oft bei mir trifft; mein Mann hat ihm die Wahrheit über die letzten Wahlen gesagt. Er hat sich hinters Licht führen lassen wie ein Tropf . . . Was seine Freunde anbelangt, so sind sie Menschen aus guter Gesellschaft. Herr Delangre, Herr de Condamin sind sehr liebenswürdig, der biedere Paloque ist die Güte selbst, und gegen Doktor Porquier haben Sie, glaube ich, nichts einzuwenden.“

Mouret zuckte die Achseln.

„Übrigens“, fuhr sie fort und legte ironisch Nachdruck auf ihre Worte, „empfange ich auch Herrn Rastoils Bande, den ehrenwerten Herrn Maffre und unseren gelehrten Freund Herrn de Bourdeu, den früheren Präfekten . . . Sie sehen also, wir schließen uns gegen niemand ab, bei uns sind alle Meinungen willkommen. Aber begreifen Sie doch, daß kein Schwanz zu mir kommen würde, wenn ich meine Gäste nur aus einer Partei aussuchte! Außerdem lieben wir den Geist überall, wo er sich findet; wir erheben den Anspruch, daß zu unseren Abendgesellschaften alles kommt, was Plassans an vornehmen Persönlichkeiten aufzuweisen hat . . . Mein Salon ist neutrales Gebiet, merken Sie sich das gut, Mouret; ja, neutrales Gebiet, das ist das richtige Wort.“ Sie hatte sich beim Sprechen ereifert. Jedesmal wenn man sie auf dieses Thema brachte, wurde sie zum Schluß böse. Ihr Salon war ihr großer Ruhm; wie sie sagte, wollte sie dort thronen, nicht als Parteichef, sondern als Frau von Welt. Es stimmt, daß die vertrauten Freunde behaupteten, sie bediene sich einer Versöhnungstaktik, die ihr Sohn Eugène, der Minister, ihr angeraten habe, der ihr auftrug, in Plassans die Annehmlichkeiten und die Liebenswürdigkeiten des Kaiserreiches zu verkörpern.

„Sie können sagen, was Sie wollen“, brummelte Mouret dumpf, „Ihr Maffre ist ein Pfaffe, Ihr Bourdeu ein Einfaltspinsel, und die anderen sind größtenteils Lumpen. Das ist’s, was ich denke . . . Ich danke Ihnen für Ihre Einladung, aber das würde mich zu sehr in meinem Tagesablauf stören. Ich habe die Angewohnheit, zeitig schlafen zu gehen. Ich bleibe zu Hause.“

Félicité erhob sich, wandte Mouret den Rücken zu und sagte zu ihrer Tochter:

„Ich rechne immerhin auf dich, nicht wahr, meine Liebe?“ „Gewiß“, antwortete Marthe, die die grobe Weigerung ihres Mannes mildern wollte.

Die alte Dame schickte sich an zu gehen, da schien sie sich eines Besseren zu besinnen. Sie bat, Désirée, die sie im Garten erblickt hatte, einen Kuß geben zu dürfen. Sie wollte nicht einmal, daß man das Kind rief; sie stieg auf die Terrasse hinunter, die von einem am Morgen niedergegangenen leichten Regen noch ganz naß war. Dort floß sie über vor Liebkosungen für ihre Enkelin, die ein bißchen scheu vor ihr stehenblieb; als sie dann wie zufällig den Kopf hob und die Vorhänge im zweiten Stock sah, rief sie aus:

„Nanu! Ihr habt vermietet? — Ach ja! Ich entsinne mich, an einen Priester, glaube ich. Ich habe davon gehört . . . Was für ein Mensch ist dieser Priester?“

Mouret sah sie fest an. Ihm kam gleichsam ein rascher Argwohn; er dachte, daß sie einzig wegen Abbé Faujas gekommen war.

„Auf Ehre“, sagte er, ohne sie aus den Augen zu lassen, „ich weiß darüber nichts . . . Aber vielleicht können Sie mir Auskunft geben?“

„Ich?“ rief sie mit großartig gespielter Überraschung. „Nun! Ich habe ihn nie gesehen . . . Warten Sie, ich weiß, daß er Vikar an der Kirche Saint-Saturnin ist; Pater Bourrette hat mir das gesagt. Und hören Sie, das bringt mich auf den Gedanken, daß ich ihn zu meinen Donnerstagen einladen sollte. Zu meinen Gästen gehören bereits der Direktor des Priesterseminars und Monsignores Sekretär.“ Dann wandte sie sich an Marthe: „Weißt du, wenn du deinen Mieter siehst, solltest du dahingehend bei ihm vorfühlen, daß du mir sagen kannst, ob ihm eine Einladung angenehm wäre.“

„Wir sehen ihn fast nicht“, beeilte sich Mouret zu antworten. „Er kommt und geht, ohne den Mund aufzumachen . . . Außerdem geht mich das nichts an.“ Und er musterte sie weiter mit argwöhnischer Miene. Sicherlich wußte sie viel mehr über Abbé Faujas, als sie erzählen wollte. Im übrigen zuckte sie mit keiner Wimper unter dem aufmerksam musternden Blick ihres Schwiegersohnes.

„Das ist mir schließlich gleichgültig“, fuhr sie mit vollendeter Ungezwungenheit fort. „Wenn er ein anständiger Mensch ist, werde ich immer eine Art und Weise finden, ihn einzuladen . . . Auf Wiedersehen, meine Kinder.“

Sie ging die Freitreppe wieder hoch, als sich auf der Schwelle zum Hausflur ein großer alter Mann zeigte. Er trug einen Überzieher und Hosen aus sehr sauberem blauem Tuch und hatte eine Pelzmütze mit über die Augen hängender Krempe auf. In der Hand hielt er eine Peitsche.

„Ah, Onkel Macquart!“ rief Mouret und warf einen neugierigen Blick auf seine Schwiegermutter.

Félicité hatte eine sehr unwillige Handbewegung gemacht. Macquart, ein unehelicher Bruder Rougons, war dank dessen Hilfe nach Frankreich zurückgekehrt, nachdem er sich in der Erhebung der Landgemeinden von 1851 unmöglich gemacht hatte. Seit seiner Rückkehr aus Piemont führte er das Leben eines fetten Bürgers mit gutem Auskommen. Er hatte sich — man wußte nicht, mit was für Geld — im Dorf Les Tulettes, drei Meilen von Plassans entfernt, ein Häuschen gekauft. Nach und nach hatte er sich herausgemacht und sich schließlich sogar ein Wägelchen und ein Pferd zugelegt, so daß man ihn nur noch auf den Landstraßen traf, wie er Pfeife rauchend die Sonne trank, grinste und dabei aussah wie ein solide gewordener alter Seebär. Die Feinde der Rougons sagten ganz leise, daß die Brüder irgendeinen schlechten Streich zusammen begangen hätten und daß Pierre Rougon Antoine Macquart aushalte.

„Guten Tag, Onkel“, wiederholte Mouret mit betonter Freundlichkeit. „Sie kommen also, uns einen kleinen Besuch abzustatten?“

„Aber ja“, antwortete Macquart in gutmütigem Ton. „Du weißt, jedesmal wenn ich durch Plassans komme . . . Ach, du meine Güte, Fèlicité! Wenn ich darauf gefaßt gewesen wäre, Sie hier zu finden! Ich war gekommen, um Rougon zu besuchen, ich hatte ihm etwas zu sagen . . .“

„Er war zu Hause, nicht wahr?“ unterbrach sie ihn mit ruheloser Lebhaftigkeit. „Es ist gut, es ist gut, Macquart.“

„Ja, er war zu Hause“, fuhr der Onkel seelenruhig fort, „ich habe ihn gesehen, und wir haben geplaudert. Er ist ein guter Kerl, der Rougon.“ Er lachte leicht auf. Und während Félicité vor Angst von einem Fuß auf den anderen trat, redete er weiter mit seiner schleppenden Stimme, die so seltsam gebrochen klang, daß er sich stets über die Welt lustig zu machen schien: „Mouret, mein Junge, ich habe dir zwei Kaninchen mitgebracht; sie sind da in einem Korb. Ich habe sie Rose gegeben . . . Für Rougon hatte ich auch zwei; Sie werden sie zu Hause finden, Félicité, und können mir Bescheid geben. Ah, wie fett die Strolche sind! Ich habe sie für euch gemästet . . . Was wollt ihr, Kinder? Mir macht es Freude, was zu verschenken.“

Félicité war ganz blaß und preßte die Lippen zusammen, während Mouret sie weiter mit heimlichem Lachen ansah. Sie hätte sich gerne zurückgezogen; aber sie fürchtete die Redereien, wenn sie Macquart allein zurückließ.

„Danke, Onkel“, sagte Mouret. „Letztes Mal waren Ihre Pflaumen sehr gut . . . Sie trinken doch einen Schluck?“

„Na, das kann ich nicht abschlagen.“

Und als Rose ihm ein Glas Wein gebracht hatte, setzte er sich seelenruhig auf das Terrassengeländer. Bedächtig trank er aus dem Glas, schnalzte mit der Zunge und hielt den Wein dabei gegen das Licht.

„Der kommt aus der Ecke von Saint-Eutrope, dieser Wein da“, murmelte er. „Mich täuscht man nicht. Ich kenne die Gegend wie meine Rocktasche.“ Er schüttelte den Kopf und grinste.

Da fragte ihn Mouret unvermittelt mit einem eigentümlichen Unterton in der Stimme:

„Und wie geht es in Les Tulettes?“

Macquart blickte hoch, sah alle an; nachdem er ein letztes Mal mit der Zunge geschnalzt und das Glas neben sich auf den Stein gestellt hatte, antwortete er lässig:

„Ganz gut . . . Ich habe vorgestern Nachricht von ihr bekommen. Es geht ihr immer gleich.“

Félicité hatte den Kopf abgewandt. Schweigen trat ein. Mouret hatte eben den Finger auf eine der offenen Wunden der Familie gelegt, als er auf die Mutter Rougons und Macquarts anspielte, die seit mehreren Jahren als Irre in der Anstalt von Les Tulettes eingesperrt war. Macquarts kleines Anwesen lag daneben, und es schien, als habe Rougon den drolligen Alten dort postiert, damit er auf die Ahne aufpasse.

„Es wird spät“, sagte Macquart schließlich und stand auf, „ich muß vor Einbruch der Nacht zurück sein . . . Sag mal, Mouret, mein Junge, ich rechne an einem der nächsten Tage auf dich. Du hattest mir doch versprochen zu kommen.“

„Ich komme, Onkel, ich komme.“

„Darum geht es nicht, ich will, daß alle kommen, verstehst du! Alle . . . Ich langweile mich dort, so ganz allein. Ich werde für euch kochen.“ Und sich zu Félicité umwendend, fügte er hinzu: „Sagen Sie Rougon, daß ich auch auf ihn und auf Sie rechne. Daß die alte Mutter dort nebenan ist, soll Sie nicht hindern zu kommen; da würde es ja überhaupt keine Möglichkeit mehr geben, sich zu zerstreuen . . . Ich sage Ihnen, daß es ihr gut geht, daß man sie gut pflegt. Sie können sich auf mich verlassen . . . Sie sollen ein Weinchen kosten, das ich auf einem Hang an der Seille entdeckt habe; ein Weinchen, das Sie berauscht, Sie werden ja sehen!“

Immer noch sprechend, wandte er sich zur Tür. Félicité ging so dicht hinter ihm her, daß sie ihn hinauszuschieben schien. Alle begleiteten ihn bis auf die Straße. Er band sein Pferd los, dessen Zügel er an einen Fensterladen geknüpft hatte, als Abbé Faujas, der nach Hause kam, mit einem leichten Gruß durch die Gruppe hindurchschritt. Man hätte meinen können, ein schwarzer Schatten eile geräuschlos dahin. Félicité drehte sich flink um, schaute ihm bis zur Treppe nach, weil sie nicht die Zeit gehabt hatte, ihm ins Gesicht zu sehen.

Stumm vor Erstaunen schüttelte Macquart den Kopf und murmelte: „Wie, mein Junge, du beherbergst jetzt Pfarrer bei dir? Und er hat ein eigentümliches Auge, dieser Mann. Nimm dich in acht: Soutanen bringen Unglück!“

Er setzte sich auf die Wagenbank, pfiff leise und fuhr die Rue Balande im leichten Trab seines Pferdes hinunter. Sein runder Rücken verschwand samt seiner Pelzmütze an der Biegung der Rue Taravelle.

Als sich Mouret umwandte, hörte er, wie seine Schwiegermutter zu Marthe sagte:

„Mir wäre es lieber, wenn du ihm die Einladung ausrichtest, damit es nicht so feierlich wirkt. Wenn du eine Möglichkeit fändest, mit ihm darüber zu sprechen, würdest du mir eine Freude machen.“

Sie schwieg, als sie sich ertappt fühlte. Nachdem sie Désirée überschwenglich geküßt hatte, brach sie endlich auf, wobei sie sich durch einen letzten raschen Blick vergewisserte, daß Macquart hinter ihr nicht zurückkehrte, um über sie zu schwatzen.

„Du weißt, daß ich dir ganz entschieden verbiete, dich in die Angelegenheiten deiner Mutter zu mischen“, sagte Mouret zu seiner Frau, als sie wieder ins Haus traten. „Sie steckt immer in einem Haufen Geschichten, die niemand durchschauen kann. Was zum Teufel kann sie mit dem Abbé vorhaben? Wegen seiner schönen Augen würde sie ihn nicht einladen, wenn sie nicht ein heimliches Interesse hätte. Dieser Pfarrer ist nicht umsonst von Besançon nach Plassans gekommen. Dahinter steckt irgendwas.“

Marthe hatte sich wieder an das ewige Ausbessern der Familienwäsche gemacht, das ihr ganze Tage wegnahm.

Er strich noch eine Weile um sie herum und murmelte:

„Die machen mir Spaß, der alte Macquart und deine Mutter. Na tatsächlich, die können sich nicht ausstehen! Du hast gesehen, wie ihr die Luft wegblieb, weil sie ihn hier erblickte. Man möchte meinen, sie hat immer noch Angst, zu hören, wie er Sachen erzählt, die man nicht wissen soll. Er wäre nicht darum verlegen, hübsche Sachen zu erzählen . . . Aber mich wird man nicht bei ihm ertappen. Ich habe geschworen, mich nicht in diesen Wirrwarr hineinzumischen . . . Siehst du, mein Vater hatte recht, wenn er sagte, daß die Familie meiner Mutter, diese Rougons, diese Macquarts, nicht den Strick zum Aufhängen wert sei. Ich habe ebenso wie du Blut von ihm; es kann dich nicht verletzen, daß ich das sage. Ich sage es, weil es stimmt. Heute sind sie zu Vermögen gekommen, aber das hat sie nicht vom Schmutz gesäubert, im Gegenteil.“

Schließlich ging er fort und machte einen Spaziergang über den Cours Sauvaire, wo er Freunde traf, mit denen er vom Wetter, von den Ernten, von den Geschehnissen des Vortages plauderte. Eine große Bestellung Mandeln, die er am folgenden Tag übernahm, hielt ihn mehr als eine Woche lang in ständigem Kommen und Gehen, was bewirkte, daß er Abbé Faujas fast vergaß. Übrigens begann ihn der Abbé zu langweilen; er redete nicht genug, er war zu geheimniskrämerisch. Er ging ihm zweimal aus dem Wege, weil er glaubte, der andere suche ihn einzig und allein, um das Ende der Geschichten über die Bande der Unterpräfektur und die Bande der Rastoils zu erfahren. Als Rose ihm erzählte, daß Frau Faujas versucht habe, sie zum Sprechen zu bringen, hatte er sich vorgenommen, die Lippen nicht mehr aufzutun. Ein anderes Vergnügen füllte seine leeren Stunden aus. Wenn er jetzt die so gut verschlossenen Vorhänge im zweiten Stock betrachtete, brummelte er vor sich hin:

„Versteck dich ruhig, mein Guter . . . Ich weiß, daß du mich hinter deinen Vorhängen belauerst; das bringt dich immer noch nicht groß voran. Wenn du damit rechnest, durch mich die Nachbarn kennenzulernen!“

Dieser Gedanke, daß Abbé Faujas auf der Lauer lag, erheiterte ihn ungemein. Er gab sich viel Mühe, um nicht in irgendeine Falle zu gehen. Aber als er eines Abends nach Hause kam, gewahrte er fünfzig Schritt vor sich Abbé Bourrette und Abbé Faujas, die vor Herrn Rastoils Tür stehengeblieben waren. Er verbarg sich in einem Hauswinkel. Die zwei Priester hielten ihn dort eine gute Viertelstunde fest. Sie sprachen lebhaft, trennten sich, kamen dann wieder. Mouret glaubte zu verstehen, daß Abbé Bourrette Abbé Faujas inständig bat, ihn zum Präsidenten zu begleiten. Dieser entschuldigte sich, lehnte schließlich mit einiger Ungeduld ab. Es war ein Dienstag, ein Empfangstag. Endlich trat Bourrette bei Herrn Rastoil ein; Faujas schlich in seinem demütigen Gang nach Hause. Mouret blieb nachdenklich. Wirklich, warum ging der Abbé nicht zu Herrn Rastoil? Die ganze Pfarre Saint-Saturnin speiste dort, Abbé Fenil, Abbé Surin und die anderen. Es gab keinen Schwarzrock in Plassans, der nicht im Garten vor dem Wasserfall die kühle Abendluft genossen hätte. Diese Weigerung des neuen Vikars war eine wahrhaftig ungewöhnliche Sache.

Als Mouret nach Hause gekommen war, ging er schnell hinter in seinen Garten, um die Fenster im zweiten Stock zu beobachten. Nach einer Weile sah er, wie sich der Vorhang des zweiten Fensters rechts bewegte. Sicherlich stand Abbé Faujas dort, um auszukundschaften, was bei Herrn Rastoil vorging. An gewissen Bewegungen des Vorhangs glaubte Mouret zu erkennen, daß er gleichfalls nach der Seite der Unterpräfektur hinüberblickte.

Als er am nächsten Tag, einem Mittwoch, ausgehen wollte, teilte ihm Rose mit, daß Abbé Bourrette seit mindestens einer Stunde bei den Leuten im zweiten Stock sei. Da kehrte er wieder um und schnüffelte im Wohnzimmer herum. Als Marthe ihn fragte, was er so suche, wurde er wütend und sprach von einem Schriftstück, ohne das er nicht fortgehen könne. Er stieg nach oben, um nachzusehen, ob er es nicht im ersten Stock gelassen hätte. Als er dann nach langem Warten hinter der Tür seines Zimmers im zweiten Stock ein Stuhlrücken zu vernehmen glaubte, ging er langsam hinunter und blieb im Hausflur einen Augenblick stehen, um Abbé Bourrette Zeit zu geben, ihn einzuholen. „Schau mal einer an! Sie hier, Herr Abbé? Was für ein glückliches Zusammentreffen! — Gehen Sie nach Saint-Saturnin zurück? Das trifft sich großartig. Ich gehe in diese Richtung. Ich werde Sie begleiten, wenn Sie das nicht stört.“

Abbé Bourrette antwortete, daß er entzückt sei. Sie gingen beide langsam die Rue Balande hoch und wandten sich zum Place de la Sous-Préfecture. Der Abbé war ein beleibter Mann mit einem gutmütigen, naiven Gesicht und großen blauen Kinderaugen. Sein straffgezogener breiter Seidengürtel ließ einen Bauch von sanfter und glänzender Rundung hervortreten, und er ging mit etwas zurückgeworfenem Kopf, seinen zu kurzen Armen und seinen schon schwerfälligen Beinen.

„Nun!“ sagte Mouret, ohne einen Übergang zu suchen. „Sie kommen von einem Besuch bei diesem vortrefflichen Herrn Faujas . . . Ich habe Ihnen zu danken, Sie haben da einen Mieter für mich ausfindig gemacht, wie es wenige gibt.“

„Ja, ja“, murmelte der Priester. „Das ist ein ehrenwerter Mann.“ „Oh! Nicht der geringste Lärm. Wir merken nicht einmal, daß ein Fremder bei uns ist. Und dabei sehr höflich, sehr gebildet . . . Sie wissen nicht, man hat mir versichert, er sei ein hervorragender Geist, ein Geschenk, das man der Diözese machen wollte.“ Und als sie sich mitten auf dem Place de la Sous-Préfecture befanden, blieb Mouret unversehens stehen und sah Abbé Bourrette fest an.

„Ach! Wahrhaftig“, begnügte sich dieser mit erstaunter Miene zu antworten.

„Man hat es mir versichert . . . Unser Bischof hätte mit ihm für später seine Absichten. Unterdessen würde sich der neue Vikar im Schatten halten, um keine Eifersüchteleien zu erregen.“ Abbé Bourrette hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und ging um die Ecke der Rue de la Banne. Er sagte gelassen:

„Sie überraschen mich sehr . . . Faujas ist ein einfacher Mensch, er hat sogar zuviel Demut. So übernimmt er in der Kirche die kleinen Arbeiten, die wir gewöhnlich den Pfarrgehilfen überlassen. Er ist ein Heiliger, aber er ist kein gewandter Bursche. Ich habe ihn kaum einmal flüchtig bei Monsignore gesehen. Vom ersten Tag an hat er mit Abbé Fenil nicht besonders gestanden. Ich hatte ihm doch erklärt, daß man der Freund des Generalvikars werden müsse, wenn man in der bischöflichen Residenz gut aufgenommen sein wolle. Er hat nichts verstanden; ich fürchte, er hat ein etwas beschränktes Urteil . . . Sehen Sie, das ist wie mit seinen ständigen Besuchen bei Abbé Compan, unserem armen Pfarrer, der seit vierzehn Tagen das Bett hütet und den wir sicherlich verlieren werden. Nun ja! Sie sind unangebracht, sie werden ihm unermeßlichen Schaden einbringen. Compan hat sich nie mit Fenil verstehen können; man muß wahrhaftig aus Besançon kommen, um einen Umstand, der in der ganzen Diözese bekannt ist, nicht zu wissen.“ Er wurde lebhaft. Er blieb seinerseits am Eingang zur Rue Canquoin stehen, pflanzte sich vor Mouret auf. „Nein, mein lieber Herr, man hat Sie getäuscht: Faujas ist unschuldig wie ein neugeborenes Kind . . . Ich habe keinen Ehrgeiz, nicht wahr? Und Gott weiß, wie ich Compan liebe, ein goldenes Herz! Das hindert nicht, daß ich nur heimlich hingehe, um ihm die Hand zu drücken. Er selbst hat es mir gesagt: ,Bourrette, ich mache nicht mehr lange, mein alter Freund. Wenn du nach mir Pfarrer werden willst, dann trachte danach, daß man dich nicht zu oft an meiner Tür läuten sieht. Komme nachts und klopfe dreimal, meine Schwester wird dir öffnen.‘ Nun warte ich bis zur Nacht, verstehen Sie . . . Es ist unnütz, sich Mißhelligkeiten im Leben zu machen. Man hat schon so viel Kummer!“ Seine Stimme war rührselig geworden. Er faltete die Hände über dem Bauch, er ging weiter und war von einem naiven Egoismus bewegt, der ihn über sich selbst weinen ließ, während er murmelte: „Der arme Compan, der arme Compan . . .“

Mouret war verdutzt. Aus Abbé Faujas wurde er schließlich überhaupt nicht mehr schlau.

„Man hatte mir doch ganz genaue Einzelheiten gegeben“, versuchte er noch zu sagen. „So war davon die Rede, für ihn eine bedeutende Stellung ausfindig zu machen.“

„Ach was! Nein, ich versichere Ihnen, nein!“ rief der Priester. „Faujas hat keine Zukunft . . . Eine andere Sache. Sie wissen, daß ich jeden Dienstag beim Herrn Präsidenten speise. Letzte Woche hatte er mich inständig gebeten, Faujas mitzubringen. Er wollte ihn kennenlernen, sich zweifellos ein Urteil über ihn bilden . . . Nun! Sie würden niemals erraten, was Faujas getan hat. Er hat die Einladung abgelehnt, mein lieber Herr, er hat rundweg abgelehnt. Ich habe ihm vergeblich gesagt, daß er sich sein Leben in Plassans unmöglich macht, daß er sich mit Fenil vollends überwirft, wenn er Herrn Rastoil gegenüber eine solche Unhöflichkeit begeht; er ist halsstarrig geblieben, er hat nichts hören wollen . . . Ich glaube sogar — Gott verzeihe mir! —, er hat mir in einem Augenblick des Zornes gesagt, daß er es nicht nötig habe, sich auf diese Weise durch die Annahme eines Abendessens zu verpflichten.“ Abbé Bourrette begann zu lachen. Er war vor der Kirche Saint-Saturnin angekommen; er hielt Mouret einen Augenblick an der kleinen Kirchenpforte zurück. „Er ist ein Kind, ein großes Kind“, fuhr er fort. „Ich bitte Sie, wie kann er glauben, ein Abendessen bei Herrn Rastoil könne ihn ins Gerede bringen! — Als mich daher Ihre Schwiegermutter, die gute Madame Rougon, gestern mit einer Einladung für Faujas beauftragte, habe ich ihr nicht verheimlicht, daß ich fürchte, sehr schlecht bei ihm damit anzukommen.“

Mouret spitzte die Ohren.

„Ach! Meine Schwiegermutter hatte Sie mit einer Einladung beauftragt?“

„Ja, sie war gestern in die Sakristei gekommen . . . Da ich Wert darauf lege, zu ihr liebenswürdig zu sein, hatte ich ihr versprochen, diesen Teufelsmenschen heute zu besuchen . . . Ich war sicher, er würde ablehnen.“

„Und hat er abgelehnt?“

„Nein, ich bin sehr überrascht gewesen, er hat angenommen.“ Mouret sperrte den Mund auf, dann schloß er ihn wieder. Der Priester blinzelte mit äußerst zufriedener Miene.

„Man muß gestehen, daß ich sehr geschickt gewesen bin . . . Über eine Stunde lang setzte ich Faujas die gesellschaftliche Stellung Ihrer Frau Schwiegermutter auseinander. Er schüttelte den Kopf, entschloß sich nicht, sagte, daß er Zurückgezogenheit liebe . . .

Schließlich war ich am Ende; da ist mir eine Ermahnung dieser lieben Dame eingefallen. Sie hatte mich gebeten, auf das Wesen ihres Salons viel Gewicht zu legen, der, wie die ganze Stadt weiß, neutrales Gebiet ist . . . Da hat er sich anscheinend einen Ruck gegeben und hat eingewilligt. Er hat für morgen ausdrücklich zugesagt . . . Ich werde der trefflichen Madame Rougon zwei Zeilen schreiben, um ihr unseren Sieg anzukünden.“ Mit sich selber sprechend, seine großen blauen Augen rollend, blieb er noch einen Augenblick da. „Herr Rastoil wird schön verärgert sein, aber das ist nicht meine Schuld . . . Auf Wiedersehen, lieber Mouret, baldiges Wiedersehen; schöne Grüße zu Hause.“ Und er trat in die Kirche, ließ die gepolsterte Doppeltür hinter sich sacht wieder zufallen.

Mouret sah diese Tür mit einem leichten Achselzucken an.

„Noch ein Schwätzer“, brummte er vor sich hin, „noch einer jener Menschen, die einen keine zehn Worte anbringen lassen und immerzu sprechen, um nichts zu sagen . . . Ah! Der Faujas geht morgen zum Schwarzkopf; es ist sehr ärgerlich, daß ich mit diesem Dummkopf Rougon verkracht bin.“

Dann lief er den ganzen Nachmittag wegen seiner Geschäfte umher. Am Abend fragte er beiläufig seine Frau beim Zubettgehen:

„Gehst du morgen abend zu deiner Mutter?“

„Nein“, antwortete Marthe, „ich habe zuviel zu erledigen. Ich werde wahrscheinlich nächsten Donnerstag hingehen.“

Er ließ es dabei bewenden. Aber bevor er die Kerze ausblies, begann er wieder:

„Du hast unrecht, nicht öfter hinzugehen. Geh doch morgen abend zu deiner Mutter; du wirst dich ein bißchen unterhalten. Ich werde auf die Kinder aufpassen.“

Erstaunt sah Marthe ihn an. Gewöhnlich hielt er sie in der Wohnung fest, brauchte er sie für tausend kleine Handreichungen, brummte, wenn sie für eine Stunde wegging.

„Wenn du es wünschst, gehe ich“, sagte sie.

Er blies die Kerze aus, legte den Kopf auf das Kissen und murmelte:

„So ist es, und du wirst uns von dem Abend erzählen. Das macht den Kindern Spaß.“

Die Eroberung von Plassans

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