Читать книгу Die Eroberung von Plassans - Эмиль Золя, Emile Zola, Еміль Золя - Страница 7
KAPITEL IV
ОглавлениеIm zweiten Stock angelangt, war Mouret aufgeregter als ein Schüler, der zum erstenmal das Zimmer einer Frau betreten soll. Die unverhoffte Befriedigung eines lange unterdrückten Verlangens, die Hoffnung, ganz und gar ungewöhnliche Dinge zu sehen, benahmen ihm den Atem. Unterdessen hatte Abbé Faujas den Schlüssel, den er zwischen seinen großen Fingern verbarg, in das Schloß geschoben, ohne daß man das Geräusch des Eisens hörte. Die Tür drehte sich wie auf samtenen Angeln. Der Abbé trat zurück und forderte Mouret schweigend auf einzutreten.
Die baumwollenen Vorhänge an den Fenstern waren so dicht, daß im Zimmer eine kreidige Blässe herrschte, das Zwielicht einer zugemauerten Zelle. Dieses Zimmer war über die Maßen groß, hatte eine hohe Decke, eine verschossene und saubere Tapete von ausgeblichenem Gelb. Mouret wagte sich vor, ging mit kleinen Schritten über den spiegelblanken Fliesenfußboden, dessen Kälte er unter seinen Schuhsohlen zu fühlen glaubte. Er blickte sich heimlich um, musterte das vorhanglose eiserne Bett, dessen Laken so glattgezogen waren, daß man es für eine in eine Ecke gestellte Bank aus weißem Stein gehalten hätte. Die Kommode, die verloren am anderen Ende des Raumes stand, ein kleiner Tisch in der Mitte vervollständigten mit zwei Stühlen, vor jedem Fenster einer, das Mobiliar. Kein Stück Papier auf dem Tisch, kein Gegenstand auf der Kommode, kein Kleidungsstück an den Wänden: das nackte Holz, der nackte Marmor, die nackte Wand. Nur über der Kommode durchschnitt eine große Christusfigur aus schwarzem Holz diese graue Nacktheit mit einem düsteren Kreuz.
„Hier, mein Herr, kommen Sie hierher“, sagte der Abbé, „in dieser Ecke hat sich ein Fleck an der Decke gebildet.“
Aber Mouret beeilte sich nicht, er genoß. Obwohl er die absonderlichen Dinge, die zu sehen er unbestimmt erhofft hatte, nicht sah, hatte das Zimmer für ihn, den Freigeist, einen besonderen Geruch. Es riecht nach Priester, dachte er; es riecht nach einem Mann, der anders beschaffen ist als die anderen, der die Kerze ausbläst, um das Hemd zu wechseln, der weder seine Unterhosen noch sein Rasierzeug herumliegen läßt. Es verdroß ihn, daß sich weder auf den Möbeln noch in den Ecken irgend etwas fand, das dort vergessen worden war und das ihm Stoff zu Vermutungen bieten konnte. Der Raum war wie dieser Teufelsmensch, stumm, kalt, glatt, undurchdringlich. Zu seiner lebhaften Überraschung hatte er dort, sosehr er darauf gefaßt war, nicht den Eindruck von Elend; er rief in ihm im Gegenteil eine Wirkung hervor, die er einst empfunden hatte, als er eines Tages den sehr reich eingerichteten Salon eines Präfekten in Marseille betrat. Die große Christusfigur schien den Raum mit ihren schwarzen Armen auszufüllen.
Er mußte sich jedoch entschließen, der Ecke näher zu treten, in die ihn der Abbé rief.
„Sie sehen den Fleck, nicht wahr?“ begann dieser wieder. „Seit gestern ist er ein bißchen zurückgegangen.“
Mouret stellte sich auf die Zehenspitzen, blinzelte, ohne irgendwas zu sehen. Nachdem der Priester die Vorhänge zurückgezogen hatte, gewahrte er schließlich eine leichte rostfarbene Tönung. „Das ist nicht weiter schlimm“, murmelte er.
„Ohne Zweifel; aber ich habe geglaubt, Sie in Kenntnis setzen zu müssen . . . Es muß am Dachrand durchgesickert sein.“
„Ja, Sie haben recht, am Dachrand.“ Weiter erwiderte Mouret nichts; er betrachtete das Zimmer, das vom grellen Licht des hellen Tages beleuchtet wurde. Es war weniger feierlich, aber es wahrte sein unbedingtes Schweigen. Sicherlich erzählte hier kein Staubkörnchen vom Leben des Abbé.
„Übrigens“, fuhr letzterer fort, „könnten wir vielleicht durch das Fenster sehen . . . Warten Sie.“ Und er öffnete das Fenster.
Aber Mouret rief, daß er ihn nicht länger zu stören beabsichtige, daß es eine Lappalie sei, daß die Arbeiter das Loch wohl zu finden wüßten.
„Sie stören mich keineswegs, versichere ich Ihnen“, sagte der Abbé, in liebenswürdiger Art und Weise darauf bestehend. „Ich weiß, daß Hausbesitzer sich gern selbst ein Bild machen . . . Ich bitte Sie, prüfen Sie alles eingehend . . . Das Haus gehört Ihnen.“ Und was bei ihm selten vorkam: er lächelte sogar, als er diesen letzten Satz aussprach. Als sich Mouret mit ihm dann über die Fensterbrüstung gebeugt hatte und beide zur Dachrinne hochsahen, ließ er sich in bautechnische Erklärungen ein, wie der Fleck sich gebildet haben konnte. „Sehen Sie, ich denke an eine leichte Senkung der Dachziegel, vielleicht ist sogar einer von ihnen gebrochen, falls nicht dieser Riß daran schuld ist, den Sie dort längs des Kranzgesimses erblicken und der sich in der Stützmauer fortsetzt.“
„Ja, das ist schon möglich“, antwortete Mouret. „Ich gestehe Ihnen, Herr Abbé, daß ich nichts davon verstehe. Der Maurer wird nachsehen.“
Der Priester sprach nun nicht mehr von Reparaturen. Er blieb ruhig da und betrachtete die Gärten unter sich. Mouret, der sich neben ihm auf die Ellenbogen gestützt hatte, wagte aus Höflichkeit nicht, sich zurückzuziehen. Er war ganz und gar eingenommen, als sein Mieter nach einigem Schweigen mit seiner sanften Stimme zu ihm sagte:
„Sie haben einen hübschen Garten, Herr Mouret.“
„Oh, einen ganz gewöhnlichen“, antwortete er. „Es standen da ein paar schöne Bäume, die ich fällen lassen mußte, denn in ihrem Schatten wuchs nichts. Das ist nun mal nicht anders. Man muß an das Nützliche denken. Diese Ecke genügt uns. Wir haben die ganze Zeit über Gemüse.“
Der Abbé staunte, ließ sich Einzelheiten berichten. Der Garten war einer jener alten, von Laubengängen umgebenen und durch hohe Buchsbaumsträucher in vier regelmäßige Gevierte eingeteilten Provinzgärten. In der Mitte befand sich ein schmales Becken ohne Wasser. Ein einziges Geviert war Blumen vorbehalten. Auf den drei anderen, die an ihren Ecken mit Obstbäumen bepflanzt waren, wuchsen prächtiger Kohl und herrliche Salate. Die mit gelbem Sand bestreuten baumbestandenen Gartenwege waren peinlich sauber gehalten.
„Das ist ein kleines Paradies“, meinte Abbé Faujas mehrmals.
„Es gibt mancherlei Unannehmlichkeiten, das kann ich Ihnen sagen“, erwiderte Mouret im Gegensatz zu der lebhaften Genugtuung, die er darüber empfand, von seinem Besitz so gut sprechen zu hören. „Es wird Ihnen zum Beispiel aufgefallen sein, daß wir uns hier auf einem Abhang befinden. Die Gärten sind terrassenförmig angelegt. So liegt der von Herrn Rastoil tiefer als meiner, der wiederum tiefer liegt als der der Unterpräfektur. Das Regenwasser richtet oft Schäden an. Und außerdem, was noch weniger angenehm ist, sehen die Leute von der Unterpräfektur zu mir herüber, um so mehr, als sie jene Terrasse gebaut haben, die meine Mauer überragt. Es stimmt, daß ich zu Herrn Rastoil hinübersehe, eine armselige Entschädigung, versichere ich Ihnen, denn ich kümmere mich nie um das, was die anderen tun.“
Der Priester schien ihm aus Gefälligkeit zuzuhören, schüttelte den Kopf, stellte keine Frage. Er folgte mit den Augen den Erklärungen, die ihm sein Hauswirt mit der Hand gab.
„Sehen Sie, dort ist noch ein Ärgernis“, fuhr letzterer fort und zeigte auf ein Gäßchen, das hinten am Garten entlangführte. „Sehen Sie diesen kleinen, zwischen zwei Mauern eingefaßten Weg? Das ist die Chevilottes-Sackgasse, die an einem Einfahrtstor zum Gelände der Unterpräfektur endet. Alle anliegenden Grundstücke haben eine kleine Ausgangspforte zur Sackgasse, und es herrscht dort unaufhörlich ein geheimnisvolles Kommen und Gehen . . . Ich, der ich Kinder habe, habe meine Pforte mit zwei guten Nägeln versperrt.“ Er zwinkerte mit den Augen und sah den Abbé an, wobei er vielleicht hoffte, daß dieser ihn frage, was das für ein geheimnisvolles Kommen und Gehen sei.
Aber der Abbé sagte nichts; er musterte die Chevilottes-Sackgasse ohne mehr Neugier, er lenkte seine Blicke friedfertig wieder zu Mourets Garten zurück.
Unten am Rande der Terrasse säumte Marthe an ihrem gewohnten Platz Servietten. Als sie die Stimmen hörte, hatte sie zuerst kurz aufgeblickt; dann hatte sie sich, erstaunt darüber, ihren Gatten in Gesellschaft des Priesters an einem Fenster des zweiten Stocks zu sehen, wieder an die Arbeit gemacht. Sie schien nicht mehr zu wissen, daß die beiden da waren.
Mouret hatte aus einer Art unbewußter Prahlerei heraus, glücklich darüber, zu zeigen, daß er soeben endlich in diese hartnäckig verschlossene Wohnung eingedrungen war, die Stimme erhoben. Und der Priester ließ mitunter seine ruhigen Augen auf Marthe verweilen, auf dieser Frau, von der er nur den gesenkten Nacken mit der schwarzen Masse des Haarknotens sah.
Schweigen trat ein. Abbé Faujas schien noch immer nicht geneigt zu sein, vom Fenster wegzugehen. Er schien nun die Gartenbeete des Nachbarn eingehend zu betrachten. Herrn Rastoils Garten war nach englischer Art angelegt, mit kleinen Alleen, kleinen Rasenflächen, die von kleinen Blumenbeeten unterbrochen waren. Im Hintergrund war eine Baumrotunde, in der sich ein Tisch und Gartenstühle befanden.
„Herr Rastoil ist sehr reich“, begann Mouret wieder, der der Blickrichtung des Abbé gefolgt war. „Sein Garten kostet ihn was; der Wasserfall, den Sie zwar nicht sehen können dort hinter den Bäumen, ist ihm auf mehr als dreihundert Francs zu stehen gekommen. Und kein Gemüse, nichts als Blumen. Eine Zeit hatten die Damen sogar davon gesprochen, die Obstbäume fällen zu lassen; das wäre ein wahrer Mord gewesen, denn die Birnbäume sind prächtig. Ach was! Er hat recht, seinen Garten nach seinem Belieben einzurichten. Wenn man die Mittel dazu hat!“ Und da der Abbé immer noch schwieg, fuhr er fort und drehte sich dabei zu ihm um: „Sie kennen Herrn Rastoil, nicht wahr? Jeden Morgen geht er von acht bis neun Uhr unter seinen Bäumen spazieren. Ein dicker Mann, ein bißchen untersetzt, kahl, ohne Bart, mit kugelrundem Kopf. Ich glaube, er hat in den ersten Augusttagen die Sechzig erreicht. Seit nahezu zwanzig Jahren ist er nun Präsident unseres Zivilgerichts. Es heißt, er sei gutmütig. Ich verkehre nicht mit ihm. Guten Tag, guten Abend, und das ist alles.“ Er hielt inne, als er sah, daß mehrere Personen die Freitreppe des Nachbarhauses hinuntergingen und sich zu der Baumrotunde hinwandten. „Ach ja“, sagte er und senkte die Stimme, „heute ist Dienstag . . . Man gibt ein Essen bei Rastoils.“
Der Abbé hatte eine leichte Bewegung nicht unterdrücken können. Er hatte sich vorgebeugt, um besser zu sehen. Zwei Priester, die neben zwei erwachsenen Mädchen gingen, schienen ihn besonders zu interessieren.
„Wissen Sie, wer diese Herren sind?“ fragte Mouret. Und auf eine unbestimmte Handbewegung Faujas’ fuhr er fort: „Sie überquerten die Rue Balande in dem Augenblick, als wir uns getroffen haben . . . Der Große, der Junge, der, der zwischen den beiden Fräulein Rastoil geht, ist Abbé Surin, der Sekretär unseres Bischofs. Ein sehr liebenswürdiger Bursche, wie es heißt. Im Sommer sehe ich ihn mit diesen Fräulein Federball spielen . . . Der Alte, den Sie ein bißchen dahinter erblicken, ist einer unserer Generalvikare, Herr Abbé Fenil. Er leitet das Seminar. Ein schrecklicher Mann, flach und spitz wie ein Säbel. Ich bedauere, daß er sich nicht umdreht; Sie würden seine Augen sehen . . . Es überrascht mich, daß Sie diese Herren nicht kennen.“
„Ich gehe wenig aus“, antwortete der Abbé, „ich verkehre mit niemanden in der Stadt.“
„Und das ist nicht recht von Ihnen! Sie müssen sich oft langweilen . . . Oh! Herr Abbé, man muß Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen: Sie sind nicht neugierig. Wie! Seit einem Monat sind Sie hier, und Sie wissen nicht einmal, daß Herr Rastoil jeden Dienstag ein Essen gibt! Aber das springt einem an diesem Fenster doch in die Augen!“ Mouret lachte leicht auf. Er machte sich über den Abbé lustig. Dann fuhr er in vertraulichem Ton fort: „Sehen Sie den großen alten Herrn, der Madame Rastoil begleitet? Ja, den Mageren, den Mann mit dem breitkrempigen Hut. Das ist Herr de Bourdeu, der frühere Präfekt des Departements Drôme, ein Präfekt, den die Revolution von 1848 aus dem Sattel gehoben hat. Noch einer, den Sie nicht kennen, wette ich . . . Und Herr Maffre, der Friedensrichter? Dieser ganz weiße Herr mit den großen vorstehenden Augen, der mit Herrn Rastoil als letzter kommt. Zum Teufel! Bei dem da gibt es für Sie keine Entschuldigung. Er ist Ehrendomherr von Saint-Saturnin . . . Unter uns, man beschuldigt ihn, seine Frau mit seiner Härte und seinem Geiz ins Grab gebracht zu haben.“ Er hielt inne, sah dem Abbé ins Gesicht und sagte mit spöttischer Barschheit zu ihm: „Ich bitte Sie um Entschuldigung, Herr Abbé, aber ich bin nicht fromm.“
Der Abbé machte abermals eine unbestimmte Handbewegung, die alles beantwortete und ihn enthob, sich deutlicher zu erklären.
„Nein, ich bin nicht fromm“, wiederholte Mouret spöttisch. „Man muß jedermann gewähren lassen, nicht wahr? — Bei den Rastoils beachtet man die Kirchengebote. Sie müssen die Mutter und ihre Töchter in Saint-Saturnin gesehen haben. Sie sind Ihre Pfarrkinder . . . Diese armen Fräulein! Die Ältere, Angéline, ist gut sechsundzwanzig Jahre alt; die andere, Aurélie, wird vierundzwanzig. Und dabei nicht schön, ganz gelb, mit mürrischem Aussehen. Das schlimmste ist, daß man die Ältere zuerst verheiraten muß. Sie werden schließlich jemanden finden, wegen der Mitgift . . . Was die Mutter anbelangt, diese kleine üppige Frau, die anmutig wie ein Hammel einherschreitet, so hat sie dem armen Rastoil tüchtig zu schaffen gemacht.“ Er zwinkerte mit dem linken Auge, ein Tick, der ihm zur Gewohnheit geworden war, wenn er einen etwas gewagten Scherz zum besten gab.
Der Abbé hatte die Augen niedergeschlagen und wartete auf die Fortsetzung; als der andere dann schwieg, öffnete er sie wieder und sah zu, wie sich die Gesellschaft nebenan unter den Bäumen rings um den runden Tisch niederließ.
Mouret nahm seine Erklärungen wieder auf:
„Sie werden dort bis zum Abendessen bleiben, um die kühle Luft zu genießen. Es ist jeden Dienstag dasselbe . . . Dieser Abbé Surin hat viel Erfolg. Da, er lacht schallend mit Mademoiselle Aurélie . . . Ah! Der Generalvikar hat uns bemerkt. He? Was für Augen! Er liebt mich nicht gerade, weil ich mit einem seiner Verwandten Streit gehabt habe . . . Aber wo ist denn Abbé Bourrette? Wir haben ihn nicht gesehen, nicht wahr? Das ist sehr seltsam. Er fehlt an keinem Dienstag bei Herrn Rastoil. Er muß sich nicht wohl fühlen . . . Sie kennen ihn. Und was für ein ehrenwerter Mann! Das Roß des lieben Gottes.“
Aber Abbé Faujas hörte nicht mehr zu. Seine Blicke kreuzten sich fortwährend mit denen des Abbé Fenils. Er wandte den Kopf nicht ab, er hielt der Prüfung des Generalvikars mit vollendeter Kälte stand. Er hatte sich fester auf die Fensterbrüstung gestützt, und seine Augen schienen größer geworden zu sein.
„Da ist die Jugend“, fuhr Mouret fort, als er drei junge Leute ankommen sah. „Der Älteste ist Rastoils Sohn; er ist gerade als Rechtsanwalt zugelassen worden. Die zwei anderen sind die Kinder des Friedensrichters, die noch auf das Gymnasium gehen . . . Nanu, warum sind denn meine zwei Schlingel noch nicht nach Hause gekommen?“
Gerade in diesem Augenblick erschienen Octave und Serge auf der Terrasse. Sie lehnten sich an das Geländer und neckten Désirée, die sich eben zu ihrer Mutter gesetzt hatte. Als die Kinder ihren Vater im zweiten Stock sahen, senkten sie die Stimme und scherzten mit unterdrücktem Gelächter.
„Meine ganze kleine Familie“, murmelte Mouret selbstgefällig. „Wir, wir bleiben bei uns; wir empfangen keine Gäste. Unser Garten ist ein verschlossenes Paradies, wo es der Teufel gerne bleiben läßt, uns in Versuchung zu führen.“ Er lachte, während er dies sagte, weil er sich im Grunde weiterhin auf Kosten des Abbé lustig machte.
Dieser hatte den Blick langsam auf die Gruppe zurückgelenkt, die die Familie seines Hauswirtes genau unter dem Fenster bildete. Er verweilte dabei einen Augenblick, betrachtete den alten Garten mit den von hohem Buchsbaum umgebenen viereckigen Gemüsebeeten; dann besah er noch Herrn Rastoils anspruchsvolle Gartenwege und ging, als wolle er einen Plan der Örtlichkeiten aufnehmen, zum Garten der Unterpräfektur über. Dort gab es nur eine große Rasenfläche in der Mitte, einen weichgewellten Grasteppich; immergrüne Sträucher bildeten dichte Büsche; hohe, dichtbelaubte Kastanienbäume verwandelten dieses zwischen den benachbarten Häusern eingepferchte Stückchen Erde in einen Park.
Abbé Faujas schaute indessen nachdrücklich unter die Kastanienbäume. Er entschloß sich zu murmeln:
„Das ist sehr hübsch, diese Gärten . . . Auch in dem zur Linken sind viele Leute.“
Mouret blickte auf.
„Wie jeden Nachmittag“, sagte er gelassen. „Das sind die engsten Freunde von Herrn Péqueur des Saulaies, von unserem Unterpräfekten . . . Im Sommer kommen auch sie abends zusammen rings um das Wasserbecken, das Sie da links nicht sehen können . . . Ah! Herr de Condamin ist zurück. Dieser schöne Greis mit dem guterhaltenen Äußeren und der kräftigen Gesichtsfarbe; das ist unser Oberforstmeister, ein fideler Kerl, den man stets zu Pferde trifft, mit Handschuhen und enganliegenden Hosen. Und dabei ein Lügner! Er ist nicht aus der Gegend; vor kurzem hat er eine ganz junge Frau geheiratet . . . Kurzum, das ist glücklicherweise nicht meine Sache.“ Er senkte wieder den Kopf, als er hörte, wie Désirée, die mit Serge spielte, ihr Kleinmädchenlachen lachte.
Aber der Abbé, dessen Gesicht ein wenig Farbe bekam, brachte ihn mit einem Wort zurück:
„Ist das der Unterpräfekt?“ fragte er. „Der dicke Herr mit der weißen Krawatte?“
Diese Frage belustigte Mouret außerordentlich.
„O nein!“ antwortete er lachend. „Man sieht wohl, daß Sie Herrn Péqueur des Saulaies nicht kennen. Er ist keine vierzig Jahre alt. Er ist groß, ein hübscher Bursche, sehr vornehm . . . Dieser dicke Herr ist Doktor Porquier, der Arzt, der die bessere Gesellschaft von Plassans behandelt. Ein glücklicher Mann, versichere ich Ihnen. Er hat nur einen Kummer, seinen Sohn Guillaume . . . Jetzt sehen Sie die beiden Leute, die auf der Bank sitzen und uns den Rücken zukehren. Das ist Herr Paloque, der Richter, und seine Frau. Das häßlichste Ehepaar der ganzen Gegend. Man weiß nicht, wer scheußlicher ist, die Frau oder der Mann. Zum Glück haben sie keine Kinder.“ Und Mouret begann lauter zu lachen. Er geriet in Hitze, ereiferte sich und schlug mit der Hand auf die Fensterbrüstung. „Nein“, begann er wieder und wies mit je einer Kopfbewegung auf den Garten der Rastoils und den Garten der Unterpräfektur, „ich kann diese beiden Gesellschaften nicht ansehen, ohne daß mich das vergnügt macht . . . Sie befassen sich nicht mit Politik, Herr Abbé, sonst würde ich Sie schon zum Lachen bringen . . . Stellen Sie sich vor, daß ich, zu Recht oder Unrecht, als ein Republikaner gelte. Ich komme wegen meiner Geschäfte viel durch das Land; ich bin ein Freund der Bauern; man hat sogar davon gesprochen, mich für den Generalrat zu nominieren; kurzum, mein Name ist bekannt . . . Nun ja! Ich habe hier rechts bei den Rastoils die Blüte der Legitimität und dort links beim Unterpräfekten die großen Tiere des Kaiserreichs. Na! Ist das drollig genug? Mein armer alter Garten, der so ruhig ist, mein kleines Fleckchen Glück zwischen diesen beiden feindlichen Lagern. Ich habe immer Angst, daß sie sich über meine Mauern hinweg mit Steinen bewerfen . . . Sie verstehen, ihre Steine könnten in meinen Garten fallen.“ Dieser Scherz entzückte Mouret vollends. Er rückte näher an den Abbé heran und sah dabei aus wie eine Klatschbase, die lang und breit was erzählen will.
„Plassans ist vom politischen Gesichtspunkt aus sehr merkwürdig. Der Staatsstreich ist hier geglückt, weil die Stadt konservativ ist. Vor allem aber ist sie legitimistisch und orléanistisch, und zwar so sehr, daß sie vom ersten Tag des Kaiserreiches an Vorschriften machen wollte. Da man nicht auf sie gehört hat, ist sie böse geworden und zur Opposition übergegangen. Ja, Herr Abbé, zur Opposition. Letztes Jahr haben wir Marquis de Lagrifoul als Abgeordneten aufgestellt, einen alten Edelmann mit mittelmäßigem Verstand, dessen Wahl die Unterpräfektur aber hübsch verdrossen hat . . . Und schauen Sie, da ist er, Herr Péqueur des Saulaies, er ist mit dem Bürgermeister, mit Herrn Delangre, zusammen.“
Der Abbé blickte rasch hinüber. Der Unterpräfekt, der sehr brünett war, lächelte unter seinem gewichsten Schnurrbart; er war von untadeliger Korrektheit; sein Benehmen glich dem eines schönen Offiziers und liebenswürdigen Diplomaten. Neben ihm führte der Bürgermeister mit einem wahren Fieber von Gebärden und Reden das große Wort. Er wirkte klein, hatte breite Schultern, eine durchfurchte Larve und hatte Neigung zu einem Hanswurst. Er sprach sicher zuviel.
„Herr Péqueur des Saulaies“, fuhr Mouret fort, „wäre darüber beinahe krank geworden. Er glaubte die Wahl des offiziellen Kandidaten gesichert . . . Ich habe mich ergötzt. Am Abend nach der Wahl ist der Garten der Unterpräfektur schwarz und unheimlich wie ein Friedhof geblieben, während bei den Rastoils Kerzen unter den Bäumen brannten und Gelächter und ein richtiger Siegesspektakel herrschte. Auf der Straße läßt man sich nichts anmerken; in den Gärten hingegen tut man sich keinen Zwang an, schüttet man sein Herz aus . . . Sie sehen, ich bin bei sonderbaren Dingen zugegen, ohne irgend etwas zu sagen.“ Er hielt einen Augenblick inne, als wolle er nicht weitererzählen, aber seine Redseligkeit war zu groß. „Jetzt frage ich mich“, begann er wieder, „was sie in der Unterpräfektur machen werden. Ihr Kandidat kommt nie mehr durch. Sie kennen die Gegend nicht, sie sind nicht sehr beschlagen. Man hat mir versichert, daß Herr Péqueur des Saulaies eine Präfektur bekommen sollte, wenn die Wahl gut verlaufen wäre. Da können sie lange warten! Der bleibt noch eine hübsche Zeit Unterpräfekt . . . He! Was werden sie ersinnen, um den Marquis zu Boden zu werfen? Denn irgend etwas werden sie ersinnen, sie werden auf die eine oder andere Weise versuchen, Plassans zu erobern.“ Er blickte zum Abbé hoch, zu dem er seit einer Weile nicht mehr hingeschaut hatte. Als er des Priesters aufmerksames Gesicht mit den leuchtenden Augen und den gleichsam weiter gewordenen Ohren sah, hielt er mit einemmal inne. Seine ganze Vorsicht, die Vorsicht eines friedlichen Bürgers, erwachte; er spürte, daß er soeben viel zuviel gesagt hatte. Deshalb murmelte er mit verärgerter Stimme: „Schließlich weiß ich nichts. Es werden so viele lächerliche Sachen herumerzählt . . . Ich verlange lediglich, daß man mich zu Hause ruhig leben läßt.“
Er wäre gern vom Fenster weggegangen, aber er wagte nicht, jäh davonzugehen, nachdem er so vertraulich geschwatzt hatte. Er begann zu ahnen: falls einer von beiden sich über den anderen lustig gemacht, so hatte er gewiß keine günstige Rolle gespielt.
Mit seiner großen Ruhe blickte der Abbé weiterhin nach rechts und nach links in die beiden Gärten. Er unternahm nicht den mindesten Versuch, Mouret zum Weitersprechen zu ermuntern. Dieser wünschte voller Ungeduld, daß seine Frau oder eines seiner Kinder auf den guten Einfall käme, ihn zu rufen, und er war erleichtert, als er Rose auf der Freitreppe auftauchen sah. Sie blickte hoch.
„Nun, mein Herr!“ rief sie. „Wird es denn heute nichts? — Das Essen steht seit einer Viertelstunde auf dem Tisch.“
„Gut, Rose! Ich komme runter“, antwortete er. Er ging vom Fenster weg und entschuldigte sich. Die Kälte des Zimmers, das er hinter sich vergessen hatte, verwirrte ihn vollends. Es kam ihm wie ein großer Beichtstuhl vor mit seiner schrecklichen schwarzen Christusfigur, die alles gehört haben mußte. Als sich Abbé Faujas mit einem kurzen stummen Gruß von ihm verabschiedete, konnte er diesen jähen Abbruch der Unterhaltung nicht ertragen; er kam zurück und blickte zur Decke hoch.
„Es ist dann also in dieser Ecke da?“ sagte er.
„Was denn?“ fragte der Abbé sehr überrascht.
„Der Fleck, über den Sie mit mir gesprochen haben.“
Der Priester konnte ein Lächeln nicht verbergen. Abermals bemühte er sich, Mouret den Fleck zu zeigen.
„Oh! Jetzt gewahre ich ihn sehr gut“, sagte dieser. „Abgemacht, gleich morgen lasse ich die Arbeiter kommen.“
Er ging endlich hinaus. Er war noch auf dem Treppenabsatz, als sich die Tür hinter ihm geräuschlos wieder geschlossen hatte. Die Stille des Treppenhauses brachte ihn sehr in Harnisch. Er ging hinunter und murmelte dabei:
„Dieser Teufelsmensch! Er fragt nichts, und man sagt ihm alles.“