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Die Macht der Neugierde und der ewige Geier in mir
Оглавление»Neugierde der Kinder ist der Wissensdurst nach Erkenntnis, darum sollte man diese in ihnen fördern und ermutigen«, hatte der englische Aufklärer John Locke einmal gesagt. Eigentlich fühle ich mich nicht zur Philosophie hingezogen, allerdings hatte ich in der Oberstufe einen sehr kompetenten und ausgezeichneten Philosophielehrer. Sein offener und aktiver Umgang mit uns jungen Erwachsenen hatte mir das Fach versüßt, und so kamen mir John Lockes Worte wie die ersten Frühlingsblümchen aus dem Schnee ins Gedächtnis, als Lia beim Durchblättern ihres Felix-Buchs auf einen Plüschhasen in Felljacke mitten im weißen Nirgendwo stieß. Es war im Oktober 2018, zwei Monate vor Lias sechstem Geburtstag, und Europa hatte gerade einen dürren Hitzesommer überstanden. Wäre Lia zu dieser Zeit als Astronaut über Europa geflogen, hätte sie anstatt leuchtend grüner Wiesen und Felder nur verbranntes Gestrüpp und große braune Flächen entdeckt. Die lang anhaltende Trockenperiode, die unseren wunderschönen und naturreichen Kontinent ausgedorrt hatte, hatte insbesondere Skandinavien und den Süden Deutschlands fest im Griff gehabt. Meine Oma lebt in Bayern und konnte wie viele andere Menschen tagelang überhaupt nicht aus dem Haus, weil es einfach zu heiß war und sie sonst kollabiert wäre. Die rekordverdächtigen Temperaturen waren eine klimatische Katastrophe, da auch am Polarkreis Temperaturen von 30 °C gemessen wurden. Leider kostete die mehrwöchige Hitze vielen Tieren das Leben. Der drastische Farbwechsel hatte sich in nur wenigen Monaten vollzogen, und der Schaden, der durch diese Periode verursacht wurde, ist bis heute nicht behoben.
»Wo liegt so viel Schnee?«, fragte Lia mich skeptisch, als würde sie den Seiten ihres Felix-Buchs nicht trauen.
»Am Nordpol«, antwortete ich knapp.
»Es gibt wirklich so viel Schnee in Deutschland?!« Ihre Augen fielen ihr fast aus dem Kopf.
»Nicht in Deutschland, sondern am Nordpol und in der Arktis, dem Gebiet um den Nordpol herum.«
Neugierde flackerte in Lias Gesicht auf. »Kann man da mit dem Zug hinfahren?«
Ich schmunzelte. »Joa, theoretisch.«
Lia holte ihre Weltkarte aus dem Schrank und rollte sie auf dem geblümten Teppich aus. Ich zeigte ihr mit einem Bleistift, wo wir uns befanden und wo die Arktis liegt. Ich zeichnete den Weg von Wuppertal nach Tromsø ein.
Bevor ich noch etwas dazu erzählen konnte, rief sie völlig außer sich: »WAS??? Man muss mit dem Zug aus der Welt rausfahren, um zum Polplanet zu kommen?«
»Erstens heißt es Nordpol und nicht Polplanet. Zweitens befindet sich der Nordpol immer noch auf unserem Globus.«
Ich stellte mir vor, wie wir mit dem Zug aus der Atmosphäre düsten und zwischen den typischen Kindersternschnuppen und -galaxien zu einem Planeten über der Erde fuhren. Lia drückte sich die Nase an der Fensterscheibe platt, und ich betete, nicht von einem Asteroiden getroffen zu werden.
»Gibt es am Nordpol auch diese grünen Streifen?« Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über die Karte.
»Die Polarlichter«, verbesserte ich sie. »Ja, die gibt es dort. Aber nicht immer.«
Ein Blick auf meine Nichte verriet, dass sämtliche Zahnräder in ihrem Hirn in Bewegung waren. »Können wir auch dahin?«, fragte Lia, nachdem sie fünf Minuten tief in Gedanken ihre Weltkarte angestarrt hatte.
Ich nickte. »Nichts leichter als das. Aber«, sagte ich und schaute sie an, »verrate es noch keinem, weil ich erst einen Plan machen muss, bevor ich ihn den anderen vorstellen kann.«
Lia strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Okay. Zip.«
Was soll ich euch sagen? Sie hat es nicht einmal eine Minute geschafft, das Geheimnis für sich zu behalten. Kurz nachdem ich aus ihrem Zimmer in die Küche gegangen und mit einer Flasche Wasser zurückgekommen war, konnte ich sehen, wie Lia sich von ihrer Mutter wegdrehte und so tat, als wäre nie etwas passiert.
»Polplanet mit dem Zug?«, fragte meine Schwester und zog beide Augenbrauen nach oben. »Lia meint doch nicht etwa den Nordpol?«
Ich blockte direkt ab. »Noch ist nichts entschieden. Ich muss erst mal schauen und planen, wie man so etwas am besten anstellen kann.«
Höchstwahrscheinlich hielt meine Schwester die Fahrt in die Arktis für eine Schnapsidee. Wir sprachen nicht mehr über das Thema, bis zu dem Zeitpunkt, als ich in einem Hotel in Hamburg saß und einfach mal schaute, welche Züge mich theoretisch in die Arktis bringen könnten und was der ganze Spaß mich kosten würde. Allein die Fahrt von Wuppertal nach Hamburg lag schon bei 49 Euro. Dann kamen noch die Fahrten nach Kopenhagen, Malmö, Stockholm und Narvik hinzu. Und nicht zu vergessen: Das alles müssten wir auch wieder zurückfahren. Ich konnte keine 1.000 Euro allein für Hin- und Rückfahrt ausgeben. Ich war Studentin, lebte in einem kleinen Apartment in Berlin und arbeitete gelegentlich als Ghostwriterin und Journalistin. Für meine Reisen kam ich meistens selbst auf. Da blieb nicht sehr viel Geld über. Außerdem steckte in einer Reise wesentlich mehr Abenteuer, wenn der Trip nicht bis ins Detail kalkuliert werden musste. Davon abgesehen wollte ich bei meiner Familie meinen Ruf als schnäppchenjagender Geier nicht verlieren.
Plötzlich poppte eine Werbe-E-Mail auf meinem Laptop auf: Interrail. Bingo, wie geil ist das denn, ging es mir durch den Kopf. Als hätten die Newsletter-Spezialisten von Interrail meine Sorge gerochen, aufgrund zu hoher Zugpreise unsere Reise durch halb Europa abblasen zu müssen. Ich hatte zweimal in meinem Leben eine Reise, die ich schon bezahlt hatte, canceln müssen. Einmal wegen höllischer Rückenschmerzen, die ich ›dank‹ einer Grippe bekommen hatte, als ich nach Nürnberg mit dem Zug fahren wollte, und das zweite Mal, als ich ins Westjordanland nach Ramallah reisen wollte, dieses mir aber aufgrund von Ausschreitungen verwährt wurde. Aber kommen wir wieder auf Interrail zurück: Dieses Fahrkartenwesen ist keine neumodische Erscheinung. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich auch die jungen Erwachsenen aus den 1970er und 1980er Jahren noch gut an Interrail (früher auch Hippie-Rail genannt) erinnern können. Für alle Eltern, Tanten und Onkel, die mit Kindern Abenteuer erleben wollen und Interrail noch nicht kennen: Besorgt euch den Interrail-Pass! Ich habe den Tarif für sieben Tage Zugfahrt quer durch Europa genommen. Das Coole ist, mit der Adult-Variante wird allen Miniweltenbummlern unter elf Jahren KOSTENLOS ein Interrail-Pass zur Verfügung gestellt.
Mein Herz machte in diesem Moment einen Riesensprung. Wie ein Geier, der kurz davor war, sich auf seine Beute zu stürzen, grinste ich hinter meiner Brille. Am Ende der Buchung hatte ich mit einem 20-Prozent-Gutschein, den ich mir zuvor auf Google gesucht hatte, nur 293 Euro bezahlt, und das auch noch in der ersten Klasse. Nur in Schweden musste man in den Schnellzügen noch Plätze reservieren. Das war ganz simpel über die jeweilige Website zu erledigen, die Platzkarten kosteten nur ein paar Euro. Die Abteile mit den Betten waren natürlich etwas teurer, aber auch das hielt sich im Rahmen. Ich war schon einmal mit Interrail durch Österreich, die Slowakei und Slowenien gereist und hatte tolle Erfahrungen sammeln dürfen. Interessanterweise hatte ich auf dieser Fahrt einige Kinder getroffen, die quer durch die Züge gelaufen waren, während ihre Mütter sich hin und wieder ein Gläschen Wodka gegönnt hatten. Ehrlich gesagt, hatte ich diese Szenen amüsant gefunden – getreu dem Motto: O Gott, die energiegeladenen Kinder kommen, schnell noch einen Schluck russisches Wasser tanken, um innere Kraft und Geduld aufzuladen und die Kids auszuhalten in einem so winzigen Zugabteil.
Mir war klar, dass Lia nicht am Stück im Zug sitzen könnte, deshalb hatte ich von vornherein einen Aufenthalt in Stockholm eingeplant. Über Booking verschaffte ich mir einen groben Überblick, was die Hotels oder Hostels mit Frühstück (dringend zu empfehlen, wenn mit Kind gereist wird) in der Stadt kosten. Ab 25 Euro aufwärts. Auch das war für mich machbar. Allerdings hatte ich nicht vor, Unterkünfte und sämtliche Platzreservierungen im Voraus zu buchen. Lia und ich würden Weltenbummler sein ohne den typischen Urlaubsstress, den viele Familien haben, bevor sie in die Ferien aufbrechen. Nicht alles musste bis ins kleinste Detail durchstrukturiert sein.
Wenn ich allein reise, kann ich selbst entscheiden, wohin ich will und was ich machen möchte, ohne auf jemanden Rücksicht zu nehmen. Aber mit Lia war ich zu zweit. Wir besprachen alles gemeinsam. Auch wenn ich nur einen Mini-Globetrotter im Schlepptau hatte – Spoiler: Die Mini-Version ist anspruchsvoller! Mir wurde schnell klar, dass Kinder wesentlich neugieriger sind als Erwachsene. Sie stellen Fragen wie: Wieso hat jedes Land sein eigenes Geld? Wieso können wir nicht alle dieselbe Sprache sprechen? Wieso hört sich Dänisch deutscher an als Arabisch? Warum sind die Menschen hier netter als in Deutschland? Diese Fragen sind nur ein Bruchteil von dem, was in Lias Kopf schwirrte.
»Ich liebe reisen«, hatte sie mir offenbart, als wir ein Jahr zuvor nach Berlin gefahren waren. »Wieso macht Reisen nur so viel Spaß?«
Ich hatte unterdessen vor allem die Sorge gehabt, dass Lia Durchfall oder Bauchschmerzen bekommen könnte.
Menschen sind Wanderer. Wandern liegt uns, seit es die Menschheit gibt, in den Genen. Geprägt von der Bewegung unserer Vorfahren werden wir immer ein Gefühl von Fernweh haben. Auch Menschen, die nie gereist sind, haben hin und wieder Sehnsucht nach der Ferne und nach der Bewegung, die dahintersteckt. Wir Menschen sind für ein Leben mit Bewegung programmiert. Sobald unsere Bewegung nachlässt, rosten wir körperlich sowie seelisch ein.
Vor dreizehntausend Jahren waren Menschen noch in Nomadenvölker eingeteilt. Sesshaftigkeit existierte nicht. Auf der Suche nach Nahrung waren sie in ständiger Bewegung. Durch die Klimaveränderungen änderte sich auch ihr Speiseplan, deshalb wurde mit bestellten Äckern und Vorräten für die kalten Wintermonate vorgesorgt. Erfolgreiche Jagdmethoden sorgten zudem für eine sinkende Population der Jagdbeute.
Werfen wir einen Blick auf die drei monotheistischen Weltreligionen, so hatte die Menschheit schon immer aus Wanderern und Sesshaften bestanden. Der erste Mord in der Menschheitsgeschichte, der von Kain an Abel, resultierte aus den unterschiedlichen Lebensbedingungen, die beide führten. Nachdem Kain aus Eifersucht seinen Bruder Abel, den Hirten, erschlagen hatte, schickte Gott ihn auf eine lange Wanderung – nicht um ihn zu bestrafen, sondern um ihn zur Vernunft zu bringen.
Wahrnehmungen verändern sich durch Raum und Zeit. Solche Erfahrungen werden mit alten Erinnerungen in Verbindung gebracht, was neue Selbstentwürfe ermöglicht. Unterwegssein lässt die Gedanken arbeiten. Plötzlich sieht man viele Dinge in einem ganz anderen Licht. Reisen verändert die Sicht auf das Leben.