Читать книгу Tante Emma und der Schnee-Express - Emma Bessi - Страница 13

Wuppertal–Kopenhagen Der Mann, der dachte, ich würde mit Lia ausbüxen

Оглавление

Wer die Schwebebahn kennt, kennt auch den Namen der Stadt Wuppertal. Achtung: Nicht umgekehrt. Denn kein Mensch kennt Wuppertal, ohne die Schwebebahn zu kennen. In der Regel fällt die Sprache in Unterhaltungen zuerst auf den schwebenden Zug über der Stadt, und dann folgt die Frage, wo dieses fahrende Instrument denn sein Unwesen treibt. Schließlich fällt dann ganz zum Schluss der Name, Wuppertal.

Nein, es ist keine Achterbahn. Und es fühlt sich auch nicht so an, als würde man in einer Achterbahn sitzen, wenn man mit der Schwebebahn fährt. Die Wuppertaler Jugend ist eher auf die nahe gelegenen Niederlande fixiert als auf die tolle Schwebebahn, die immerhin eine Geschwindigkeit von 40 km/h erreichen darf.

Leider kennen sehr viele Menschen die Schwebebahn und somit auch Wuppertal, die besondere Stadt im Bergischen Land, nicht. Zwar ist das Bergische Land nicht nach seinen Bergen und Tälern benannt, sondern nach dem historischen Herzogtum Berg. Wer in Wuppertal mit Inlinern oder Fahrrad durch die Stadt cruisen möchte, braucht aber trotzdem Ausdauer und gute Beinmuskulatur, denn in der Tat besteht Wuppertal nur aus Tälern und Bergen. Für Touristen, die Wuppertal noch nie besichtigt haben: Nach eurem Besuch werdet ihr den schönsten Hintern haben und eine Ausdauer wie Usain Bolt.

Um von hier nach Kopenhagen zu kommen, würde ich vom Fußweg abraten und lieber den Schienen lauschen und die Bilder der vorbeifahrenden Landschaft bewundern. Mehr oder weniger. Denn wer in den Norden Deutschlands hochfährt, weiß, dass er flache und grüne Felder mit Windkrafträdern zu sehen bekommt. Burgen und Schlösser und Weinberge wie im Rheintal sind hier Fehlanzeige. Und dann muss man den neugierigen Kindern auch noch erklären, wofür diese Windkrafträder sind, und wenn jemand von euch schlaue Kinder haben möchte, muss er dann noch erklären, wie gesundheitsschädlich solche Windkrafträder für Tier und Natur sind. Speziell unsere Vogelarten hier in Deutschland leiden unter den Windkrafträdern, die ihnen den Lebensraum streitig machen. Im nördlichen Schweden soll der größte Windpark Europas aufgebaut werden, um mehr zum Klimaschutz beizutragen. Und wenn man extrem intelligente Kinder haben möchte, dann sollte man ihnen zusätzlich erklären, wie man den Klimaschutz und Tierschutz miteinander vereinbaren kann, weil beides wichtig ist, um den viel zu schnellen Klimawandel in Zaum zu halten, was immerhin noch ein paar Menschen und die deutschen Schulministerien wissen.

Je weiter wir in den Norden Europas kommen, desto interessanter wird auch die Schulbildung. Denn das skandinavische Schulsystem besteht aus einer neunjährigen Grundschule, an die eine dreijährige Gymnasialschule anschließt. Allerdings kann die skandinavische Gymnasialschule nicht mit der aus Deutschland verglichen werden, weil der größte Teil der skandinavischen Berufsausbildung wie Studienvorbereitungen und berufsinitiative Ausbildungsprogramme in diesen Schulen angeboten werden.

Wahrscheinlich kommt jetzt die Frage auf: Wieso zum Teufel neun Jahre Grundschule? Das hat nichts mit mangelnden kognitiven Fähigkeiten der skandinavischen Schüler zu tun, sondern es geht mehr darum, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, langfristige und stabile Beziehungen aufzubauen, damit sie sich gegenseitig helfen, Stärken zu entdecken und Schwächen gemeinsam zu reduzieren. Wahrscheinlich schneiden deshalb die Skandinavier in den PISA-Studien immer so gut ab.

Allerdings hat die Schulbildung in Skandinavien keine lange Geschichte, da die Volksschule bis ins 20. Jahrhundert mit Skepsis aufgefasst wurde und immer noch der Glaube bestand, dass Bildung nicht nützlich ist, weshalb die Menschen sich mehr mit Religion auseinandersetzen sollten. Mit dem Fokus auf die Gesellschaft und die Naturwissenschaft hat sich auch das komplette Schulwesen verändert. Nicht nur die Lerninhalte und die Alltagsstruktur der Schüler veränderten sich, sondern auch die Methodik hinter dem Schulwesen. Jetzt ging es um individuelle Förderung und die Entwicklung der Schüler. Ich denke, da könnten wir uns einige dicke Scheiben von unseren Wikingerfreunden abschneiden, um unser Schulwesen besser auszubauen und auch Kindern aus sozial benachteiligten Familien den Weg in eine gute Zukunft zu bereiten.

Draußen war es stockfinster, als Lia und ich verschlafen die Treppe runterwatschelten. Meine Mutter hatte am Abend zuvor ein Taxi bestellt, das genau um 3:30 Uhr vor der Haustür stand.

Trotz der Dunkelheit konnten wir im Blick des Fahrers eine Mischung aus Neugierde, Skepsis und Sorge erkennen. Mein Rucksack ragte über meinen Kopf. Der kleine Backpack, voll gepackt mit meiner ganzen Elektronik, mit der ich am Vortag bei meiner Schwester und ihrer Freundin angegeben hatte, war sicher auf meinen Bauch geschnallt. In der linken Hand hielt ich einen Jutebeutel voll mit Essen und Trinken. Meine Mutter denkt immer, ich gehe für die nächsten zehn Jahre auf Seefahrt und werde in diesen Jahren kein einziges Mal anlegen (haltbare Vorräte mitzunehmen ist sehr sinnvoll, wenn das Geld knapp ist). Lias struppiges Haar hatte meine Mutter ungekämmt zu einem Dutt geknotet. Unter dem Arm hielt meine Nichte ihr Löwen-Nackenkissen, in der einen Hand einen kleinen Beutel und auf dem Rücken ihren eigenen bordeauxroten Wanderrucksack, den ich ihr mal geschenkt hatte. Es ist bereits ihr zweiter Wanderrucksack, und darauf bin ich extrem stolz. Der Rucksack sagt viel über eine Person aus. Denn anhand des Gepäcks kann man erkennen, was für ein Reisetyp vor einem steht. Lia hatte noch zusätzlich eine dünne Jacke eingepackt, die sie allerdings an ihren Rucksack geschnallt hatte. In den Seitentaschen hatte sie Müsliriegel, eine Lupe, Wollsocken und eine kleine Thermosflasche mit Tee.

»Wir wollen zum Bahnhof«, sagte ich mit kratziger und etwas verschlafener Stimme.

»Überlegst du dir das«, antwortete der Taxifahrer mit starkem türkischem Akzent.

Stille. Ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte. Dann machte es Klick in meinem Hirn, und ich fing an zu lachen. »O mein Gott, das verstehen Sie falsch. Wir hauen nicht ab. Wir machen nur eine kleine Reise, und alle wissen Bescheid.«

»Wir machen ein großes Abenteuer«, warf Lia in die Runde.

Die Besorgnis des Schnurrbartträgers schlug in Bewunderung um. »Das gut fur Kopf.«

Vor ein paar Jahren hatte mir ein alter Mann auf dem Lykischen Weg gesagt, dass nicht derjenige viel weiß, der alt ist, sondern derjenige, der viel herumgekommen ist. Ich stimmte dem Taxifahrer (und dem Dorfmenschen aus der Türkei) nickend zu, denn Reisen bildet tatsächlich. Um Goethe zu zitieren: »Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.« Allerdings merke ich die neu gewonnenen Erkenntnisse meist erst Wochen nach einer Reise. Dann wird mir erst klar: Abenteuer sind die besten Wege zur Bildung. Jedes Abenteuer ist anders, deshalb lernen wir so viele unterschiedliche Sachen auf Reisen.

Entspannt wollte ich mich in den dunkelblauen Sitz lehnen und der Stimme von Dirk Bach lauschen, die aus meinen Kopfhörern strömte. Wir hatten den ICE in Düsseldorf erreicht. Für mich war jetzt Ruhe angesagt. Schließlich zeigten die Zahlen auf meinem Display erst 6 Uhr morgens. Doch irgendetwas ließ mich nicht entspannen. Ich öffnete mein linkes Auge einen Spalt und schielte nach links. Breit grinsend und mit zerzausten Haaren schaute sie mich an. Okaaay.

»Jaaa?«, fragte ich.

»Ich muss Pipi«, sagte Lia und schob sich ihre Kopfhörer um den Hals.

»Wir sind vor 15 Minuten eingestiegen, Lia.«

»Ich muuuuuss aber. Ich mache mir gleich in die Hoooosen.«

»Okaaay.« Ich drückte ihr eine wirklich hässliche orangefarbene Kulturtasche mit Stiefmütterchen in die Hand. Als Hygiene-Klo-Beutel hatte diese Tasche auf jeden Fall ausgereicht. Aus dem Inhalt mache ich kein großes Geheimnis: Desinfektionsmittel, feuchtes Klopapier und Papiertoilettensitze (nur für Lia). Ich hatte in den letzten 20 Jahren schon genug Gelegenheiten gehabt, um meine Techniken zur Nutzung öffentlicher Toiletten zu perfektionieren.

Lia machte sich auf den Weg zur Bordtoilette.

Fokus, Emma. Ich drückte auf den Play-Button meines Hörbuches, um der Stimme von Dirk Bach zu lauschen. Fokus, Emma. Du bist in der Stadt der träumenden Bücher. Fokus.

»… meine Mama ist bald Arzt, und mein Papa arbeitet bei TK-Maxx. Das ist ganz nah bei uns, weil wir in der Albertstraße wohnen …«, kamen die Worte ins Abteil geflogen, während die Glastür sich wieder schloss.

»Musste die nicht aufs Klo?!«, murmelte ich und streckte meinen Kopf in den Gang.

Lia stand vor der Klotür. Ein junger Mann mit blondem Kurzhaarschnitt stand ihr gegenüber. Ich sah, wie sein Mund sich bewegte, hörte aber nur die laute, leicht heisere Stimmer meiner Nichte: »… die geht bei mir in den Kindergarten …«

Alles klar, ich muss doch aufstehen. Das war es wohl mit Fokus und Dirk Bach. Einige der wenigen Fahrgäste schauten zu mir hoch. Ja, ja, ich weiß, ihr wollt eure Ruhe am frühen Morgen haben. Da seid ihr nicht die Einzigen. Ich will sie nämlich auch haben.

»Musst du nicht aufs Klos, Lia?«

Der Mann hob abwehrend die Arme in die Luft. »Ich …«, setzte er an, doch Lia kam ihm zuvor.

»Wir haben nur geredet.«

»Sie können ruhig wieder auf ihren Platz gehen«, fügte er hastig hinzu.

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass die Lage unter Kontrolle und der Mitreisende harmlos war. Trotzdem blieb ich unmittelbar vor der Bordtoilette stehen und wartete auf Lia, die es endlich auf das verdammte Klo geschafft hatte. »Sorry, nichts gegen Sie, aber das ist die Tochter meiner Schwester, und da bin ich etwas sehr vorsichtig. Außerdem muss sie auch endlich mal lernen, nicht jedem Fremden ihre Lebensgeschichte zu erzählen.«

»Ich habe sie nicht danach gefragt«, verteidigte er sich, dabei war meine Aussage gar nicht als Angriff gemeint gewesen.

Ich verzog amüsiert mein Gesicht. »Ich weiß. Das macht sie immer von ganz allein. Sie sind nicht der Einzige, der ihren Familienstammbaum, ihre Adresse und die Geschichte ihres Lebens kennt.«

Die Unsicherheit wich aus seinem kantigen Gesicht, stattdessen setzte er ein herzerwärmendes Lachen auf, und sein ansteckendes Lachen war mit Sicherheit im ganzen Zug zu hören. »Ich finde es gut, was du machst – ich darf dich doch duzen, oder?«

Ich nickte. »Nur zu.«

»Die meisten Eltern quetschen sich mit ihren Kindern auf die Toilette.« Lässig lehnte er sich mit seinem Rücken ans Fenster.

Ich schmunzelte. »Na ja, also mit sechs Jahren sollte sie es schon auch allein schaffen.«

»Ach, dass sie sechs ist, hat sie mir nicht erzählt.« Jetzt lachten wir beide.

»Das Klatschbasen-Gen liegt wohl in der Familie«, sagte ich grinsend. Früher hatte ich ständig den Leuten im Zug erzählt, dass wir unseren Kater im Regen an einer Bushaltstelle direkt am Wuppertaler Friedhof gefunden hatten, dass wir von Bremerhaven nach Wuppertal gezogen waren und wir auch unheimlich gerne lasen. Die Gänsehaut-Reihen sowie die Drei Fragezeichen suchtete ich wie Sherlock Holmes seine Opiumpfeife.

Lia war mit ihrem TipToy beschäftigt, schielte hin und wieder aus dem Fenster und fuhr mit dem Finger die Regenrinnsale entlang, während ich meine Kopfhörer über meine Löffel zog, um meine Playlist zu pflegen, die ich kaum mit den Charts fülle.

Dicke graue Wolken ließen nicht zu, dass wir den Sonnenaufgang bewundern konnten, dafür durften wir mehr oder weniger etwas anderes bewundern. In Hagen hatte sich nämlich eine junge Frau mit einem Handy zwischen Ohr und Schulter völlig außer Atem zu uns gequetscht – besser gesagt: gegenüber von Lia hin. Ich begrüßte sie mit einem kurzen »Moin« und schaute wieder auf mein Handy.

Je schneller der Zug fuhr, desto lauter wurde der Mix aus schnellem Reden und gekünstelter Lache ihrerseits. Vertieft in meine Musik, wurde ich irgendwann aus meiner Playlist gerissen, als mir auffiel, dass Lias Hand sich nicht mehr über ihr Buch bewegte. Ich sah kurz zu ihr herüber und musste in ein erstarrtes Gesicht schauen. Ihr Mund und ihre Augen waren weit geöffnet. Sie schaute wirklich schräg aus der Wäsche. Fehlte nur noch, dass ein Sabberfaden aus ihrem Mundwinkel lief. Ich stupste sie mit meinem Ellenbogen an. Nichts. »Lia?«

»Ja?«

»Was ist?«

Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit, nur um fünf Sekunden später die linke Seite meiner Kopfhörer zur Seite zu schieben.

»Guck mal, die Frau«, flüsterte Lia mir laut ins Ohr.

Ich hob meinen Blick. Die Frau – sie musste ungefähr in meinem Alter sein – presste immer noch ihr Smartphone mit der Schulter an ihren Kopf, hatte einen Spiegel in ihrem Schoß liegen und Wimperntusche in der einen Hand und versuchte sich irgendwie zurechtzumachen. Die Bürste ditschte immer wieder an ihre Wange oder ihr Augenlid. Leider war der orangefarbene Lippenstift über ihre Oberlippe geschmiert.

Jetzt starrte auch ich die Frau an. Wahrscheinlich sah mein Gesichtsausdruck genauso dämlich aus wie der von Lia. Mein linkes Ohr war frei, und aus der rechten Seite meines Kopfhörers nahm ich noch vage Alligatoahs Stimme war. Ich muss sagen, es war das passendste Lied, das mir durch den Gehörgang hätte strömen können. Eigentlich ist Schönsein so einfach, aber viele Menschen, insbesondere junge Mädels und Frauen, machen es sich schwer, wirklich schön zu sein, weil sie so viel Aufwand betreiben. Wenig Aufwand ist manchmal mehr. Auch bei dieser Frau. Mit dem verschmierten Lippenstift und den verklumpten Wimpern hatte sie in der Tat nur das Gegenteil vom Schönsein erreicht.

Kurz nachdem wir aus Münster rausgefahren waren, musste Lia wieder auf die Toilette. Bevor sie aus meiner Sicht verschwand, griff ich nach ihrer Hand.

»Du hältst die anderen Leute hier nicht auf und lässt sie bitte auf die Toilette gehen, verstanden?« Sprechen und Zuhören macht in der Kindesentwicklung viel aus. Es verbessert ihre Bindung zu Erwachsenen und ermutigt sie, auch selbst zuzuhören. Es hilft ihnen, Beziehungen und Selbstwertgefühl aufzubauen.

»Ja«, antwortete Lia abwesend, den Blick auf die sich öffnende Glastür gerichtet.

Ich sah in ihren Augen, dass sie schon ihr nächstes Opfer gefunden hatte. »Du stellst dich hinter den beiden Frauen an und erzählst denen bitte nicht deine Lebensgeschichte oder wo du wohnst. Am besten hältst du ab der Glastür den Mund, okay?«

»Okay. Ich hab das verstanden!«

Was fand Lia an diesen versifften Bordklos nur so anziehend? Das war kein neues Phänomen. Das hatte sie schon immer gemacht. Ihre Mutter musste eine Zeit lang von Wuppertal nach Düsseldorf zur Uni pendeln, weshalb Lia ein paar Jahre in den Kindergarten auf dem Campus ging. Sobald meine Schwester mit ihr in den RE eingestiegen war, musste Lia auf die Toilette. Und ich muss euch ja nicht sagen, wie ekelhaft die Bordtoiletten im Nahverkehr sind.

Erstaunlicherweise hielt Lia unsere Mitreisenden diesmal nicht auf. Sie hielt sogar den Mund, bis sie wieder das Abteil betrat. Aber dann fiel einer älteren Dame die Wasserflasche vom Tisch. Lia lief der rollenden Flasche hinterher und gab sie lächelnd der Frau.

»Das ist ganz lieb von dir.«

»Ich heiße Lia, und wie heißt du?«

Nicht schon wieder.

Sie ließ der Frau keine Gelegenheit zu antworten. »Meine Tante und ich fahren zum Polplanet. Der ist ganz oben auf meiner Weltkarte. Wir fahren mit dem Zug dorthin«, fasste Lia in nur drei Hauptsätzen die komplette Reisestory zusammen.

Schon das zweite Mal mussten wir uns von fremden Menschen anhören, wie Eltern ihren kleinen Kinder eine tagelange Zugreise zumuten konnten und wieso man ein Kind solchen Strapazen aussetzte, schließlich gab es doch Flugzeuge und Freizeitparks für Kinder und so weiter und so fort. Ich bin ehrlich, mir kamen tatsächlich auch immer wieder Zweifel hoch, ob diese Zugreiseaktion in die Arktis nicht doch falsch war. Nicht nur einmal kam mir dieser Gedanke. Im Endeffekt wusste Lia nicht, worauf sie sich einließ. Die Idee, an einen Ort zu fahren, wo meterhoch Schnee liegt und Schneestürme in bestimmten Monaten gang und gäbe sind, begeistert jedes Kind, vor allem in der heutigen Zeit. Wenn ich über meine Kindheit nachdenke, hatten wir jedes Jahr viel und fast den ganzen Winter durch Schnee. Wir waren den ganzen Tag draußen, bauten fast zwei Meter hohe Schneemänner und bedeckten die gestreuten Gehwege wieder mit Schnee. Aufgrund des rapiden Klimawandels wissen die Kinder heutzutage gar nicht, was Winter wirklich ist und wie viel Spaß man draußen im Winter haben kann. Ein paar Tage fällt Schnee, und dann taut er auch schnell wieder weg. Sie sehen Schnee und einen richtigen Winter in Kinderserien und Büchern und sehnen sich irgendwie danach, auch die Erfahrung mit Schnee zu machen. Zum Glück wird heute noch über die Weihnachtszeit Weihnachtsmann & Co. KG abgespielt. Wohl eine der nervigsten Zeichentrickserien überhaupt, insbesondere das Intro. Aber jeder, der mit Weihnachtsmann & Co. KG aufgewachsen ist, kennt den Refrain, weil er nervig, aber auch irgendwie wieder cool ist. Eisig kalte Weihnachten, sehr viel Schnee und Rentiere.

»Menschenskind, das ischt aber eine seeehr gefährlische Reise, die du mit deiner Tante machscht«, stellte die Frau mittleren Alters hinter ihrer runden Lesebrille fest.

In diesem Moment wurde ich auf einmal richtig sauer. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob ich mich über mich selbst geärgert habe oder über die Aussage der Frau, weil ihre Worte meinen Puls schneller schlagen ließen und ich in der Tat auch etwas Angst bekam, dass ich Lia verlieren könnte oder sie sich eine lebensbedrohliche Krankheit einfängt und tausend andere Sachen. Aber was ist schon Angst? Haben Eltern nicht jeden Tag Angst, dass ihren Kindern etwas passieren könnte? Wahrscheinlich ist das größte Vergehen eines Menschen, sich von seiner Angst besiegen zu lassen, aus Angst nichts zu machen und nicht über diesen Schatten der Angst springen zu können. Ich habe so viele Menschen kennenlernen dürfen. Je nachdem, in welcher Region ich war, sind die Menschen unterschiedlich mit ihren Ängsten umgegangen, und das konnte ich auch an ihren Kindern wiederentdecken. Tief sitzende und nicht überwundene Ängste werden automatisch – ich denke auch unbewusst – in die Erziehung der Kinder eingebaut. Es ist eine Angst da, die nicht wirklich begründet werden kann, denn seien wir mal ehrlich, überall kann uns etwas passieren.

Ich beobachtete die beiden. Dirk Bach las weiter das Buch vor, von dem ich gar nichts mehr mitbekam, dabei liebe ich die Bücher von Walter Moers, die von Dirk Bach vorgelesen worden sind. Schade, dass er so früh gestorben ist. Dieses Mal hielt ich mich zurück. Wenn die Frau zu viel von Lia hatte oder auch umgekehrt, sollten sie sich das einfach gegenseitig sagen. Ich würde mich da nicht einmischen, obwohl ich drauf und dran war. Wahrscheinlich wird es meiner Nichte unangenehm sein, abgewiesen zu werden, aber jeder muss seine eigenen Erfahrungen sammeln und daraus gegebenenfalls auch lernen.

Auch ich hatte diese Erfahrung machen müssen. Ganz hart sogar. Mit 19 Jahren war ich immer noch auf dem Trip, meine Schlüssel im Schlüsselkasten hängen zu lassen. Nicht weil es ein schönes Gesamtbild ergeben hätte, sondern weil ich ständig meine Schlüssel vergaß und keine Lust hatte, die paar Treppen wieder hochzulaufen. Meine Schwester war zu dieser Zeit mit Lia schwanger. Meine Mutter war mit meiner Oma im Urlaub.

Nur mein Vater und mein kleiner Bruder waren zu Hause, während ich in Bremerhaven und Cuxhaven herumgurkte. 2012 war ich noch mit Bargeld unterwegs, und wie der Wind der rauen Nordsee nun mal ist, wehte er mir meine Scheine aus der Hand, als ich nach Kleingeld für ein Fischbrötchen suchte, weshalb ich meine Reise drei Wochen früher abbrechen musste. Am Bahnhof in Bremerhaven musste ich keine zwei Minuten warten, bis ich jemanden traf, der sein Wochenendticket nicht mehr gebrauchen konnte.

»Kannste haben«, nuschelte der Typ mit seinem dunkelroten Rucksack und Tiroler Akzent. »Ich bleib hier eine Weile.«

»Aber dein Name steht doch auf dem Ticket.«

Er fing an zu grinsen. »Nein, ich wurde nicht kontrolliert.«

Yeah! Genial! Direkt 40 Euro gespart, dachte ich in diesem Augenblick, und in meinen Kopf regnete es Konfetti.

Weltenbummler sind in der Regel sehr hilfsbereit, da die meisten auch hin und wieder Hilfe benötigen. Obwohl wir uns nicht kennen, achten wir darauf, Gleichgesinnte zu unterstützen. Genau wie der Tiroler Backpacker vor mir schreibe ich nie meinen Namen auf das Wochenendticket, wenn ich vom Schaffner nicht aufgefordert werde. Mit 40 Euro bin ich in Kasachstan eine ganze Woche lang ausgekommen. Und mit »auskommen« meine ich inklusive Übernachtungen im Hostel und Verpflegung. Mal nebenbei – ich habe gegessen wie ein Kaiser.

Um die Story nicht in die Länge zu ziehen: Ich war mit der Hilfe des Mannes in Wuppertal angekommen. Zu dumm von mir, dass ich meinen Bruder vorher nicht angerufen und Bescheid gegeben hatte, dass ich früher zurückkomme. Kurz vor der Haustür rief ich meinen Bruder an, der mir super gut gelaunt erzählte, dass er gerade mit Papa auf dem Weg nach Lille – einer Stadt im Norden Frankreichs – sei.

»Nicht dein Ernst, oder?!«

»Wo ist das Problem?«, tönte es vom anderen Ende der Leitung.

»Wo das Problem ist? Ja, das kann ich dir sagen – ich habe …«

Düt. Düt. Düt. Das Gespräch war weg. Na toll! Meine Mutter war in Bayern. Mein Vater und mein Bruder hatten sich zu einer spontanen Europatour aufgemacht, und ich hockte auf den Treppen einer verschlossenen Haustür.

Ich hatte die glorreiche Idee, mit meinem Bibliotheksausweis meine Wohnungstür zu öffnen. Aber bei meinem Glück hatten die beiden die Tür abgeschlossen. Um die ganze Sache auf den Punkt zu bringen: Ich musste bei meinem Nachbarn klingeln und an einem Samstagabend den Schlüsseldienst anrufen. Mit einer satten Summe von 384,32 Euro stand ich vor einer Tür mit einem aufgebrochenem Schloss, das nun durch ein 100 Euro teures Schloss vom Schlüsseldienst ausgetauscht werden musste. Und ihr werdet es kaum glauben, ich habe diesen Schlüsseldienst von meinem ersten Gehalt zahlen müssen. Aber meine Oma sagt immer wieder, dass das erste Gehalt auf den Kopf gehauen werden muss. Und das habe ich definitiv getan. Unglücklicherweise wurde dann auch noch 14 Tage später die Wohnungstür vom Vermieter ausgetauscht. Also fast 500 Euro aus dem Fenster geschmissen. Am liebsten hätte ich mir die Tür ins Zimmer gestellt.

Seitdem laufe ich immer die paar Stufen hoch, wenn meine Schlüssel noch im Kasten hängen. Ehrlich gesagt, passiert das nur noch äußerst selten. Ich musste auch schon während der Entscheidung der deutschen Fußballnationalmannschaft fürs Achtelfinale sechs Stunden vor meiner Wohnungstür hocken, weil ich nach dem falschen Schlüssel gegriffen hatte, als ich den Müll runterbringen wollte. Der Nachbar mit meinem Zweitschlüssel war arbeiten. Mein Pech. Deutschland flog auch noch in der Vorrunde aus der WM.

Mit hängenden Schultern war Lia wieder neben mir aufgetaucht und wollte zurück auf ihren Sitzplatz. Die Lippen fest aufeinandergepresst, schnaubte sie tief durch die Nase. »Kinder dürfen gar nicht zum Polplanet, weil die zu klein sind«, sagte sie mürrisch und kaum verständlich.

»Wer hat das gesagt?«

»Die Frau.« Lia zeigte mit dem Finger auf eine Dame drei Sitzreihen vor uns, die eine streng nach hinten gerichtete Hochsteckfrisur trug und hochkonzentriert und mit aufgeblasenen Nüstern in die Bild-Zeitung vertieft war.

»An jedem Ort der Welt gibt es Kinder.«

»Auch am Polplanet?«, hakte Lia neugierig nach, während eine kurze Haarlocke an ihrer Stirn auf und ab sprang.

»Ja, auch am Nordpol«, korrigierte ich sie. »Und außerdem fahren wir in die Arktis. Das ist das Gebiet um den Nordpol herum.«

Sie überlegte. Wieder hörte ich förmlich die Zahnräder in ihrem Kopf arbeiten und ineinandergreifen, während sie aus dem Fenster die vorbeirasenden Kühe und Felder anschaute.

»Aber wieso sagt die Frau das dann?«, hakte sie ein paar Augenblicke später nach.

Wahrscheinlich weil sie die Bild-Zeitung liest, dachte ich. »Vielleicht ist sie noch nie dort gewesen. Das kann viele Gründe haben. Ich weiß es nicht«, antwortete ich.

»Lange Zugfahren ist nicht gesund für Kinder, hat die auch gesagt.«

»Da hat sie schon etwas recht. Aber auf Reisen ist nie alles gut. Du wirst sehen, dass wir Momente haben werden, in denen es uns nicht so gut geht, und dann wieder Momente, wo wir viel Spaß haben werden.«

So läuft ja nicht nur das Reisen ab, sondern das ganze Leben. Höhen, Tiefen und Konstanten machen unser Dasein hier auf der Erde aus. Wir begegnen Menschen, die zuvorkommend und höflich sind. Dann wiederum stoßen wir auf Menschen, die ignorant und unhöflich zu uns sind. Wer weiß, vielleicht gehören wir ab und an auch zu diesen Menschen. Vielleicht sind wir ständig so und merken es noch nicht einmal. Ich denke, dass wir uns öfters mal die Frage stellen sollten, wieso ein Teil der Menschheit negative Emotionen beziehungsweise dunkle Charakterzüge zeigt. Wer weiß, vielleicht hat die Dame hinter der Bild- Zeitung einen schlechten Tag gehabt. Oder möglicherweise hat sie schlechte Erfahrungen sammeln müssen, die ihr auf einer Reise oder im alltäglichen Leben passiert waren, weshalb sie auf Lias Vorfreude auf unser Reiseabenteuer – in Lias Worten – »gemein« reagiert hatte.

Wir sollten einen Menschen nicht nach unserer ersten Begegnung beurteilen. Was mir, ehrlich gesagt, nicht immer leicht fällt, Freunde. Schließlich habe auch ich direkt die Dame als gehässig und vorurteilsbeladen dargestellt, weil sie die Bild- Zeitung las, die ich als Revolverblatt betrachte. Der Mensch ist kein Gemälde und keine Skulptur in einem Kunstmuseum, das schon nach dem ersten Treffen beurteilt werden kann, vielmehr sollte man hinter die Fassade schauen, bevor man ein Urteil fällt. Jeder Mensch ist ein Buch mit vielen Seiten, aber meistens sehen wir nur das Cover und sind dann bedient. Dabei habe ich schon sehr oft Bücher gefunden, die mich von außen überhaupt nicht angesprochen haben, aber deren erster Satz mich in den Bann gezogen hat. Wir sollten aus jeder Begenung das Beste herausholen. Auch Lia und ich.

Tante Emma und der Schnee-Express

Подняться наверх