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Vor der Reise

Von der Idee, mit dem Zug zum Polplaneten zu fahren

»Du willst mit meiner sechs Jahre alten Tochter in die Arktis fahren?«, fragte meine Schwester mit weit aufgerissenen Augen.

Ich nickte. »Ja.«

»Die ganze Strecke mit dem Zug?«

Wieder nickte ich. »Ja.«

»Hin und zurück?«

»Ja-ha.«

Plötzlich fing meine Schwester an, so breit zu grinsen, dass ihre Ohren fast Besuch bekamen.

»Reisende soll man ja in der Regel nicht aufhalten, stimmt’s?!«

Mein Kopf kam aus dem Nicken gar nicht mehr raus.

»Viel Spaß!«, erwiderte meine Schwester, während ich im Hintergrund meine Nichte jubeln hörte: »Wir fahren zum Polplaneten!«

Voller Vorfreude auf die siebentägige Zugreise mit meiner rothaarigen Nichte malte ich mir gedanklich aus, wie erwachsen und gelassen ich die Reise mit einem kleinen Vorschulmädchen managen würde. Schließlich hatte ich darin Erfahrung, die Welt auf die coolste Art und Weise zu erkunden, dachte ich mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht.

»Das Grinsen wird dir noch vergehen«, brabbelte meine Schwester und fing selbst laut schallend an zu lachen. Wahrscheinlich hatte sie in diesem Moment einen kurzen Ausflug in die Vergangenheit unternommen …

»Muddi, was haben ein Tausendmarkschein und ein Polizist gemeinsam?«, hörte ich meine zwei Jahre ältere Schwester durch das Tacke-Tack des Zuges hindurch fragen.

»Nicht jetzt«, antwortete meine Mutter und schielte zu dem Polizisten rüber, der auf einem der Vierersitze neben uns Platz genommen hatte.

»Ne, jetzt ehrlich, was haben die beiden gemeinsam?«

Demonstrativ schlug meine Mutter die Zeitung auf, die sie kurz zuvor am Frankfurter Hauptbahnhof gekauft hatte, und verschwand hinter den grauen Blättern, getreu dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn.

Ich lächelte den Polizisten – damals noch in grüner Uniform – an. Er erwiderte mein Lächeln. Die Sitzpolster der Regionalbahn hatten dieselbe Farbe wie die Kleidung des Polizisten, dachte ich nur. Unser Kater hockte schlafend zwischen mir und meiner Schwester in seiner Katzenbox.

»Du weißt es nicht«, rief meine Schwester siegessicher.

»Ich will es nicht wissen«, sagte meine Mutter im Singsang. »Und du wirst es mir auch nicht sagen. Haben wir uns verstanden, Fräulein?«

»Sie sind nie da, wenn man sie braucht«, plärrte meine vorlaute Schwester schließlich in einem derartigen Tempo, dass sie sich beinahe an ihren eigenen Worten verschluckt hätte.

Die Finger meiner Mutter krampften sich in die Zeitungsblätter, während sie langsam die Zeitung sinken ließ und mit aufeinander gepressten Lippen und hoch erhobenen Augenbrauen den lachenden Polizisten anstarrte. Meine Schwester hingegen schob sich ihre Hände unter die Oberschenkel und schaute aus dem schmutzigen Fenster des Bummelzuges, als wäre nie etwas vorgefallen.

»Tut mir leid«, nuschelte meine Mutter verlegen und verschwand wieder hinter ihrer Zeitung.

»Nah! Sie hat doch recht«, sprach der Polizist und lachte herzlich weiter.

Bis heute frage ich mich, ob er über meine damals zwölfjährige Schwester gelacht hat, über meine verlegene Mutter oder einfach über das Gesamtpaket: eine peinlich genervte Mutter mit ihren drei Kindern und einem Kater im Bummelzug auf dem Weg von Wuppertal nach Fürth. Wenn ich heute, also 17 Jahre später, darüber nachdenke, waren die Zugreisen als Kind die beste Zeit in meinem Leben. Okay, für meine Mutter wahrscheinlich die anstrengendste Zeit, immerhin reiste sie mit meiner Schwester, unserem jüngsten Bruder, dem Kater, einem Wochenendticket und mir quer durch Deutschland, um meine Oma oder unsere Heimatstadt Bremerhaven zu besuchen.

Bei mir und Lia würde es anders sein. Lia war zum Zeitpunkt unserer Reise sechs Jahre alt. Auf keinen Fall kannte sie solche Fangfragen. Ich würde das schon hinbekommen. Oft genug waren wir zusammen nach Berlin gefahren und wieder zurück. Mit dem Zug. Und genauso wie ich liebte Lia Züge, vor allem Schnellzüge. Allerdings erreichte man Berlin von Wuppertal aus mit dem ICE in nur dreieinhalb Stunden. Die Arktis hingegen war schon ein Stück weiter weg.

Ich musste ein straffes und kreatives Programm vorbereiten, um über knapp 6.000 Kilometer hinweg der Langeweile und dem daraus entspringenden Gejammer eines Vorschulmädchens entgegenzuwirken. Hätte ich nicht vielleicht doch ein anderes Abenteuer mit ihr starten sollen? Obwohl, es war ja ihre Idee gewesen, zum »Polplanten« zu fahren. Sie hatte es mir ganz simpel erklärt: »Mit dem Zug«, hatte sie gesagt und mit dem Finger auf ihre Felix-Weltkarte getippt, »fahren wir um die Welt herum und dann hoch zum Polplanet.«

Aber wieso Zug? Auf Zugreisen trifft man in kürzester Zeit und auf engem Raum mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen. Die verrücktesten und unvorstellbarsten Situationen sind mir auf Zugfahrten widerfahren. Wälder und Felder, Schlösser und Burgen, Wasser und Gebirge können bei einer einzigen Bahnfahrt an dir vorbeiziehen. Bis heute ist für mich Zugfahren wie eine Geschichte, die sich live vor meinen Augen abspielt. Von Heiratsanträgen und verrückten Schamanen bis hin zu vierzig betrunkenen Hooligans und indischen Giftschlangen im Schuhkarton: Die Märchen aus 1.001 Nacht werden hier von der modernen Konkurrenz geschlagen. Statt auf Kamelen und fliegenden Teppichen quer durch die Welt zu reisen, setze ich auf komfortable Highspeed-Züge und – die dürfen natürlich nicht fehlen – auf stinkende Bummeleisenbahnen.

Wie jede Sache im Leben hat auch mein Märchen der unendlich vielen und langen Bahnreisen einen Anfang. Für unseren Kater, meine Geschwister und mich waren es echte Abenteuerreisen gewesen, ganz à la Sindbad. Nur in unserem Märchen heiratete nicht Prinzessin Scheherazade den König, woraufhin die Geschichte ihren Lauf nahm, sondern die Bahncard und das Wochenendticket kamen auf den Markt und die Eisenbahnräder ins Rollen.

Tante Emma und der Schnee-Express

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