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Laiva

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„Nichts geht mehr, meine Herrschaften, bitte nichts mehr!“

Er setzt doch noch schnell auf den Blauen, mit dem eine Frauenhand zuvor die Achtundzwanzig be­deckt hat.

Das Hüpfen der Kugel: „Achtzehn!“

Beide Marken werden eingezogen.

Und wieder: „Nichts geht mehr, bitte nichts mehr.“

Er legt seine Marke abermals auf die Achtund­zwan­zig.

Diesmal setzt die Frau nach ihm.

„Siebenundzwanzig!“

Er sieht zwei große Augen, die bald in die seinen, bald auf die Zahl starren.

Warum spielt sie die Zahl Achtundzwanzig weiter, ob sie so alt sein mag?, denkt er.

Auch er bleibt bei seiner Zahl, lächelt … und verliert erneut. Sie mit ihm.

Dann verlässt er den Spielsaal.

Wenig später steht er inmitten einer Masse von Fahr­zeugen vor dem Schiff. Ein riesiges Loch, eine dunkle, stählerne Höhle gähnt dem Pulk entge­gen.

„Haben Sie gebucht?“

Er reicht seine Fahrscheine vom Fahrersitz durch das geöffnete Seitenfenster hinaus.

„ Achtundzwanzig!“

„ … achtundzwanzig??“

Doch der Mann mit den Bordkarten ist bereits zum näch­sten Wagen weitergegangen.

Es ist eben heute der 28., denkt er … und wartet.

Schließlich schiebt sich die Fahrzeugschlange in den Schiffs­­­körper. Zentimetergenau weist man ihn ein. Kaum hat er das große, dunkle Loch passiert, blen­det ihn das helle Neonlicht auf dem Wagen­deck.

Er zwängt sich aus dem Fahrzeug. Menschen ren­nen durch das Schiff: hinauf, herunter, hinüber, herüber; stehen Schlange vor noch verschlossenen Kiosken, drücken die Nasen an die Glastüren des Speisesaa­ls. Er geht über schmale Treppen in seine Kabine: Sie trägt die Nummer Achtundzwanzig! Das war es, was ihn auf dem Warteplatz er­schreck­te.

Er legt sich bäuchlings auf das Bett, stützt den Kopf auf die Unterarme und kann so durch das Bullauge blicken. Das Spielkasino an der Trave schwimmt vorbei, bleibt zu­rück. Dann ein paar Segler, ein Küstenschiff, schwar­­­­­­­­­­­­­­­ze und rote Bojen … drüben immer noch Land. Die ersten Lichter flammen am Ufer wie verhan­gene Sterne im Halb­dun­­­kel auf. Ahnbar befindet sich ein mit Menschenleibern über­füllter abendlicher Strand in Auflösung.

Ein Küstenstrich – wie erlebt – für sich ganz allein? Praia grande – Jequiti mar – Brasilien?

Die Fahrt geht Richtung NORDEN!

Nie zuvor war er in einem Spielsaal gewesen. Die pure Lan­geweile trieb ihn vorhin hinein. Er mochte keine drei Stunden in der Autoschlange warten, auf das dunkle Schiffsdeck stieren, den krie­chen­den Uhr­zeiger vor sich, der träge Minute um Minute schwin­den lässt.

Es wird nun Zeit, nach oben zu gehen, denkt er.

Die Kabinentür gegenüber öffnet sich: Die Nummer 26 steht darüber.

Dieselben großen Augen wie im Spielsaal irren hin und her, von der Zahl zu ihm und wieder zurück.

„Verzeihung“, sagt er, „Verzeihung, habe ich viel­leicht die falsche ..?“

Sie schüttelt kaum merklich den Kopf und ist plötz­lich fort. Eine Spur von Verlegenheit bleibt im Gang zurück.

Die mollige Stewardess weist nebenan ein Ehepaar mit zwei un­aufhörlich schreienden kleinen Kindern ein. Wo waren die Leute bis jetzt?

Am Eingang zum Speisesaal gibt es Platzkarten. Er er­hält den Platz 14/b. Es ist ein Tisch für zwei Per­sonen.

Verbeugung, Erstaunen … und ein kurzer Gruß.

Sie dankt mit einem Kopfnicken und sagt: „Hyvää

päivää“ – guten Tag.

Er rechnet: 2x14 ergeben achtundzwanzig – weni­ger zwei sind 26 ! Aber er behält die seltsame Zahlen­kom­bination bei sich.

Er muss sich umstellen auf die warme Mahlzeit am Abend, denn er ist es gewohnt, zu dieser Stunde kalt zu speisen. Sie bestellt ein Glas Milch, er eine halbe Fla­sche französischen Rotwein.

Der Himmel ist fahl, nach Norden zu färbt er sich wäss­rig-grün.

Nach dem Dinner geht er in die Bar auf dem Boots­deck. Die Frau sieht er nicht wieder. Auch im Salon auf dem Achterschiff suchen seine Augen vergebens nach ihr. Dort spielt eine Combo. Ein junges Mädchen tanzt in roten Socken, vollführt wilde Verrenkungen. Ihr Part­ner hat kurzgeschorenes Haar, trägt einen ab­ge­­wetz­ten gestreiften Pullover … irgendwie passt das tan­zende Paar nicht in diese Umgebung.

Menschen stauen sich vor nun geöffneten Läden: kau­fen … kaufen …

Es ist sinnlos, hier oben herumzusitzen, sich durch das Knäu­el der Menschen zu schieben, sagt er sich:

Nummer 28 ist eine stille Schlafkammer!

Er denkt nicht mehr an die lärmende Familie, doch immer wieder an die Unbekannte: schön und ma­kel­los ihre Figur, die zarten Hände sprechen Mu­sik. Ihr Alter? Eine reife Frau; unauffällig ge­kleidet, fast schlicht, doch mit dezenter Betonung ihres schönen Körpers. Eine Pariserin? Dazu aber passt das „Hyvää päivää“ nicht …

Die Fahrt geht Richtung NORDEN!

Schlafen, nachdenken … Nichts geht mehr, nichts mehr, bitte, meine Herrschaften!

Rien ne vas plus!

Das Schiff beginnt zu rollen.

Nebenan werden die Kinder unruhig: ein Kind weint, das andere hustet unaufhörlich. Wo sind die Eltern ?

Äiiiti … ti! Äiiiii … tiiii “!

Er drückt auf den Klingelknopf. Der rundlichen Ste­war­dess bedeutet er: „Nicht hier … dort!“

Sie öffnet die Tür: süßlicher, schlechter Geruch dringt nach draußen.

Sein Blick streift die Kabinentür mit der Zahl 26 … welches Wesen verbirgt sich dahinter???

Schlafen ..!

Ein „Anteeksi!“ – Entschuldigung, reißt ihn wach.

Ehe er den Irrtum begreift, ist die Tür schon wieder zu. Er tastet nach dem Lichtschalter – vergeblich!

Die Stimme, weich und dunkel, klingt in ihm nach … eine Ahnung von Wärme, Zauber und Schmerz.

Aus der Nachbarkabine gibt es erneut heftige Laute aus dröhnenden Kinderkehlen.

Nun verschließt er die Ohren, holt aus seiner Rei­se­tasche ein Buch und ließt: „Wo Raum und Zeit nicht mehr existent sind, die Zahl zur Farce wird, endlich ihre zweifelhafte Bedeutung verliert und das Ge­schöpf ins Nichts zerfällt, wo Raum und Zeit aufge­hört haben zu sein, weil sie auffraßen, die mit ihnen spielten, beginnt die wahre Ruhe: ein Para­dies für den, der nur Auge ist, dessen inneres Ohr einen Klang aufnimmt, der seinen Resonanzboden im Unbe­greif­lichen hat - sonst ist da nichts … nichts …“

Er überlässt sich lieber dem philosophischen Gedan­kenspiel des Komponisten ERNST KRENEK über die Zahl, über Raum und Zeit, denkt an die Reihentheorie in seiner musikalischen Sprache – und schläft darüber ein.

Der Morgen verrinnt wie der Mittag und der Abend. Zwei mal Vierzehn schweigen sich an und denken über die Zufälle von Zahlen nach. Man grüßt sich, wünscht sich guten Appetit, verweilt zwischen zwei Bissen einen Augenblick mit den Augen bei seinem Gegenüber. Dieses Schauen ist Sehen in die Ferne: Die Augen halten nicht fest.

Sieht er in ihres, das genau das seine trifft, sucht sie ein weites Ziel.

Sieht sie ihn bewusst an, kommen ihr Zweifel, ein Gesicht vor sich zu haben. Da ist eher eine leben­dige Optik, die durch sie in weite Räume schaut.

Beide sehen nach innen in einen Hohlspiegel … in ein Wunschland, das sich auftut und wieder ver­sinkt.

Die profanen Herrlichkeiten auf den Tellern nehmen sie nur beiläufig wahr. Man verzehrt die Speisen eben, weil sie da sind.

Er verlässt den Platz immer nach ihr.

Dann und wann entdeckt er sie bei einer Tasse Kaffee verloren auf das Meer hinausschauend.

Abends nimmt er noch einen Drink in der Bar und sucht bald die Kabine auf. Ihn stört die kreischende Tanz­musik im Salon bis in die Nacht – und der unge­bärdete Tanz.

Er sinnt sich eine andere Musik heran – ein Liebeslied des finnischen Komponisten YRJÖ KILPINEN nach Texten von CHRISTIAN MORGENSTERN: „ … Dort ­­erst, dort erst kommt es zur Ruh/liegt am Grund seines ewigen DU“. Warum gerade jetzt dieses Lied?

Und wieder wendet er sich voll der Lektüre vom Vor­abend zu, in die er sich aber schwer hin­ein­lesen kann: „Wo braucht man keine Zeit, weil es sie nicht mehr gibt? Wo ist der Raum auf dieser Welt, der keiner Trägerrakete bedarf, keiner Vehikel, die hinaus zu den Sternen tragen? Wo ist dieser Raum, dem die Zeit fremd ist? Wo ist die Zeit, die diesen Raum besitzt, der sie überflüssig macht?“

Die Fahrt geht Richtung NORDEN!

Er hat sie an einem Achtundzwanzigsten ange­treten. Das war an seinem Geburtstag.

Eben diese Zahl spielte sie. Also musste sie auch ihr etwas bedeuten!

Er hat mit der Unbekannten etwas gemein: Sechs­mal saßen sie zusammen am selben Tisch, der – verdop­pelt – die Zahl ergab, von der sie vorgestern am Roulette Gewinn erhofften.

Die Reise ist vorbei - und beginnt doch erst!

Es hat keinen Sinn, nach den Gründen zu forschen, deretwegen er aus seiner Umwelt floh. Es sind ihrer zu viele und daher im Jetzt bedeutungslos. Den wah­ren Grund will (oder kann?) er noch nicht erkennen.

Er lässt sich von seiner aufgewühlten Seele treiben. Ihm ist nach Weite zumute, die nicht dadurch be­grenzt ist, dass an ihren Grenzen das Ende beginnt.

Ihm ist nach Wahrheit zumute, die nichts zu tun hat mit der heuchlerischen Gemeinschaft, welche dem Zwang des Schlagwortes folgt.

Ihm ist nach Heimat zumute. Nicht der verlorene Krieg raubte sie, die nie zu einem Reich gehörte, sondern frei war, wie die Menschen in ihr.

Er verlor sie allmählich. Das Geschrei einer Masse brachte den langsamen Tod, ließ das Bild in seinem Herzen, blutver­schmiert und geschändet, erster­ben. Das Geschrei in der eigenen Muttersprache, gelenkt und kollektiv, nach Rechten verlangend, die keine Rechte sind, machte ihn Jahre nach der Vertreibung aus Prag zum wahren Flüchtling.

Vielleicht löste er deshalb die eine Karte: Nur HINREI­SE, nicht zurück! Nichts soll mehr gehen … nichts mehr.

­­­Was später sein könnte, versinkt – geht unter zwi­schen Schiff und Kai.

Die Fahrt geht Richtung NORDEN!

Karelia

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