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Pakosaari

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Ist dieses Wasser Wirklichkeit?

Zahllose Inseln ru­hen in ihm: große und kleine, lang­gestreckte und gerundete, hü­­­ge­lige und flache. Wie dun­kelblaue, grü­ne und hell­gelbe Tupfen er­scheinen sie ihm. Man­ möchte auf dem Wasser da­hin­­segeln oder in einem Ballon über ihnen schwe­­ben, nur um zu schau­­en. Dem Auge er­schließt sich dann das grüne Wunder unberühr­ter Wäl­der in­mit­ten von Wogen, die bald schwarz, bald hellblau schim­mern.

Das Was­­ser ist klar bis auf den Grund, wie durch flüssiges Glas kann man hinun­ter­sehen – und doch wird das Geheimnis der Tiefe gewahrt.

Wo ist der hohe Mittag?, fragt sich der Mann. Ist er im Süden, sobald die Sonne gleißend herun­ter­brennt und den Norden versengen will – das Sehn­suchtsziel seiner Reise? Oder ist er dort, wo ein glutroter Ball in das große Wasser eintauchen will, dieweil es in anderen Ländern Mit­ter­nacht ist, hohe Mitternacht – tiefer Hochmittag!

Die Sonne fährt in einem verwirrenden Karussell um sei­ne kleine Insel, verändert ihr Gesicht und über­gießt das Land mit nie erschauten Farben. Sei­ne Gedanken kreisen mit ihr, bald zum Mittag, bald zur Mitternacht, deren Gewand hier – golden und rot, blau und grün – in wechselvollem Spiel gemalt wird. Er ist geblendet, be­rauscht von der Vielfalt der Farben, wo tausend Meilen weiter südlich tiefe Dunkelheit Ängste und Bürgerwohl­stand, Gier und Sinnenlust, Verbre­chen und erquick­li­chen Schlaf umhüllt. Eine Riesenuhr treibt mit ihm Scha­bernack. Zeitsinn löst sich in der Zeit zum Nichts, angst­volles Streben nach ihm erliegt dem Raum.

Das Spiel dreht sich im Kreis um einen Mittel­punkt, der, ein erdfarbenes Zelt, dem vor sich Flie­hen­den Schutz gewährt. Die Frage, wie lange er hier wohl bleiben wird, verschwindet hinter der Kraft der Sonne, die jetzt seine Gefährtin ist: bei Tag – und bei … Tag: Beim brennenden, sengen­den Tag und dem Tag der entfesselten Farben, den sie hier Nacht nennen.

Unruhig wird er heute von einem eigentümlichen Wage­mut auf den See getrieben. Der brummende Heckmotor seines Bootes stört die Stille nicht, er gehört zu den Bässen eines unsichtbaren, aber nie über­hör­baren Orche­sters. Langsam umfährt er seine Insel.

An der entfernten Bucht hatte er gestern sein Schlauch­boot auf­gebaut. Urplötzlich, wie aus dem Nichts herge­zaubert, standen vier Jungen vor ihm und betrach­teten kritisch das halbfertige „Schiff“. Schließlich griff einer zu, dann die anderen – und mit großer Ge­schicklichkeit hatten sie das ihnen fremde Boot mit dem festen Holz­boden start­bereit. Der Motor wurde aufge­setzt, mit dem Tank verbunden - und zum Schluss ver­stauten sie noch das Gepäck: Zeltsäcke, ein Kochge­rät, einen Schlafsack, sowie einen Metallbehälter mit Lebens­mitteln und eine Arzt­tasche.

Er hatte ihnen staunend zugesehen, wusste nicht, wie er sich bedanken konnte. Sie aber lachten nur und sprachen sehr schnell in ihrer Sprache, die er (noch) nicht verstand.

Als er mit einer fragenden Geste auf eine in der Ferne sichtbare kleine Insel zeigte, hoben die Bur­schen vernei­nend die Hand und riefen: „Ei, Ei“! Einer von ihnen krit­zelte schnell ein paar Linien in den Sand: die Skizze der Bucht und einiger Inseln, welche davor lagen. Sie schich­teten den Punkt, auf den er gezeigt hatte, mit Steinen zu einem kleinen Berg. Um ihn herum, gleich­sam in das Wasser, leg­ten sie eine Menge größerer Steine – an Steinen hatte es hier keine Not –, alle mit der Spitze nach oben. Um eine andere Insel, weiter draußen, häuf­ten sie Sand zu einem Hügel und steckten ein paar dürre Bir­kenäste hinein. Davor zeich­ne­ten sie die Um­risse eines Zeltes. Dann bedeuteten sie ihm gestikulierend, dort­hin zu fahren, und be­kräf­­tigten ihren Hinweis mit einem allseitigen Kopf­nicken.

Er hatte verstanden. Hier also sollte es möglich sein zu zelten: ein sandiges Ufer und Birken – dort aber drohten Steine, die Insel stellte felsige Fallen und bot Gefahr.

Alle lachten und man reichte sich die Hände, gleichsam als Pakt der Verständigung. Zum Abschluss hatten sie noch einige Baumstämme zu­rechtgelegt, über die sie das fertige und bepackte Boot ins Wasser rollen ließen.

Als es aufschwamm, sprang der Fremde hinein. Die Jun­gen stießen ihn vom Land ab und winkten dem Hin­aus­fahrenden noch eine Zeitlang nach.

Und als er dann etwas später nochmals zurück­schau­te, entdeckte er niemand mehr. Die Buben, die ihm gehol­fen hatten, die so fröhlich lachten, ohne laut zu sein, waren weg, wie von Gei­ster­hand fortge­wischt.

Der eigentümliche Wagemut, der ihn heute hinaus­treibt, löst ein angstähnliches Gefühl in ihm aus. Der See ist weit und geheimnisvoll. Neues tut sich vor ihm auf, eine Welt, die nur aus Wasser und Inseln besteht – und nir­gendwo ist eine sichere Orientierung möglich.

Er sucht die Bucht, von der aus er gestern gestartet ist, will sich der Zeichnung der Knaben im Sand erinnern, aber so sehr er sich auch erforscht, er vermag es nicht mehr – sein bisher so untrüglicher Orientierungssinn hält ihn zum Narren.

Wo ist die Bucht? Soll er versuchen umzukehren … zurück? Vielleicht noch weiter zurück, einem trügeri­schen Sü­den entgegen, der für ihn nur Formeln und Carcinome, Reihen der Ele­mente und gebremste Strah­len, frag­wür­dige periodi­sche und andere Sy­ste­me auf muffigem Bür­gerp­olster bereit­hält??

Der Raum beginnt ihn in sich aufzunehmen. Die Brü­cke, über die seine Gedanken eilen wollen, be­ginnt zu wan­­ken, ihre Pfeiler schwimmen, ha­ben keinen Grund mehr– brechen entzwei.

Je weiter er hinausfährt, desto mehr geht seine Orien­tierung verloren. Fast wäre er in voller Fahrt auf ein Hin­dernis gerast, einen spitzen Felsen. Mit einer kurzen Drehung am Griff des Motors stoppt er die Fahrt und erkennt im Vorübergleiten, dass er sich mitten in einer drohenden Felsenklippe befindet, deren Spitzen er mit der Hand greifen kann.

Hier also ist die Insel der Steine, erinnert er sich, vor der er so anschaulich von den Jungen gewarnt worden war! Er stellt den Motor ab und treibt das Boot mit Ruder­schlägen um das eigentümliche Ge­bilde aus Gra­nit und verein­zelten Krüppel­bäu­men, Scharen gieri­ger Möwen auf­scheuchend. Sie stoßen kreischende Laute in die Luft, zerreißen die Stille und bringen eine unruhige Disso­nanz in die träu­me­rische Sinfonie des bisher Emp­fun­denen, ja, sie bereiten ein jähes Finale. Die Schreie tun seinem Ohr weh, sie haben wenig gemein mit dieser Welt, wo er ver­gessen hat, das Wasser vom Himmel zu trennen.

Die großen Vögel fliegen in schwer ergründbarer Ord­nung über der Insel herum. Hierhin dringen keine Gam­mastrahlen, aber Menschen, die ah­nungs­los das Werk der Kreatur stören, Vogelkinder bedrohen, die nichts zu fürchten haben als den stärkeren Feind aus den eigenen Reihen.

„Meide diese Insel“, erinnert er sich der Mahnung der Jun­gen gestern in der Bucht. Und er steuert wieder zurück, dem weißen Strand seiner kleinen Insel zu, der als schmaler, blen­dend­­heller Strei­fen auf dem Wasser erscheint. Dort ange­kommen, lässt er das Boot am sanft anstei­genden Ufer aus­laufen. Er springt auf den heißen Sand, zieht das Boot ganz aufs Trockene und lauscht in die wieder­ge­won­nene Stille, die vorhin noch von der dumpf gur­gelnden Maschine verdrängt war.

Er sieht sich um. So klein das Eiland ist – kaum fünf­hundert Schritte lang und nicht viel mehr als sieb­zig Schritte breit –, so unermesslich kommt es ihm vor.

Nach und nach ergreift er Besitz von dieser Insel, die sich ihm entgegendrängt, ohne sich zu wehren. Er bleibt auf ei­nem natür­lichen Damm stehen, der zwei Inselhälften miteinander verbindet. Das Was­ser kriecht von allen Sei­ten an warme, helle Erde heran, kaum sichtbare kleine Wellen ziehen den Blick hinaus, dort­hin, wo luf­tiges Blau und See sich berühren; dorthin, wo die endlosen Paral­lelen vielleicht zusammentreffen, wo – was ihm noch un­be­­kannt ist – der alte Sänger VÄINÄMÖINEN, ein Held der finnischen Mythologie, der als weiser Alter in der Ge­schichte Finnlands verankert ist, immer noch wartet, bis seine Stunde kommt.

Die Form der Insel erregt ihn: zwei sanfte Hügel, ver­bunden durch ein kaum wahrnehmbares Band, einen schma­­­len Damm.

Ist er ein Irrer, der beginnt, seine Insel als den Teil einer schönen Frau zu betrachten, die, eine Riesin, hier ver­sunken ist?, fragt er sich. Nur der Torso, ihre Parabeln, die den Formen einer Brust so ähn­lich sind, lugen hinauf in die Kuppen des Himmels, um die die Sonne Karussell fährt.

Kann er, der Narr, noch zwischen Fantasie und Wirk­­lichkeit unterscheiden? Hier ist ein Stückchen Land dem Wasser abgerungen: zwei Hügel, wie eine ebenmäßige Rie­sen­skulptur, die auf dem Rücken liegt, Abbild ei­nes Frauen­körpers im satten Sommer des Ge­nus­ses.

Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Es ist sehr heiß an diesem Tag. Seine Fin­ger zeichnen eine Parabel in den Sand: Maximum – Wen­depunkt – Minimum. Hier drau­ßen kann der Wende­punkt sein …

Er lässt sich unendlich viel Zeit, um noch restliche Ge­päckstücke aus dem Boot zu holen, die er dort­hin schleppt, wo der schmale Damm sich als sanf­ter Bogen wieder verbreitert. In der Rundung vor der leich­ten An­hö­he hatte er gestern sein Zelt aufgebaut. Den Ein­gang stellte er so, dass ihn der flam­mende Sonnenball zur rechten Zeit treffen muss, die hier nichts mehr bedeutet.

Gewiss hat dieses Eiland einen Namen und dieser Name seinen Ursprung. Vielleicht deutet er auf die Form der Insel oder kommt vom hellen, feinen Sand – oder den wenigen Bir­ken, die sie so freundlich machen. Vielleicht auch spielt der schmale Damm eine Rol­le, der beide Hügel eint.

Er gibt der Insel einen Namen, der zu ihr und zu ihm passt: Insel der Flucht – PAKOSAARI. Sie birgt sein und ihr Geheimnis, ist Phantom, ist Sphinx des Nordens …

In diesem Raum der unbe­greiflichen Unendlichkeit trägt sie den Träu­mer über Gebilde aus Wasser und Luft, Felsen und Birken zum unbe­rührt wissenden Verlan­gen nach Zeit – vielleicht auch nach Liebe, die der große Raum noch ver­borgen hält.

Karelia

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