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Jussi

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In zahllosen Windungen säumt das Ufer den See. Meist schiebt sich der Wald unmittelbar an das Wasser heran. Der Mann sucht zunächst vergeb­lich nach Leben in die­sen weiten Wäldern. Und doch hat gerade der Wald um den See tausend Augen und tausend Ohren. Man spürt bald seine Men­schen auf, die sich suchen lassen, obgleich sie sich nicht verstecken.

Der Mann ahnt, es liegt etwas in der Luft: der flüsternde Wald oder der sanft vor sich hinplau­dernde See verraten, dass die Menschen einem Er­eignis entgegenfiebern, das Mittsommer heißt.

Es ist der Tag des ewigen Lichtes, der Tag erfüllter Sehn­sucht, die, kaum gestillt, neue Funken ent­facht. Ein gan­zes Jahr glimmt er in den Menschen, bis das Feuer wie­der brennen darf, bis die Flagge diese eine Nacht, die keine ist, am Fahnenmast bleibt.

Der Wald um den Saimaa verrät auch, dass seine An­wohner überzeugt sind, nur hier könne die Mittsom­mernacht besonders schön sein, nur hier glühe die Sonne wie flüssiges Gold. Und man glaubt es den Menschen, die man hier erlebt.

Ein einziger See kann der Saimaa nicht genannt wer­den. Große und kleine Wasserläufe verflechten sich, breiten sich hier zu einem unübersehbaren Meer, bilden dort schmale Flussläufe, die durch Inselgruppen hin­durch­stechen, sich um spitze Land­­­­­­­­­­zungen winden. Schroffe Felsen selbst stellen sich dem Wasser entgegen und weit ausladende, weiße Sandstrände tauchen aus ihm hervor. Es ist ein großer Irrgarten aus Wasser, Wald und Stein, wenn man sich ohne Orientierungs­hilfe in ihn hinein­begibt.

An der stillen Bucht von Kantola wird es lebendig. Ganz nah am Wasser ist das Haus von Simo. Seine Frau und die drei Kinder sind den ganzen Sommer über dort. Er fährt jeden Tag zur Stadt in sein Architektenbüro. Man hört ihn nie zurück­kom­men, plötzlich ist er da. Mit ihm kommt Eevastina, Heikkis Frau, die bei der Post arbeitet. Heikki selbst macht Urlaub. Sein Beruf als Verkaufsleiter einer Handelsfirma veranlasst ihn, elf Monate des Jahres durch ganz Finnland zu fahren. Wenn er nicht gerade Ferien hat, wie jetzt, richtet er sich seine Reisen so ein, dass er an jedem Wochenende während der Sommerzeit an die Bucht von Kantola kommen kann. Er liebt den Fischfang und kennt die Fischgründe nicht nur des Saimaas, sondern auch ande­rer Regionen Finnlands. Hat er in Lapp­land zu tun, gehört dem Lachsfang seine Lei­den­schaft. Sein Häus­chen liegt versteckt, einige Schri­t­te von dem Simos entfernt.

Nicht länger als fünf Minuten wandert man an der Bucht entlang, um etwas erhöht Juhanis – oder Jussi, wie sie ihn nennen – Paradies zu entdecken.

Marjatta heißt seine ungewöhnlich schöne Frau. Sie ist schlank, das kurzgeschnittene, für eine Finnin über­ra­schend dunkle Haar verleiht dem etwas herben Ge­sichtsausdruck einen schelmenhaften, ja lausbübis­chen­ Zug, der durch die funkelnden, gro­ßen Augen eher noch unterstrichen wird. Sie hat drei Kinder, welche von Miina versorgt wer­den, einem Haus­faktotum von legen­därer Zu­ver­­läs­sigkeit, aber auch übertriebener Ge­nau­ig­keit, was zu großer Langsamkeit verführt. Zur Eile will nie­mand Miina antreiben, aber wenig­stens zur Zeit – auch wenn der liebe Gott, einem finni­schen Spruch gemäß, die Zeit, aber nicht die Eile er­schaffen hat. Jussi und Marjatta haben längst er­­­kannt, dass dies Unter­fangen bei dem betagten Jung­­fräulein aus­sichtslos ist. Aber sie brauchen sie, und alle mögen sie schließlich gern.

Jussi und Marjatta arbeiten in ihrem eleganten Herren­mode-Geschäft in der Stadt. Diese Arbeit hat einen wichtigen Endzweck, der heißt: Sommer an der Bucht von Kantola, eins sein mit Familie und Natur – und hin und wieder ein wenig Al­k­o­hol.

Unmittelbar hinter Jussis Grundstück steht ein sehr klei­nes Sommerhaus, das man zunächst als alte Sauna ansieht. Das ist die „Sommerresidenz“ des Loko­motiv­führers Väjnö. Wenn man nicht wüsste, dass seine Frau und die beiden Jungen auch noch in der Hütte wohn­ten, könnte man meinen, das Domizil sei für den Mann von der Eisenbahn zu eng. Er kommt unregelmäßig, aber wann immer er nur einen halben Tag frei hat, trägt ihn sein knat­terndes Zweirad hinaus an die stille Bucht. Und hier macht er sich stets etwas zu schaffen: Er sägt Holz und schleppt dicke Stämme herbei, bastelt an der Hütte herum, bringt Netze in Ordnung und räuchert die Fische, die er in früher Morgenstunde mit dem Schleppkahn hereingeholt hat. Mitunter sieht man ihn mit einer schwe­ren Werk­zeugtasche auf eines der Boote zugehen, die am Ufer liegen. Dort wartet er fachkundig Motoren und repa­riert sie.

Wenn auch fast jeder Finne mit Moto­ren umzu­gehen weiß, als sei er ein gelernter Fachmon­teur, so weiß man an der Bucht doch, dass Väjnö ein wah­rer Meister der Maschinen ist. Er ist das Urbild eines Athleten, dessen Körper klassi­schen Bild­hauern als Mo­dell hätte dienen kön­nen. Seine strahlende Ge­sund­heit, Spiegel eines durch­­trai­nierten Körpers, wird gekrönt durch seinen gleich­bleibenden Opti­mismus, seine Froh­na­­tur. Wenn Väjnö sein herz­haf­tes Lachen erschallen lässt, flie­hen die trübsten Ge­dan­ken, wird der grauste Tag zur Freude. Ge­nau besehen arbeitet dieser Hüne selten für sich. Er tut es für den Freund und für die Kinder, denen ein Spielzeug zerbrach; er hilft dem Fremden, der im Wald ratlos vor einem um­gestürzten Baum steht und mit dem Auto nicht weiter kann, er hilft mit einer Selbst­verständlichkeit, die keine Erklärung braucht. Es ist sei­ne Natur, Brücken zu bauen zwi­schen Menschen­herzen, ohne Unterschied. Hel­fen ist ihm Her­zens­sache!

In den letzten Tagen bringt er auffallend viele Zweige, abgefallene Äste oder halb vermoderte Baum­stäm­me mit. Er sammelt dieses Holz irgend­wo draußen auf den Inseln oder im Wald. Die Kin­der tun es ihm nach und schlep­pen ebenfalls Holz herbei, die sie von ihren Streif­zügen mitbringen. Niemand hat Sorge um sie, auch nicht, wenn sie in die Wälder ziehen. Es führen vie­le We­ge in sie hinein, doch die meisten enden früher oder später in dichtem Gestrüpp; felsiges Gestein ver­sper­rt oft den weiteren Weg, Moosteppiche oder schein­­­­­­­bar sanfte Er­he­bungen entpuppen sich ver­ein­zelt als gefährliche Abrisse oder Klippen.

Hinter Väjnös Hütte wächst der Holzvorrat – mit dem keiner etwas anderes anzufangen wüsste als es zu ver­brennen – beachtlich an.

Das Gestrüpp und das Moos, die Bäume, die Beeren­stauden haben auf allen Inseln ihre Geschwister, doch hat jede Bucht ihren eigenen Wald, jede Insel ihre ei­genen Felsen, jede Bucht ihre eigenen Anwohner. Sie formt die Menschen ihrer Som­mer: macht sie verschlos­sener als sie sind, wenn sie einen Platz wähl­ten, der nicht für Menschen geschaffen er­scheint; macht sie fröhlich, dort, wo sie sich weit aus­ladend zum See angesiedelt fühlen und öffnen können.

Väjnö sitzt mit Jussi in dessen Sauna. Sie lachen herz­lich und schlagen ihre Körper mit Birken­sträu­ßen, um die Poren der Haut aufzuschließen und die Hitze er­träg­lich zu machen. Morgen ist es endlich so weit. Morgen blei­ben die Flaggen am Mast, die ganze Nacht hindurch, weil es keine Nacht gibt; weil die Sonne ihren Zenit erreicht und nicht untergeht! Morgen wird gesungen und ge­feiert, das herbeigeschaffte Holz über den Felsbrocken ge­schich­tet, der vor dem Ufer aus dem Wasser ragt; mor­gen findet der Saunaofen keine Ruhe, morgen werden die Becher kreisen – schneller als die Sonne, schneller als sonst wohl auch. Vergessen sind dann Politik und Alltag, Geschäft und Trau­rigkeit: Alle fiebern der Mittsom­mer­nacht entge­gen und bereiten sich auf das Ereignis vor.

Lia ist da“, sagt Jussi, „sie ging ja mit uns zur Schule und war in meiner Klasse.“

„Schick die Kinder rüber“, meint Väjnö, „damit sie ihr ausrichten, wie sehr sie uns morgen willkom­men ist!“

„Von ihrem Vetter Pekka habe ich gehört, dass sie lange in Frankreich gelebt hat. Sie hat sich hier gerade eine neue Sauna bauen lassen.“

Jussi ist nachdenklich geworden, wirft einige Male mit der Löli-Kelle Wasser auf die heißen Steine und fährt dann fort: „Ich weiß nicht, wie sie heute aussieht. Damals war sie ein hübsches Mädchen, keiner getraute sich an sie heran. Dabei war sie gar nicht eingebildet und auch nicht abweisend. Wenn ihr Vater, der Hoch­schul­professor, in Helsinki war, wohnte sie bei einem Pfar­rer, damit sie weiter in unserer Stadt zur Schule gehen konnte. Als der Pfarrer dann eines Tages versetzt wurde, zog sie ganz zum Vater nach Helsinki und kam nur noch in den Som­mer­monaten heraus … hierhin an die Bucht. Im Anfang muss es dort noch sehr einsam gewesen sein. Lias Vater war der Erste, der drüben an der Heiligen Bucht ein Ferien­haus hatte. Ja … und später ist auch er, wie Tausende andere, im Fortsetzungskrieg geblieben, ge­ra­de als Lia begann, eine junge, schöne Frau­ zu werden.“

„Ich hab ihn noch vor Kriegsende – gar nicht so weit nördlich von hier an der Karelienfront - getrof­fen“, er­gänzt Väjnö. „Sie sagten immer ‚Professor’ zu ihm. Er hatte ein sehr feines Gesicht … und selten schöne Hände. Die Uni­form wollte gar nicht so recht zu ihm passen.“

„Man sagt“, weiß Jussi, „der Professor sei sehr allein ge­we­sen - nur Lia und die Bucht drüben … seine Frau stammte ja hier aus der Gegend und hatte mit ihm in Helsinki studiert; er war früher, als es noch kein Som­merhaus gab, auch schon oft mit ihr auf den See hin­ausgerudert. Später dann, als Lia zur Welt kam, muss sie wohl gestor­ben sein.“

„Ein schweres Schicksal für Vater und Tochter“, bekräf­tigt Väjnö und fährt fort: „Sie müssen sich sehr lieb gehabt haben, die beiden. Als ich ihn damals an der Front traf, erzählte er mir von Lia … er sprach nur von ihr! Sie hatte wohl sehr geweint, als er einrücken musste – und er auch. Er sei kein guter Patriot, bekannte er freimütig, heule sich die Augen wund, wenn’s nie­mand sieht; habe immer entsetzliche Angst, aber nur um das Kind … wer sollte sie trösten, wer sollte für sie sorgen, für sie da sein, wenn …?

Warum er auf die Russen schießen müsse, habe sie ihn beim Abschied gefragt, und er habe ihr zu erklä­ren versucht, dass es ein Unglück für Finnland sei, wenn sie hereinkämen. Doch die Erklärung ha­be sie nicht über­zeugt: Wie oft sei er doch dort gewesen, um Vorträge zu halten und zu dirigieren, und wie viele Freunde habe er in dem Land. Wieso sollte er auf diese Leute schießen!

Väjnö stockt eine Weile und fährt dann fort: „Wir sahen uns noch verschiedentlich, bis meine Kom­panie in den Mittelabschnitt verlegt wurde. Später hörte ich, dass der Professor gefallen sei – er­stochen!“

Jussi ist sehr ernst geworden und hört dem Freund gebannt zu. „Mit der Nachricht ist sie wohl nie fertig geworden“, fügt er hinzu. „Es gab, wie man hörte, noch eine Menge Freunde ihres Vaters, die sich um sie küm­merten, doch sie zog sich zurück und mied alle Kontakte. In Hel­sinki soll sie später studiert haben: Man sah sie an der Sibelius-Akademie und in kunsthisto­ri­schen Vorle­sungen der Universität … dann und wann auch in Kon­zerten und Ausstel­lungen, doch nie in Gesellschaft mit anderen. Schließ­lich verlor man sie aus den Augen. Sie würde, so hieß es, an einer Universität in Mittel­europa weiter­studieren.“

Die beiden Männer beenden ihre Sauna. Sie bleiben nach der ungewohnt langen Sitzung in ihren Gedanken gefan­gen und es sieht so aus, als hätten sie den Tag, der ihnen so viel Vor­freu­de bereitet, vergessen.

Schließlich meint Jussi: „Warum die Kinder hin­schicken? Ich gehe selbst … immerhin bin ich ja mit ihr zur Schule gegangen.“

Und Väjnö lacht wieder sein erfrischendes Lachen: „Aber Jussi! Wärst du – der Geschäftsmann – ein Dich­ter, hät­test du gleich auf diesen Einfall kom­men müs­sen.“

„Auch Lokomotiven bestehen nicht aus lyrischen Ver­sen“, erwidert Jussi schmunzelnd, „sie rauchen wie un­se­re Sauna.“

„Nicht mehr lange“, bemerkt Väjnö, „bald fahren wir mit Diesel!“

„Jetzt aber trinken wir erst einmal kahvi, lieber Freund, und morgen früh fahr ich dann hinüber – ohne Diesellok und Runeberg …

Und am Abend gibt’s kokko – kokko!“

Karelia

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