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Sauna
ОглавлениеAn dem Stein, an dem Tage vorher, staunend und trunken vom sichtbar Berauschenden, die Augen des Mannes Pekka Zeit und Raum in sich verschmolzen – an dem Stein lehnt, halb sitzend, halb liegend, die schlanke Frau. Ihr dunkelblondes, glattes Haar, das mit den Spitzen die Schultern berührt, gleitet immer wieder über die Stirne ins Gesicht und wird dann ebenso häufig mit einer sanften Handbewegung hinter die Ohren zurückgestrichen. Die linke Hand fährt an dem Stein entlang, liebkost seine Rundung und tastet sich in die kleinen Vertiefungen seiner Oberfläche.
Wie nenne ich dich, kivi? Stein der Sehnsucht - Stein der Erinnerung? Du bist Zeuge vieler hunderttausender Jahre, Zeuge der wechselhaften Natur, Zeuge ihrer Grausamkeiten in Nacht und Eis. Wie nenne ich dich?
In diesen Stein sah Lia als Kind Schlösser hinein. Er wurde für sie zum Palast ihrer Wünsche, gewann Leben und hatte ein Herz, das schlug; hinter diesem Stein versteckte sie sich, wenn sie den Vater erschrecken wollte.
Wie nenne ich dich, kivi?, fragt sie sich erneut. Jahre sind seit unserem letzten Spiel vergangen. Das ist für dich doch nur das Ticken einer einzigen, kaum spürbaren Ewigkeitssekunde: der Sommer ein Bruchteil von ihr, der Winter einer. Du bist ein Werkstein in der großen Uhr, die keine Zeiger braucht. Viele Jahre, für die es keine Zahl mehr gibt, haben dich zurechtgeschliffen … Bestimmt warst auch du einmal rauh und kantiger! Wie heißt das Werkzeug, das dich formte? Ist es die sogenannte … Zeit? Hat sich das Werkzeug schließlich selbst überflüssig gemacht, damit du Lager sein kannst für das räderlose Werk, das zeigerlose Zifferblatt, Verbindungsteilchen in einer endlosen Sekundenreihe, deren Bruchteile und Elemente Sommer und Winter heißen?
Wie nenne ich dich, kivi? An dich gelehnt überkommt mich Ruhe, und deine gespeicherte Wärme weckt wohlige Gedanken … Damals spielte ich mit dir und um dich herum, heute bist du mein stummer Vertrauter. Aber – du zwingst mich, immer nur in die eine Himmelsrichtung zu blicken, immer nur dorthin, wo es einmal keinen Tag und auch keine Nacht mehr geben kann.
Wie gut, kivi, dass die verrückte Welt hier nahezu ihren Sinn verliert, so klein wird, wenn die bunten Teppiche anfangen zu leuchten und goldene Gespinste sie zudecken, sie verschwinden lassen wie der Zauberer die Taube im hohen Hut.
Wie nenne ich dich, kivi?
Als sie vorgestern beim lossi eintraf, um den Schlüssel in Empfang zu nehmen, überkam sie eine tiefe Niedergeschlagenheit. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt. Dabei hatten die beiden Männer alles aufgeboten, ihre Verschlossenheit in Herzlichkeit umzuwandeln, die tatsächliche Freude über das Wiedersehen mit ihr spürbar zu machen.
Doch dabei spielte die Natur nicht mit: Graue Wolken hingen tief am Himmel, Regen stand in der Luft, das Wasser des Sees, tiefschwarz, bewegte sich unruhig, und weiße Schaumkronen schoben sich gierig an den Uferrand. Es war beinahe herbstlich – mitten im Sommer!
Wie sehr sich die Männer auch bemühten, das Gespräch blieb stockend. Lia bemerkte die Unsicherheit des Onkels, er könne sie womöglich mit Fragen bedrängen, die sie kränkten, die sie vielleicht verletzten.
Der Vetter schwieg sich aus, wenn er hereinkam - und er wirkte immer erleichtert, wenn draußen ein Wagen nach dem lossi verlangte. Aber ihr fiel auf, dass er sie des öfteren verstohlen ansah, und sie glaubte zu spüren, dass er sie wie ein Wesen aus einer fremden Welt betrachtete.
Das Gespräch verlief unkomplizierter, als man über die notwendigen Dinge sprach, die sich um das Haus draußen am See drehten. Man würde sich ja jetzt häufiger sehen, weil sie gewiss dann und wann zur Stadt müsse … meinte der Onkel.
Schließlich war sie hinausgefahren. Ihr bereitete die Bucht nicht den farbenfrohen Empfang wie zuvor Pekka. Es hatte zu regnen begonnen und ein tosender Sturm kam auf. Donner erfüllte das Land, der Himmel rumorte, das Wasser war aufgepeitscht.
„Wenn du draußen bist und das Wetter ungemütlich ist, dann mach die Badstube heiß, es ist alles da – du weißt doch, es gibt die alte Rauchsauna noch“, so hatte der Onkel es ihr geraten.
Doch sie folgte dem Rat nicht. Lieber wartete sie eine Weile, um zunächst wie aus einem geschützten Beobachterturm das so lange verlassene Grundstück mit den Augen abzutasten. Dann ging sie eiligen Schrittes auf das kleine Holzhaus zu, das ihr auch jetzt noch so freundlich erschien, wie sie es in Erinnerung hatte. Mit seiner schmalen Terrasse lugte es ein wenig aus der Baumgruppe hervor, richtete seine Nase zum See hin. Zögernd drehte sie den Schlüssel ins Schloss und war dankbar, dass der Vetter den Raum so freundlich zum Empfang hergerichtet hatte. Sogar ein paar Blumen standen auf dem Tisch, den eine bunte Decke zierte.
Ein paar Schritte vom Sommerhaus entfernt besichtigte sie dann die Rauchsauna. Nein! Das war kein Zufluchtsort für Stürme, Donner und Hagel. Es war ein dunkles Verlies, das sie schaudern ließ. Nur das Holz, das an der einen Wand aufgestapelt war, verriet ihr, dass gerade jemand hier gearbeitet haben musste.
Nein! Hier würde sie kein Feuer machen, wie es ihr der Onkel geraten hatte.
Schon am Tag nach ihrer Ankunft fuhr sie bereits wieder zur Stadt, tätigte Einkäufe, die ihr notwendig erschienen, und weitere zwei Tage darauf kamen vier Männer mit einem beladenen Lastauto, rissen die alte Rauchsauna ab und ersetzten sie durch eine neue. Die Verwandlung der alten Sauna ging so schnell vonstatten, dass es ihr wie ein Spuk vorkam.
Nun prangen an ihrer Stelle die frischen Stämme der putzigen kleinen Hütte am Ufer. Sogar einen Bootssteg haben die Männer noch angelegt.
Das junge Holz riecht verlockend und fordert sie zu einem Saunagang auf, der wohligen Genuss verheißt.
Erst jetzt erscheint ihr das neue Paradies in vollem Glanz – das neue, alte Paradies ihrer Jugend: Vaters geliebtes Sommerhaus … und ihre eigene Sauna!
Vergessen sind die grauen Schleier, vergessen die Angst, mit dieser unheimlichen Rauchsauna allein zu sein – und auch der Himmel lacht ihr wieder zu.
Endlich ist es soweit: Steil steigt der Rauch aus dem Schornstein der mit Holzscheiten geheizten Sauna in den wolkenlosen Himmel. Rasch wirft sie ihre Kleider in dem kleinen Vorraum ab und schlüpft durch die enge Holztüre hinein in die noch trockene Hitze: Das Thermometer zeigt knapp über hundert Grad.
Die drei aufsteigenden Stufen an der Wand sind so lang, dass sie sich bequem darauf ausstrecken kann, doch zunächst stellt sie einen Eimer Wasser neben sich auf die zweite Stufe und legt eine Kelle zum „löli werfen“ hinein. Und nachdem sie sich etwas aufgewärmt hat, wagt sie sich nach oben auf die dritte Stufe … zu schnell, wie ihr stockender Atem verrät. Sie taucht die Hände in den Wassereimer, hält sie dann vors Gesicht, um sich etwas abzukühlen. Vater hatte ihr immer die dritte Stufe verwehrt, doch zu lang ist es her, dass sie solch ein Bad nehmen konnte … und ihr Körper hatte sich entwöhnt.
Als die Haut ihre Poren zu öffnen beginnt und der heiße Schweiß in winzigen Bahnen über ihren Körper rinnt, wirft sie – erst zaghaft, dann häufiger – doch einige Kellen mit Wasser auf die heißen Steine des Ofens, und zischend kommt der Dampf zu ihr herauf, breitet sich wie ein Ölfilm über den nassen Körper aus, der in der Dämmerung des kleinen Raumes wie Bronze schimmert.
Ein warmer Schauer durchläuft sie. In den alten, verrauchten Badstuben, die kaum Licht von draußen hereinließen, kamen früher die Kinder zur Welt. In einsamen Gegenden weiter nördlich soll es noch immer so sein.
Warum denkt sie gerade heute an Kinder? Solche Gedanken, die ihr – gerade ihr – absurd vorkommen müssen, gehen ihr hier und jetzt durch den Kopf. Hat sie ihre eigene Geburtsstätte durch etwas Neues ersetzt? Nein - sie ist ein Stadtkind!
Und der Vater, der aus der Reihe auf dem Friedhof zu ihr sprach? War nicht von ihrem Ursprung hier … und draußen in der freien Natur … die Rede – und von einem Körnchen Staub?
Fehlt ihr wirklich das nächste Glied in einer Reihe; in einer Reihe, die man Familie nennt?
Nein – sie will diese Reihe nicht fortsetzen, auch wenn die Hitze in der Sauna ihren Körper mit Gefühlen durchflutet, die sich dagegen auflehnen.
Nein, sie will nicht! Und … sie kann es auch nicht mehr!
Darum ist sie von Pierre geflohen, fort aus der blühenden Provence. Als sie ihm dorthin gefolgt war, vor vielen Jahren, hatte er gesagt: „Lass uns frei sein; lass uns leben von dem, was uns zuwächst in diesem herrlichen Vaucluse; wir brauchen die Kirche nicht und auch nicht den Staat, werden auch so glücklich sein. Ich verstehe, dass du kein Kind haben willst, keinen Sohn, der wie der Vater irgendwo …“
Und dann, Pierre? Als dein Wunsch nach einem Kind immer brennender wurde in den letzten Jahren? Dieses Verlangen nach dem, was nicht sein konnte, habe ich einfach nicht mehr ertragen können, es hat mich unsäglich gequält …
Heiß trieft ihr Körper, sie atmet schwer. Der kalte See, das plötzliche Umspültwerden vom weichen Wasser wird die wirren Gedanken verscheuchen.
Sie taucht in die sanften Wellen und schwimmt hinaus, vor sich die weite Fläche des Sees, der sich bis zum Horizont hin öffnet. Nichts mehr denken – Auflösung in raumlose Weite, Kind sein der Steine und Buchten: nicht mehr denken!
Die kleinen Wellen treiben ihre Gedanken für eine Weile fort … Ich bleibe, die ich bin, weiß sie – und ich trage das selbst gesprochene Urteil ohne Reue!
Noch einmal geht sie hinein in die aufgeheizte Sauna. Hier ist sie allein mit sich, allein mit ihrem Körper und ihren Gedanken, die sich aber doch nur widerstrebend fortzwingen lassen. Das letzte bisschen Sehnsucht nach dem malerischen Hochplateau Vaucluse, nach Pierre, sagt sie sich, soll hier in diesem Raum verbrennen: Sie baden anders, schlafen anders, sie lieben auch anders …
Liebte ihr Vater in der Sauna?
Nein. Keiner tut es an diesem Ort, aber dieser Ort macht zur Liebe fähig … zuvor… danach!
Wie losgelöst sie nach diesem Schwitzbad – dem zweiten Gang – wieder aus dem Wasser steigt! Die Kühle des Sees hat ihre Wirkung getan. Mit ihrem Bademantel, den sie auf dem kivi abgelegt hatte, umhüllt sie ihren wohlig-matten Körper.
Kivi, jetzt weiß ich, wer du bist: Stein der erfüllten Einsamkeit!
Lieben auch die Steine? Es gibt in deiner Zeit ohne Maß Urgründe, wo du etwas warst, was fühltest …, kivi deine Einsamkeit durchglüht die Nächte der roten Sonnen, weckt Sehnsüchte, die, kaum erfüllt, von Neuem entflammen, Körper, die nach Genuss lechzen, just dann, wenn sie soeben alles bis zur Neige ausgekostet haben.
Kivi, deine harten Runzeln, die man nur fühlt, beginnen zu leben, wenn die Schöpfkelle des Himmels Sonnenstrahlen über dich hingießt.
Du Stein der erfüllten Einsamkeit tickst mit in dem Uhrwerk ohne Räder und Zeiger …
Und mit diesen Gedanken geht sie wieder auf das Sommerhaus zu. Der feine Rauch aus dem Schornstein der Sauna wendet sich als hauchdünner Weiser allmählich gen Norden und wird vom dunklen Rot der Juninacht in fließend goldiges Gewölk verwandelt.