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Ulvila

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Die Frau tritt in ihre Wohnung ein, die sie noch nicht kennt.

Die neuen Wohnblocks am Stadtrand von Helsinki sind ihr etwas Neues. Als sie die Hauptstadt verließ, war hier noch wilder Wald.

Den väterlichen Besitz drunten an der Seuras­sarentie hat sie vor geraumer Zeit verkauft und über ei­nen Makler die kleine und moderne Woh­nung erwor­ben. Sie will in Zukunft hier leben.

Was sie aber nie verkaufen will, ist das Fleckchen Er­de draußen auf dem Land zwischen Lappeen­ranta und Savitaipale.

Die Anschrift ihrer neuen Wohnung lautet:

Ulvilantie 28A –14!

Seit Monaten kennt sie diese Ziffer und baut darum ihr eigenes Reich.

Seit Monaten denkt sie sich nichts dabei, bis sie die­sem Fremden am Roulette begegnete, kurz vor der Überfahrt … und bis dieser Irgend­wer auch so hartnäckig auf die Acht­und­zwanzig setzte.

Kabine sechsundzwanzig fügt sich nicht ein – aber Tisch vierzehn mit zwei Plätzen …

Hätte sie ein Gespräch herausfordern sollen?

Doch warum eigentlich einer profanen Zahl so viel Be­deu­tung geben!

Allein sein, das wollte sie – und Stille! Nicht über Zeit und Zahl nachdenken, mit niemandem spre­chen, die eigene Seelenlandschaft durchforschen.

Von der kleinen Wohnung aus dem Hochhaus geht ihr Blick hinüber zum Wasserturm, der so merk­wür­dig aussieht: Wie ein Pilz!

Stand er vor Hiroshima – oder danach? Architek­ten­einfall oder Mahnung?

Möglicherweise hat der Erbauer sich gar keine Ge­dan­­ken um den grausamen Pilz gemacht …

Auf der Geraden zwischen Pilz und Hochhaus-Woh­nung – ungefähr in der Mitte dieser Strecke – muss sich der große Mannerheim-Friedhof befin­den. Ihr Va­­ter liegt dort in einer langen Reihe. Sie hört nie auf, nach dem „Warum“ zu fragen.

Ist sie seinetwegen hierhergereist?

Nie wird ein Mann so sein wie er: stark und zu­ver­lässig, elegant und gescheit, beherrscht … und zärt­­lich, fröhlich und nachdenklich, liebens­wert und ver­ständnisvoll!

Er sagte Ja zum Leben, konnte über die Liebe reden, ohne sie zu zerreden, und erahnte die Wünsche, die ihr Herz bewe­gten.

Wenig später sucht sie den Friedhof auf. Auf der Anhöhe – im Mittelpunkt – steht das Kreuz … und wenn es nicht der Mittelpunkt ist, so zwingt es dazu, ihn dorthin zu denken.

Der Marschall liegt ein paar Schritte abseits davon. Der Retter des Vaterlandes nach dem Winterkrieg genau dann, als es der Uni­­formen nicht mehr be­durfte.

Zwei Gipfelpunkte, von denen das Gelände sanft zur Kirche hin abfällt. Dazwischen Reihen … Reihen … Reihen!

Und ihr Vater in einer solchen!

Was ist eine ‚Reihe’, fragte das fast erwachsene Mäd- chen ihren Vater damals.

Musik … Zwölftonmusik! Zunächst noch recht seltsa­me Musik – Zu­kunfts­musik, antwortete er.

­Warum zunächst noch?, wollte sie wissen.

Nun, weil diese Reihentheorie in meiner Zeit keinen Raum hat, oder mein Raum der Reihe keine Zeit bietet, oder die Zeit für die Reihe keinen Raum … dreh es, wie du willst. Reihe ist Ordnung … und Zwang – und was aus deines Vaters Kopf kommt, passt dort nicht hinein.

Nun liegt er hier in einer endlosen Reihe … einer von Millionen!

Die quälende Frage nach dem WARUM hat sie in all den Jahren nicht losgelassen.

Neben wem schläft er wohl?, kommt es ihr in den Sinn.

Lass, mein Kind, diese Fragen!, hört sie ihn plötzlich zu sich sprechen. Ich bin doch nur ein Häufchen Asche, das der raue Wind hierher trug. Den größten Teil streute er über unser Land. Ein Körnchen davon findest du auf jener kleinen Insel, auf der ich dich zeugte. Es ist noch immer lebendig, es ist stark genug, dich zu erhalten. Was hier an dieser Stelle liegt, schweigt als Ton von vielen, der seinen Klang verlor im Furioso einer Sinfonie, welche Chaos, aber nie Klang­gemälde war, tödlicher, unauf­halt­samer Sturm, der zu Zeiten wieder­kommt: In der Natur – in der Musik – in der Liebe … Warum besuchst du mich hier? Es ist ein heißer Sommer, Kind. Warum fährst du nicht weiter?

Ratlos, verstört sieht sie um sich und starrt wieder auf die kleine Steinplatte, die seinen Namen trägt.

Und erneut raunt es aus der Tiefe: Diese Reihe hier ist in Wahrheit namenlos, sie klingt nicht nach zwölf – und auch nicht nach bedeutungsvollen Zahlen: Sie klagt Frieden auf Dissonanzen, klagt Kampf und Ka­no­nen, deren Sinn im Jenseits seine Farben ver­wandelt; die Reihe klagt Trauer und Sehnsucht.

Und das Kreuz dort?, fragt sie sich, sucht nach einer Antwort, die sie selbst nicht findet.

Doch dann ist ihr so, als ob ein Gefühl wohliger Wärme sie durchströmt und ihr Vater sie wie eine schützen­de Hülle umgibt: Die Lebenden, Kind, glau­ben an Erlösung, klingt seine Stimme fort, sie sehen es immer in der Mitte … in der Mitte. Doch was du suchst, findest du nicht hier. Dort, wo das Staub­korn Asche liegt, ist deine wahre Mitte, die du jetzt brauchst. Fahr hinaus und erkenne: Ich habe dort mit Wonne geliebt – und du bist daraus geworden.

Benommen geht sie weiter durch die Reihen, durch die sie nie geschritten wäre, stünden sie jetzt alle le­bend hier: in Erwartung eines Kommandos!

Aber dann, wenn sie stumm hier ruhen, treibt man die Frauen endlich durch diese Reihen.

Letzte Ruhestätten der Soldaten sind ewig – ewige Ruhe sagt das allgemeine Recht …

Über Jahrtausend alte Kriegsgräber rasen irgendwo in Europa stählerne Giganten, bevor sie sich in die Luft erheben.

Was wird hier einmal sein?

Nicht weit entfernt liegt ein Zelt­platz. Die meisten, die dort kampieren, wissen nichts von ihrer stum­men Nachbar­schaft, ahnen nicht, dass ein Vater hier ruht – viele Väter! Kriege kennen sie meist nur noch aus dem Geschichts­buch; je weiter sich die fried­li­chen Jahre von dem grau­sigen Geschehen ent­fernen, desto harm­loser wird das einstige Schlach­ten­gewühl.

Hinüber in die vertraute Stadt also, denkt sich die junge Frau. So lange fort von hier und doch gleich wieder daheim. Die alten Lehrer besuchen? Nein! Nur vorbeigehen an dem ehrwürdigen Gebäude und das

Du­rch­­einander von menschlicher Stimme und zahl­losen Instrumenten vernehmen, die skurrile Mi-schung aus Anfängertum und reifem Können, unter­stützt von Schlagwerken, die aus der Tiefe röhren und klappern. Nur ein Blick hinauf, sonst nichts! Glück­liche Stätte musischer Hoffnung, Wettbe­werbs-Akademie der schönen Töne, zitternd gebla­sen und ängstlich gestrichen, tragend gesun­gen und träu­mend gezupft …

Und dann wieder die schwarze Nummer über der Tür in Ulvilla: Achtundzwanzig!

Bin ich denn ein verliebter Teenager, oder jemand, der sich nicht mehr besiegen lassen will, weil er alles neh­mend geben kann, wenn er … will?, fragt sie sich.

Die Frucht war reif, als sie vor Jahren noch zu ernten war. Doch nun?

Als Pierre ihr in Südfrankreich begegnete, war von einer Bindung nicht die Rede. Sie stürmten sich ent­gegen und lie­ßen die Vertrautheit vor der Tür ihrer Herzen. Kein Schlüssel öffnete sie. Das lustvolle Traum­­­­­­­­­­­­­land aber entpuppte sich als Trug­schluss, und die entbehrte Vertrautheit wurde zum bohrenden Schmerz. Ganz allmählich füll­te er ihre Seele aus …

Im Süden Europas lie­ben sie an­ders, denken und fühlen anders – sie schlafen nicht wie wir …

Vater war aus seiner Welt der Harmonie gerissen wor­den. Ihn fällte das Chaos aus Gewalt und Hin­terhalt. Er, dem die Stille noch zu laut war, dessen fein­gliedrige Hände Regungen seines Herzens sicht­bar wer­­­den lie­ßen, wurde von einer groben Faust zer­malmt, die sich nicht, in einem Vorhof wartend, angekündigt hat.

Und Mutter?

Als die glücklichen Stunden der Eltern zur Wirklich­keit wurden, wusste niemand von den Viren, die ihre müt­ter­lichen Opfer fraßen.

Dieselbe Technik, die sie einmal hätte retten sollen, wird bei ihr zum rasenden Schwert, das den Tod noch schneller bringt. Ist das der Gewinn?

Vater zeigte nie ein Bild von ihr, er wollte keines mehr besitzen. Nach Mutter befragt, strich er ihr immer nur zärtlich über den Rücken – und sie empfand stets tiefe Ge­borgenheit dabei.

Das Flüstern aus dem Grab in der Reihe, vor dem sie lange in Gedanken versunken verweilt hatte, begleitet sie bis herauf in ihre Wohnung: Ich hab mit Wonne geliebt und dem Körnchen Asche schon damals einen Weg ge­wiesen voller Lust und Sinnenfreude. Es ist ein heißer Sommer, Kind, bleib nicht in Ulvilla! Die Stadt ist nur ein Knotenpunkt, er zeigt dir immer wieder den Pilz dort hinten und reißt zwischen ihm und dir die Stille ohne Leben auf. Du aber genieße in der Stille, die Leben heißt! Suche deines Lebens Mit­te dort, wo das Körnchen Asche liegt und dich da­ran erinnert, dass es auch mein Leben war. Du wirst zu dir finden und nicht den Gedanken nachhängen, was wahre Erlösung verspricht: ein Kreuz, ein Fried­hof mit den traurigen Resten tausender braver Männer, deren Namen nichts mehr sind. Draußen, umspült von den reinen Wassern, ist Liebe und erre­gender Sturm, der stets neues Verlangen for­dert, gebiert, wieder verliert und ver­zehrt – und doch nie endet. Dort ist dein DU, dort löst sich die nichts­sagende Zahl auf. Eine un­bekannte Weite er­schließt sich dir und du wirst endlich vertraut sein mit dir und dem, was deinen Weg kreuzt. Verlangen und Nehmen gehören in den Raum, der dich umgibt, die verwirrten Gedanken werden vergehen. Es ist das schön­ste Stück der Erde, wohin sich jener lebendige Rest mei­­ner Asche ver­lor, der dein Ursprung ist …

Es ist ein eigentümliches Gefühl, aus seiner Woh­nung fortzugehen, noch ehe man sie in Besitz ge­nom­men hat.

Der Umschlaghafen Stadt, die Dreh­schei­be Bahn­hof, tun zum ersten Male ihre Pflicht.

Der Pilz, der den Blick auf sich zieht, spiegelt die röt­lichen Strahlen der Sonne, tiefer Schatten hüllt den Hort der Toten ein, das Raunen ihrer Stimmen ver­­­stummt.

Ein neuer Tag bahnt sich an …

Karelia

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