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Lossi

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Die Straße endet an einer steinernen Pforte. Hier hatte man einen Felsriesen gespalten, um hinunter zum Ufer des Sees zu gelangen. Sie ist in den Fels einge­graben und führt zur Anlegestelle ei­ner Fäh­re. Wer hinüber oder herüber will, benutzt die Fähre. Das Gefährt gleicht einem gewaltigen Floß, sechs Wagen finden auf ihm Platz, je drei hinter­einander. In der Mitte befindet sich seitlich ein kleines Häuschen, von hier aus bedient der Fähr­mann den tuckernden Motor. Ein Stahlseil hebt sich aus dem Wasser, grässlich quietschend zieht es sei­ne Last hinüber – herüber.

Es gibt den alten und den jungen Lossi. Der junge – immerhin auch ein Mann im besten Alter und Teil­nehmer an beiden Kriegen – fährt einmal im Monat in die Stadt. Sonst versieht er seinen Dienst, winkt die warten­den Wagen ein, gibt ein Hand­zeichen zum Halt – wenn nichts mehr geht – und lässt den Schlag­baum herunter, damit keiner den Wagen ins Was­ser lenke.

Der alte Lossi ist nur noch selten auf der Fähre.

Kälte und Hitze, Regen und harte Winde, klir­ren­der Frost und Staub haben die Gesichter der beiden Männer geprägt. Beim alten Lossi kann keiner recht sagen, wie lange er seinen Dienst schon versieht. Er ist zu einem Symbol geworden. Er spricht nur we­nig und dankt mit einem kaum wahrnehmbaren Kopf­nicken, wenn man ihn grüßt. Man könnte ihn für verbittert halten, für unzu­gänglich, solange man nicht in seine Augen blickt. Nicht allzu groß, funkeln sie hell und lebhaft, nehmen alles wahr, was um ihn herum geschieht, und offen­baren ein ver­schmitztes Lächeln. Man fühlt sich geborgen bei dem Alten – und geehrt, wenn er die Mechanik bedient. In sei­ner Heimat gilt er als Symbol für Kraft und Härte, Aus­dauer und Duldsamkeit. Alle in der Gegend kennen sei­nen Kummer, ohne dass er ihn je klagte: Er musste in den Kriegen auf sei­nem Posten ausharren. Man erklärte ihm, wie wichtig dies sei. Er nahm es zur Kenntnis, aber seine Selbstzweifel blieben.

Was tu ich schon für meine Heimat?, fragte er sich im-mer wieder. Lieber wäre es ihm gewesen, mit der Waffe in der Hand den Eindringlingen zu wehren, besonders, als der Feind immer näher rückte und er unerschrocken auf seinem Posten verharren musste … weil es so be­fohlen war.

Der Sohn ist das Ebenbild des Vaters. Er ist ver­schlossen wie er und ebenso zäh. Und doch ist er anders. Seine Augen wirken wie von einem Schleier bedeckt, wenn sein Blick die Passagiere streift oder über den See hin­gleitet, als ob er träumte …

Der Sohn heißt Pekka. Im Winterkrieg kämpfte er bei Kuusamo, im Fortsetzungskrieg weiter südlich. Viele ken­­nen ihn und rühmen seine Widerstands­kraft ebenso wie seinen Opfermut, den er vielfältig bewies.

Lass den Bären nur kommen, sagte er oft. Er wird uns in hundert Jahren nicht vernichten. Ich bin nicht der einzige Pekka – überall stehen Pekka und Pekka und Pekka; in den Wäldern und Sümpfen, mit dem Puukko in der Hand … lauernd.

Lass den Bären nur herein, sagte er. Er kennt die Pekkas noch lange nicht, er kennt nicht die Sümpfe und Laby­rinthe. Unsere Wurzeln wachsen besser, wenn sie das Blut des Feindes trinken.

Pekka war kein freudiger Krieger, aber dem, der in seine Heimat gewaltsam eindringen wollte, schwor er Kampf – und er hielt seinen Schwur, kämpfte bis zur letzten Patrone.

Er kam auf dem Fels am Wasser zur Welt. Es ist seine Welt und er bleibt allein der Natur vermählt, aus der er kommt. Seine Mutter wurde nicht sehr alt. Er wuchs beim Vater auf, der ihn schon früh lehrte, für sich selbst zu sorgen. Die Schule be­suchte Pekka in der nahen Stadt. Schon als Kind begann er im Fährdienst mitzu­helfen, um den Va­ter hin und wieder zu entlasten. Das war beson­ders an den Wochenenden der Fall, wenn das Gefährt pausenlos in Anspruch genommen war. Jetzt trifft er seine Schulgefährten nur dann wieder, wenn er sie hinüber- und herübersetzt … und nickt ihnen freund­lich zu. Keiner weiß, ob er wohl auch gerne einmal zum Tanz­boden mitgefahren wäre oder zu einem anderen Fest. Seine Wünsche behält er bei sich. Ja, es sieht so aus, als ob die Jahre, die ins Land gehen, die Menschen um ihn immer unwich­tiger machen; sie beschäftigen ihn kaum.

Doch nun ist das Ende des Fährzeitalters nah. Drüben

hinter dem Hügel wird ein neuer Weg in den Fels gegraben. Dynamitexplosionen zerreißen die Stille, Stein um Stein wird dem Fels entrungen und unweit des Fährwegs ins Wasser geworfen. Was zunächst wie plan­loses Beiseiteschaffen aussah, wächst allmählich als lan­ger, gerader Damm aus dem Wasser. Eine Brücke soll entstehen, die die beiden Ufer mitein­ander verbindet.

Oft stiert der alte Lossi wortlos auf den wachsen­den Damm. Pekka weiß, was das bedeutet: Das nahe Ende, denkt er, aber er scheut sich, diesen Gedanken weiter­zudenken. Ihm selbst ist es unvor­stellbar: keine Fähre mehr! Wie muss erst dem Vater zumute sein? Keiner spricht in Gegenwart des alten Lossi von der zu erwar­tenden Brücke.

Ein­­mal werden die langen Wartezeiten vorbei sein – aber ein Stück guter, alter Zeit auch!

Die Explosionen gehören seit langem zu den Selbst­verständlichkeiten hier. Trotzdem will das Don­nern des Dynamits sich nicht in die Landschaft einfügen; es ist anders als die Gewitter, deren schweres Rollen das ganze Rund des Horizontes erbeben macht.

Heute gibt der alte Lossi seinem Sohn einen Schlüssel und erteilt ihm einen Auftrag. Er soll ein altes Som­merhaus an der heiligen Bucht auf­schlie­ßen und in Ordnung bringen. Es liegt fernab im Wald, etwas abseits vom See, und war viele Jahre verwaist. Pekka soll auch im nahen Dorf beim Bauern Niemalää Holz einkaufen und für die Sauna zurechtmachen.

„Wem gehört das Haus?“, fragt Pekka.

„Es gehörte meinem Bruder“, du weißt, dem Profes­sor, der im Fortsetzungskrieg geblieben ist, irgend­wo bei Koli.“

„Und das Haus war immer unbenutzt?“

„Ja – ich habe es gehütet wie ein Geheimnis. Es sollte nichts verdorben werden.“

„Bist du jetzt der Eigentümer?“, möchte Pekka wissen.

„Nein! Natürlich nicht“, erwidert der Alte verwun­dert. „Deine Cousine, die du noch nicht kennst, ist die Erbin; sie ist ja die einzige Tochter des Profes­sors – und schon bald nach dem Krieg hat sie Finnland verlassen. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört – bis jetzt.“

Der Onkel muss wesentlich jünger gewesen sein als sein Vater, denkt sich Pekka. Er hat ihn nie gesehen. Und auch seine Cousine konnte er sich nicht vorstellen, noch wuss­te er, weshalb sie von Finnland fortge­gangen war. Dass sein Vater nie über das Haus oder den Onkel ge­sprochen hatte, wundert ihn nicht. Er kennt seine ein­silbige Wesensart und weiß, dass es keine Absicht ist, wenn er schweigt.

Pekka nimmt am nächsten Tag den Linienbus. Bei Kilometer 28 steigt er aus. Dann wandert er den vom Vater be­schriebenen Weg, der schnurgerade durch den Wald führt. Eintönig, ja etwas langwei­lig ist dieser stau­bige Weg, an dessen Rand in großen Abständen säuber­lich Holzstämme auf­geschichtet sind. Man sieht die Ar­beit hier, entdeckt aber niemanden, der sie tut.

Eine gute Stunde marschiert Pekka, bis sich der Wald lichtet. Das Gelände vor ihm fällt sanft ab, mattes Grün umsäumt eine weit ausladende Bucht. Es sieht so aus, als käme der See von draußen herein in die Geborgenheit zweier ausgebreiteter Arme – und Pekka genießt den Ausblick sehr. So weit hat er seinen See am Fährhaus noch nie gesehen – der kommt ihm eher wie ein riesiger Strom vor. Hier aber wird der See zum Norden hin immer größer, breitet sich wie ein Meer aus, da und dort abge­grenzt durch einen schmalen dunklen Strich, der auf waldgesäumte Inseln hinweist, die vor langer Zeit ent­standen sind.

Seine Gedanken führen ihn vergleichend zurück in die Zeit bei Suomussalmi während des Krieges: dort war der Himmel düsterer, die Wasser waren grauer, die Sonne nicht so strahlend, kein blendendes Gold. Eine wässrig kalte Scheibe, rollte sie über das unheimliche Land im Norden, damals, als er mit der Sonne wachte, im aus­gehenden Winter.

An diesem Abschnitt der Front wurde der Kampf stumm geführt; lautlos bohrten sich Puukkos in Men­schen­leiber, die man zuvor angespro­chen hatte, bei denen aber das Fremde in ihrer Sprache un­über­hörbar gewesen war … Unver­gessliche Wirk­lich­keit!

Dieser See hier kommt ihm wie ein Traumland vor. Unbeschreibliches bringt die Seele zum Schwingen, rührt an und versöhnt in beglückender Harmonie. Eine Weile geht er am Ufer entlang, bis sich der Pfad vom Ufer löst und auf eine kleine Anhöhe führt. Hier muss er acht- geben, dass er nicht irre­geht. Oben ange­kom­men erblickt er erneut den See. Etwas später erkennt er auch den breiten Sand­strand und das kleine Holzhaus, das nahe am Wasser inmitten einer Baumgruppe dün­ner Föhren versteckt daliegt. Auch die alte Sauna er­blickt er, ein stummer Zeuge vergangener Tage.

Bevor er in das Sommerhaus hineingeht, setzt er sich auf einen kleinen Felsen, direkt an der Bucht. Das Wasser ist spiegelglatt und die Stille spricht ihn an, dieweil sich die Sonne in flachem Bogen nach Nordwesten senkt, als ob sie hinter einem Waldstück verschwinden will. Aber sie schleicht drüber hin, versteckt sich nur zur Hälfte: Gleißendes Gold verwan­delt sich über alle Farb­töne in leuchtendes Purpur, je weiter der bren­nende Ball gen Norden wan­­dert. Eine Sinfonie der Farben breitet sich über die Fläche des Suur-Saimaa aus …

Pekka sitzt stumm da und starrt das Wunder an – erstaunt fragend blickt er auf seine Hände, die gefaltet in seinem Schoß liegen.

Ein kleiner Vogel, der lautlos ganz nah an ihn heran­gehüpft war, holt ihn mit seinen Piu–Piu-Lauten­ aus seiner Gedanken-Verlorenheit zurück. Eine kurze Weile entlockt er ihm ein verschmitztes Echo, bis der kleine Strandläufer auf und davon fliegt.

Auch Pekka erhebt sich, und als er den Blick zum Süden über den Wald wendet, sieht er zum ersten Male be­wusst, dass der wolkenlose Himmel sich dunkler färbt: Dem Süden droht die schwarze Nacht.

Das Spiel der Sonne, dieses nicht untergehenden Feuer­balls, durfte er noch nie so berauschend, träu­­merisch-beglückend und still erleben wie hier.

Die Zeit hört auf zu sein, wird zum Nichts! Der Raum verschlingt sie mit denen, die hierherfinden.

Karelia

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