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Der Brief war schon so oft gelesen und wieder zusammengefaltet worden, dass die Buchstaben direkt auf der Linie der Falz zur Hälfte verschwunden waren. Das Stück Papier lag sicher verstaut in seiner Umhängetasche, die er mit beiden Händen auf seinem Schoß festhielt. Er wollte nicht unhöflich sein und die Tasche auf den Nachbarsitz stellen. Genauso wenig wollte er seine Reisetasche in den Gepäckfächern des Zuges ablegen, wie es die meisten Mitreisenden mit ihren Koffern und Taschen taten.

Der Inhalt war für ihn zu kostbar, als dass er die Tasche für einen kleinen Moment aus den Augen lassen würde. Und dabei ging es ihm nicht im Geringsten um seine Kleidung oder das andere Reisezubehör, dass er vorsorglich für einen Aufenthalt von zwei Wochen mitgenommen hatte. Es war der Inhalt des Briefes gewesen, der vor vier Tagen in seinem Briefkasten gelandet war, für den er kurzfristig den halben Jahresurlaub bei seiner Chefin erbettelt hatte, um mit dem nächstmöglichen Zug von Göteborg nach Deutschland zu fahren.

Sein Ziel war Linberg, eine Kleinstadt in Deutschland von der er bisher noch nie etwas gehört hatte. Aber das spielte keine Rolle. Genauso wenig, wie es eine Rolle spielte, dass er nur ein kleines Zimmer in einer kleinen Pension buchen konnte, obwohl er sich für gewöhnlich mit nichts unter vier Sternen abgab. Für das Versprechen in dem Brief würde er um die halbe Welt reisen und dort campen. Der Inhalt des Briefes hätte auf eine Postkarte gepasst. Vielleicht sollte der anonyme Brief durch das Format eines am Computer geschriebenen Briefpapiers seriöser wirken als eine handschriftliche Postkarte mit Tiermotiv. Aber auch das wäre ihm egal gewesen.

Er musste nicht auf seinem Handykalender nachsehen, um zu wissen, dass sich der Tag des Verschwindens seiner besten Freundin aus Kindheitstagen vor wenigen Monaten zum neunten Mal gejährt hatte. In den ersten Monaten ihres Verschwindens hatte er noch intensiv nach ihr gesucht, doch mit jedem Tag ohne den kleinsten Hinweis, gab er mehr und mehr seine Hoffnung auf. Je länger er suchte, desto mehr hatte er das Gefühl, dass er nach jemandem suchte, den es nicht mehr gab. Denn als auch die offizielle Vermisstenanzeige bei der Polizei keinen Erfolg erzielen konnte, musste er sich an den Gedanken gewöhnen, dass seine Freundin einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war und er sie nie wieder sehen würde.

Der Brief begann mit der Frage, ob Interesse bestehe, seine alte Freundin Exxxxx Lxxxxx Fxxx, geboren am 05. Mai 1996, wiederzusehen. Es war irritierend, dass alles bis auf die Anfangsbuchstaben unkenntlich gemacht worden war, aber die Buchstabenanzahl ihrer drei Namen in Verbindung mit dem Geburtsdatum ließen kaum Zweifel übrig. Seit er denken konnte, hatten sie jeden 5. Mai miteinander gefeiert.

Aus einem inneren Drang heraus, hatte er zu einem Stift gegriffen und die fehlenden Buchstaben ergänzt; nur um sich selbst zu bestätigen, dass dort der Name seiner Freundin stehen sollte. Die nächsten Sätze gaben an, wann er sich wo einfinden solle, wenn er weitere Informationen und Beweise haben wolle.

In den vergangenen drei Nächten hatte er nicht viel geschlafen und auch diese Nacht war schon zur Hälfte vorbei, ohne dass er auch nur eine Minute Schlaf gefunden hatte. Nachdem er bereits siebenmal umgestiegen war, saß er nun im letzten Zug und würde in wenigen Stunden am Ziel ankommen. Die schwarze vorbeiziehende Leere hinter der Fensterscheibe wirkte beruhigend. Doch hartnäckige Gedanken hinderten ihn, tatsächlich Ruhe zu finden. Lebte sie doch noch oder erlaubte sich jemand einen makaberen Scherz mit ihm? In einem Moment war er vollkommen hoffnungsvoll, doch im nächsten holte er den Brief hervor, um zu sehen, ob es ihn tatsächlich gab.

Er blickte in die schlafenden Gesichter der anderen Passagiere. Würde er sie überhaupt wiedererkennen, wenn sie in diesem Augenblick vor ihm sitzen würde? Seine Erinnerung an ihre Gesichtszüge verblasste mit jedem Jahr mehr. Er widerstand kurz dem Drang, den Brief aus seiner Tasche zu holen und starrte stattdessen wieder aus dem Fenster in das tiefe Schwarz. Doch nach wenigen Minuten holte er das gefaltete Papier hervor und steckte es in seine Brusttasche. Auf diese Art fühlte er sich ihr näher. Als er an das letzte gemeinsame Treffen an ihrem Lieblingssee dachte, dauerte es keine fünf Minuten, bis er eingeschlafen war.

Das Ziada Projekt

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