Читать книгу Das Ziada Projekt - Enza Renkal - Страница 4

3.

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Abwesend schlurfte ich durch die Eingangstür meiner WG, warf den Rucksack in die Ecke und ließ die Türe hinter mir ins Schloss fallen. Normalerweise hatte ich nach einem erfolgreichen Zugriff und einer erfolgreichen Übergabe ein Lächeln auf den Lippen. Es war ein gutes Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Und es bedeutete den Rest der Woche frei zu haben. Zumindest mehr oder weniger. Es gab gewisse Verpflichtungen und Erwartungen.

Auch heute war alles erfolgreich gewesen, aber warum hatte das heutige Ziel meinen alten Namen gekannt, der selbst bei mir nur noch eine kleine schattenhafte Erinnerung war? Ich hob mein Armgelenk und blickte auf das heutige Datum. Heute vor neun Jahren, einem Monat und neunzehn Tagen war ich in einem sterilen, weißen Raum aufgewacht und mir wurde gesagt, dass ich mit sehr viel Glück einen schweren Unfall überlebt hatte und an einer retrograden Amnesie litt. Die Dinge, an die ich mich noch erinnern konnte, waren an einer Hand abzählbar. In meinem Kopf schwirrten damals nur noch der Name Emille Lillan Falk, ein Geburtsdatum aus acht Zahlen und ein paar Bilder, die ich nicht zuordnen konnte. Mir wurde gesagt, dass mein neuer Name Lilly Anders sei und ich für den Nabel arbeite. Meinen alten Namen sollte ich aus Sicherheitsgründen für mich behalten. Neuer Name, neue Identität, Neuanfang. Als ob ich irgendeine andere Wahl gehabt hätte.

Eine zweite Frage drängte sich mir auf. Warum kümmerte sich jemand aus dem Inneren Kreis um den Transport? Das stand den 2./ zu. Danach kam die Disposition, zu der Ric gehörte. Wir Sammler schafften es gerade mal auf die 6./. Die ganze Sache verwirrte mich so sehr, dass ich mehrere Stunden durch die Stadt gestreunt war, ehe meine Füße mich hierher getragen hatten. Ich schielte auf die Uhr in der Küche. Es war bereits Mittag.

»Bist du das, Lilly?«, hörte ich meine Mitbewohnerin aus dem Esszimmer rufen. Ich betrat das kleine Nebenzimmer der Küche, zog mir die Jacke aus und legte sie über den Stuhl.

»Hast du noch mehr Mitbewohner? Wer sollte dir sonst beim Mittagessen Gesellschaft leisten?«

»Wie war dein Tag? War viel los? Jetzt setze dich doch hin und bediene dich erstmal, ich habe eh wieder zu viel gekocht.«

Sie schob mir einen der Teller entgegen und ich nahm mir ebenfalls von den Nudeln. Marie hatte die Soße vergessen. Lecker. Sie dachte ich würde in einem Architektenbüro aushelfen. Sie wusste nicht, was ich in Wirklichkeit tat.

»Nein, nicht viel, ich werde die restlichen Tage vermutlich wieder von zu Hause arbeiten dürfen.«

Das war meine Erklärung dafür, dass ich bis zum nächsten Auftrag frei hatte und lediglich ein paar Sportstunden erfüllen musste.

»Hast du es gut. Bei uns in der Klinik ist gerade in den letzten Tagen ein extremer Zulauf. Deswegen muss ich gleich auch wieder zurück.«

»Okay. Wollen wir heute Abend einen Film zusammen schauen? Oder Kinoabend? Ich würde dich einladen.« Die Ablenkung könnte ich gut gebrauchen.

»Oh, das wäre schön. Aber ich habe von einer Kollegin die Spätschicht übernommen. Ich komme erst irgendwann nachts zurück. Aber das holen wir nach!«

Sie griff zu ihrer über der Stuhllehne hängenden Tasche, ihrem Kittel und winkte mir kurz zum Abschied, bevor sie sich noch eine letzte Fusilli stibitzte.

Ich nahm meinen Teller, holte mir am Kühlschrank einen Spritzer Tomatenketschup, und setzte mich auf unseren kleinen Balkon. Während ich in den Hof unter mir starrte, aß ich die Nudeln schneller als nötig auf. Es war erst kurz nach 13 Uhr und so wie es aussah, würde ich den restlichen Tag allein verbringen. Den leeren Teller neben mir auf dem Boden abstellend, streckte ich mich und richtete den Blick in die Ferne über die Hausdächer.

Woher kannte das Ziel meinen alten Namen? Die Frage, die sich hartnäckig in meinem Kopf verankerte, wollte beantwortet werden und ich musste mich nicht anstrengen, alle Erinnerungen an den Vormittag noch einmal Revue passieren zu lassen, da Gehirntraining schließlich zu unserer Ausbildung gehörte. Und aufgrund meines Unfalls hatte ich hier viele Extrastunden aufgebrummt bekommen, obwohl ich nicht wirklich das Gefühl hatte, dass mein Gedächtnis besonders schlecht war. Es war nur der Unfall an sich und alle Ereignisse davor, die wie wegradiert waren.

Doch da gab es nichts, was mir bei meiner Antwort helfen konnte. Ich hatte nichts übersehen. Nichts an dem Ziel kam mir bekannt vor. Nicht sein Aussehen, nicht seine Art zu sprechen, nicht seine Mimik und auch nicht seine Gestik. Der einzige Anhaltspunkt war Edward Parker. Er war die Unregelmäßigkeit. Eine 1./ als Transporter. Das war nicht nur lächerlich, das war in erster Linie verdächtig.

In einem spontanen Impuls schnappte ich mir meinen Teller, stellte ihn in die Spülmaschine und verschwand in meinem Zimmer, um mir meine Sportsachen anzuziehen. Sport war das perfekte Alibi. Uns wurde nahe gelegt in unser tägliches Sportprogramm Joggen einzubauen, da wir dafür nicht auf den Nabel angewiesen waren, aber für uns konzipierte Sportgeräte und auch ein eigenes Schwimmbecken waren im Nabel. Eigentlich wollte ich morgen meinen Sporttag absolvieren, aber da ich nicht regelmäßig im Nabel Sport machte, würde es nicht auffallen, wenn ich heute schon da wäre. Ich packte in meine Tasche eine Flasche Wasser, ein Handtuch und frische Klamotten und machte mich zu Fuß auf den Weg.

Ric hatte uns empfohlen, dass wir an fünf verschiedenen Stellen in der Stadt sogenannte Assistenzen verstecken sollten. Pakete, die ein wenig Bargeld, Medikamente, eine Wolldecke und eine Flasche Wasser beinhalteten. Damit man in Notfällen wenigstens eine Grundausrüstung hatte. Ich ging nicht den direkten Weg zum Nabel, sondern nahm ein paar Abzweigungen, um meine eigenen Assistenzen auf Vollständigkeit zu überprüfen. Es kam immer wieder vor, das Obdachlose schlecht versteckte Assistenzen fanden und auch wir untereinander bestohlen uns gelegentlich. Das war vom Nabel sogar erwünscht. Denn nur so waren wir – so formulierten sie es zumindest – motiviert, uns regelmäßig darum zu kümmern. Fünf Assistenzen erschienen mir zu wenig, allein auf meinem Weg zur Zentrale kam ich an sieben vorbei und alle waren noch vollständig und dort, wo ich sie vor Wochen versteckt hatte.

Ich hatte meine Pakete noch mit haltbaren Lebensmitteln und Klamotten ergänzt. In einem Assistenzpaket waren ein gefälschter Reisepass und Personalausweis, die mich ein dreiviertel Jahreslohn gekostet hatten. Dazu kam noch ein Autoschlüssel von einem etwas älteren Volvo, der aber zuverlässig ansprang und mich im Notfall aus Linberg bringen würde. Mit all meinen Assistenzen könnte ich problemlos zwei bis drei Jahre untertauchen. Zumindest in meiner Vorstellung.

Gerade als ich das letzte Versteck kontrolliert hatte, das sich – versteckt hinter einem losen Stein – unter einer Brücke befand, bemerkte ich jemand hinter mir. Ich wirbelte herum und fühlte mich ertappt. Als ich in das bekannte Gesicht meines besten Freundes blickte, entspannte ich mich.

»Leander! Was schleichst du dich so an mich heran?!«, rief ich empört, aber viel zu vergnügt, als dass er mich ernst nehmen könnte.

»Assistenzüberprüfung?«, fragte er und blickte über meine Schulter.

Ich rollte die Augen. Für dieses Paket müsste ich mir jetzt eigentlich ein neues Plätzchen suchen, aber Leander würde mich niemals bestehlen. Außerdem war es nur ein Standardpaket von denen ich noch zahlreiche andere hatte.

»Auf dem Weg zum Sport«, erwiderte ich mit einem Wink auf meine nicht zu übersehende Tasche.

»Okay, habe ich schon hinter mir. Aber um dich seelisch zu unterstützen, würde ich dich begleiten. Du bist doch meine liebste Vite.«

Ich funkelte ihn wütend an, denn ich hasste es, wenn Leander mich genauso nannte, wie es Moretti zu tun pflegte.

»Nenn mich nicht so!«

Er ging einen Schritt nach hinten. Wenn ich wütend war, ging er immer in Deckung, als befürchte er, dass ich ihm körperliche Schmerzen zufügen würde. Und das führte dazu, dass mein Ärger verflog. Zumindest meistens und so auch heute.

»Schon gut, Leander. Wäre cool, wenn du mitkommst.« Ich hakte mich bei ihm unter und zog ihn mit.

»Wolltest du nicht morgen Sport machen? Wir waren doch für morgen verabredet?«, fragte er mich mit einem misstrauischen Blick.

»Was du heute kannst besorgen«, erwiderte ich.

»Dass verschiebe nicht auf morgen«, ergänzte er mich. »Ich habe heute aber auch schon eine extra Schicht Joggen gemacht. Kopf frei bekommen. Du glaubst nicht, was ich heute morgen für eine merkwürdige Zielerfassung hatte.«

Das machte mich hellhörig. »Was denn?«

»Frank und Eric, die sonst immer für den Transport zuständig waren …«

»… waren nicht da? Ja. Das habe ich heute auch schon erfahren müssen«, unterbrach ich Leander.

Er runzelte die Stirn. »Was? Nein. Die waren schon da. Aber die sahen ziemlich zugerichtet aus. Als wären sie in einer heftigen Prügelei gewesen. Und stumm wie zwei Fische. Wie kommst du auf die Idee, sie wären nicht da gewesen? Es gibt nichts Zuverlässigeres als die Beiden.«

Ich blieb in der Hoffnung stehen, dass dies helfen würde, meine Gedanken zu sortieren. Wenn ich jemandem mittlerweile vertraute, dann war das Leander. Aber sollte ich ihm wirklich von meinem Vormittag erzählen? Ich beschloss seine Fragen zunächst zu ignorieren und weitere Antworten zu bekommen. Ich ging weiter.

»Wann war das denn?«, fragte ich.

»Ganz früh heute morgen. Habe mitten in der Nacht die Koordinaten bekommen. Es hatte noch nicht einmal angefangen zu dämmern. Und das Ziel war nicht auffindbar. Dass habe ich auch so weitergeleitet und trotzdem kamen die Transporter. Das hatte ich noch nie.«

Ich notierte für mich selbst: Kein Ziel, trotzdem Transport. Fehlerhafte Kommunikation? Das konnte ich so gut wie ausschließen.

»Lilly?«, holte mich mein Freund aus den Gedanken.

»Ja?«

»Was ist los?« Diesmal blieb er stehen und ich gezwungenermaßen auch. »Wieso meinst du, Frank und Eric wären nicht da gewesen?«

»Bei mir waren sie es nicht. Mein Ziel hat heute Morgen jemand anderes geholt.«

Er riss die Augen auf. »Wie bitte? Wer kam stattdessen? In unserem Bezirk sind seit wir vor neun Jahren rekrutiert wurden, immer die beiden Männer für uns zuständig gewesen!«

Ich wurde leiser. »Ich weiß nicht, ob ich das sagen sollte. Ich … hatte selbst eine so konfuse Zielerfassung, dass ich erst selbst ein paar Antworten brauche, bevor ich da weiter drüber reden kann.«

Leander rollte mit den Augen und wir setzten uns wieder in Bewegung. »Du bist mal wieder in deiner Ich-Phase, Lilly. Fang bitte mal wieder ein wenig mit dem Wir-Denken an. Du bist nicht so allein, wie du immer vorgibst.«

Ich zog meinen Arm demonstrativ weg, starrte ihm in seine dunkelbraunen Augen und blieb erneut stehen. In dem Tempo würden wir es erst morgen in den Nabel schaffen.

»Wir sind alle die einsamsten Menschen auf diesem Planeten. Wir sind nur die kleinen Marionetten von großen Leuten, die wir noch nie gesehen haben. Wir sind austauschbar. Wir sind nichts. Kleine Schrauben, die bestimmt irgendwann entsorgt werden, wenn sie nicht mehr funktionieren. Sind das genug Wir-Gedanken?«

Ich wusste, dass ich Leander gerade unfairerweise als seelischen Mülleimer benutzte, doch es war gerade das Ventil, dass ich brauchte.

»Was ist bei deiner Zielerfassung passiert?«, fragte Leander hartnäckig weiter.

Ich wandte den Blick ab und starrte stattdessen auf den Boden. »Das Ziel kannte meinen Namen. Er kannte meinen alten Namen.«

Ohne aufzusehen spürte ich, wie Leander sich versteifte. »Du meinst den Namen, den du als Kind getragen hast?«

Ich nickte und heftete meine Augen weiter auf die Pflastersteine unter mir. Nach einer kurzen Pause hörte ich wieder seine Stimme. »Und hast du ihn erkannt?«

Mein Kopfschütteln musste Antwort genug sein.

»Vielleicht war es einfach eine Verwechslung?«

Wieder schüttelte ich meinen Kopf, aber diesmal musste ich mich näher erklären. Nicht einmal Leander kannte meinen ehemaligen Namen.

»Glaube mir, das ist nicht im Bereich des Möglichen. Mein alter Name war ungewöhnlich und selten. Diesen Zufall kann es nicht geben.«

»Okay. Aber dann hat er vermutlich keine große Rolle in deinem früheren Leben gespielt. Amnesie hin oder her, man würde sich doch an bestimmte, wichtige Personen bestimmt erinnern, wenn man sie wieder sieht? Wenn du dich nicht an ihn erinnern kannst, war es in der Vergangenheit bestimmt nur eine kurze Begegnung. Nichts von Bedeutung damals und deswegen auch heute nicht von Bedeutung.«

Ich hob meinen Kopf und suchte seine Augen. »Aber es muss eine Bedeutung haben, sonst wäre dieses Ziel heute nicht von einer 1./ abgeholt worden!«

Leander lachte lauthals auf. »Einer 1./? Niemals!«

Mit dieser Reaktion war ich mehr als zufrieden. Sie bestätigte all meine Gedanken. Es bestätigte, wie weit die Begegnung mit Edward Parker jenseits der Norm lag.

»Es ist aber so. Deswegen bin ich auf dem Weg zum Nabel. Ich will wissen, wieso ich heute Vormittag das erste Mal in meinem Leben einer 1./ begegnet bin.«

Okay, das war es dann mit der Überlegung, alles für mich zu behalten. Mein Freund blickte mich fassungslos an und brauchte ein paar Augenblicke, die richtigen Worte zu finden.

»Jemand aus dem Inneren Kreis holt ein Ziel ab, dass dich offenbar kennt? Und du willst da jetzt selbst recherchieren? Wenn dem so ist, würde ich die Füße stillhalten. Mit denen willst du dich doch nicht anlegen. Du weißt ganz genau, dass ich selbst noch nie Kontakt zum Inneren Kreis hatte. Keiner von uns Sammlern ist jemals diesen Leuten begegnet. Woher weißt du überhaupt, dass es jemand von ihnen war?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich überlasse doch niemandem mein Ziel, den ich nicht kenne. Als es nicht Frank und Eric waren, habe ich nach der Kennung gefragt.«

Wieder lachte Leander auf. »Dein Selbstbewusstsein hätte ich manchmal auch gerne.«

Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich eine Vibration an meinem Handgelenk spürte. Es war eine anonyme Nachricht.

In 10 Minuten in Raum 0.384.

Ich hob meinen Kopf und sah wie Leander auch auf seine Uhr blickte.

»Sport müssen wir verschieben. Ich soll in zwanzig Minuten in Raum 0.381 sein«, meinte er verwirrt.

»Ich muss in zehn Minuten auch im Nabel sein. Drei Räume weiter.«

»Scheiße Lilly, was geht hier vor sich?«, murmelte er leise. »Ein Ziel, dass dich kennt. Jemand aus dem Inneren Kreis als Transporter und jetzt werden wir beide in den Nabel zitiert mit zehn Minuten Abstand, als wollten sie nicht, dass wir voneinander mitbekommen, dass wir dort sind? Sie können doch schlecht wissen, dass wir uns hier zufälligerweise getroffen haben. Oder?«

Leander musterte nun nervös die Umgebung. Ich packte den Gurt meiner Tasche fester.

»Du vergisst jetzt alles, was ich dir erzählt habe. Hörst du? Kein Wort darüber. Du warst gerade Joggen, als du die Nachricht bekommen hast. Wir haben uns letzte Woche Donnerstag das letzte Mal gesehen.«

Ich wandte mich bereits von ihm ab, um nicht zu spät im Nabel zu erscheinen. Ich wollte mich davor wenigstens noch umziehen und mich nicht in den Sportklamotten präsentieren.

»Lilly«, hörte ich seine Stimme, die mittlerweile ein Flüstern war. »Viel Glück.«

Ich erwiderte den Wunsch und ging zielstrebig zum Nabel.

Das Ziada Projekt

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