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4.

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Es war wie ein Déjà-vu. Als ich mich nach dem Unfall vor neun Jahren körperlich einigermaßen erholt hatte und mich im Nabel wieder zurückmelden sollte, war ich genauso unruhig und nervös gewesen wie jetzt. Nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Ich massierte meine Schläfen und beschwor vor meinem inneren Auge das Bild eines großen Sees herauf. Der See war meine einzige lebhafte Erinnerung an mein vergangenes Ich, meine Vergangenheit, meine Zeit vor dem Nabel. Der See war umgeben von einem dichten Wald. Ich spürte die Kieselsteine unter meinen nackten Füßen. Das Geräusch der kleinen Wellen, die am Ufer ausliefen, war so gleichmäßig, dass ich bald meinen eigenen Atem danach richtete und mich entspannte. Ich hatte nur dieses eine klare Bild. Andere Erinnerungen waren nur Fetzen, die mit jedem Jahr mehr verblassten. Ein Geburtstagskuchen mit neun oder zehn Kerzen und die schemenhaften Umrisse von einem Jungen und einem Mann in einem dunklen Kiefernwald.

Die Mühe, herauszufinden, was das für ein See war, hatte ich mir nie gemacht. Weder wusste ich, wann ich dort war, noch hatte ich eine Ahnung, wo sich dieser See befand. Ich hielt nur an dem Glauben fest, dass es eine reale Erinnerung war und das reichte mir.

Die Lampe links neben der Türe zu Raum 0.384 wechselte von rot auf grün. Ich durfte und sollte nun eintreten. Die Sporttasche im Flur liegen lassend, drückte ich langsam die Klinke hinunter und betrat den dahinterliegenden, fensterlosen Raum. In der Mitte stand ein Tisch mit zwei Stühlen, von denen einer bereits von einem Mann mittleren Alters besetzt war. Die Wände waren weiß gestrichen, nur an der Wand hinter dem Mann hing ein großer Spiegel. Mit Sicherheit ein Einwegspiegel.

»Schließen Sie bitte die Türe und setzen Sie sich mir gegenüber«, forderte mich der Mann auf und ich tat ihm den Gefallen.

Ich war geneigt, meine Arme vor der Brust zu verschränken, aber das hätte Unsicherheit ausgestrahlt, also platzierte ich sie auf den Armlehnen und versuchte, mich entspannt hinzusetzen.

»Mein Name ist Dr. Martin. Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, die Sie mir vollständig und ehrlich beantworten werden. Verstanden?«

Wer war dieser Dr. Martin? Ich hatte ihn noch nie gesehen. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, ihn nach seiner Kennung zu fragen, doch hier im Nabel war ich bei weitem nicht so selbstsicher wie draußen auf den Straßen, die mir genauso vertraut waren, wie jede einzelne Ecke und Kante in meiner eigenen Wohnung. Ich nickte und er fuhr fort.

»Fangen wir mit einer einfachen Frage an. Wie heißen Sie?«

Ich runzelte die Stirn. An sich war das tatsächlich eine einfache Frage, aber ich hatte heute so eigenartige Begegnungen bezüglich meines Namens gehabt, dass ich bereits jetzt angespannt war. Doch ein kurzer, schneller Gedanke an meinen See brachte mich wieder zur vollen Entspannung.

»Lilly Anders.«

»Wie alt sind Sie?«

»25.«

»Wann wurden Sie geboren?«

Ich blickte auf den Tisch zwischen uns. Mein Gegenüber hatte vor sich die Hände verschränkt. Er hatte weder eine Notiz, auf der seine Fragen standen, noch hatte er die Möglichkeit, meine Antworten zu notieren. Wir wurden definitiv beobachtet, wenn nicht sogar aufgezeichnet. Darauf verwettete ich mein wertvollstes Assistenzpaket.

»5. Mai 1996.«

»Wo sind Sie geboren?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo sind Sie aufgewachsen?«

Jetzt blickte ich wieder in die Augen von Dr. Martin. »Das weiß ich auch nicht. Wieso stellen Sie mir Fragen, die Sie sich selbst beantworten könnten, wenn Sie einen Blick in meine Akte werfen würden?«

Dr. Martin lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht seine Augen. »Sie sind sicher verunsichert, wenn ich Fragen stelle, die Sie nicht beantworten können. Dafür habe ich Verständnis. Um auszuschließen, dass sich mittlerweile neue Erinnerungen ergeben haben, müssen wir diese Fragen stellen. Können Sie mir denn sagen, wie Sie aufgewachsen sind?«

»Mir wurde gesagt, dass ich in einem Kinderheim aufgewachsen bin. Auch das steht in meiner Akte.«

Ich musste mich wirklich beherrschen. Die Fragen waren lächerlich. Was für Erinnerungen sollten nun plötzlich da sein? Mir wurde damals zwar auch gesagt, dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass sich die retrograde Amnesie in Teilen zurückbilden könne, aber je länger der Zustand andauere, desto unwahrscheinlicher wäre es. Als mich Marie vor einigen Jahren in einen Kinofilm über ihre Lieblingsautorin Astrid Lindgren zerrte und der Film in der Originalsprache lief, hatte ich erstaunt erkannt, dass ich die eingeblendeten Untertitel nicht benötigte, sondern Schwedisch konnte. Diese neue Information behielt ich jedoch für mich. Nach dem Unfall war ich mit dem Gefühl aufgewacht, dass jeder andere mehr über mich wusste als ich selbst. Der Moment der Erkenntnis, dass ich eine andere Sprache konnte, war das erste Mal, dass ich mich nicht mehr gläsern fühlte, sondern wie eine echte Person mit eigenen echten Erinnerungen. Und wenn es nur die Tatsache war, dass ich schwedisch verstand und konnte.

»Waren Sie nach Ihrer Abholung noch einmal in diesem Kinderheim?«, fragte Dr. Martin weiter.

Ich runzelte die Stirn. Wo sollten diese Fragen hinführen? »Nein. Ich weiß nicht, wo dieses Kinderheim ist.«

Dr. Martin schien mit meiner Antwort zufrieden zu sein und das beunruhigte mich.

»Es ist gut, wenn Sie keine neuen Erinnerungen haben. Die würden Sie nur aufhalten, im Hier und Jetzt zu leben«, erklärte Dr. Martin.

Wohl eher im Hier und Jetzt zu funktionieren und für die Institution zu arbeiten. Dass traf es wahrscheinlich viel mehr, aber diesen Gedanken behielt ich für mich.

»Würden Sie mir bitte Ihren alten Namen mitteilen?«, versuchte Dr. Martin betont gleichgültig zu fragen, aber ich wusste sofort, dass wir jetzt bei der Frage waren, wieso ich überhaupt hier war. Darum ging es also. Es ging um mein Ziel heute früh. Darum, dass er mich erkannt hatte und nun die Überprüfung stattfand, welche Verbindung es gab. Entweder hatte das Edward Parker in die Wege geleitet oder aber das Ziel hatte eine lockere Zunge und weiterhin behauptet, mich zu kennen.

»Nein, das werde ich nicht. Das widerspricht den Richtlinien des Nabels.«

Ich hatte nie gedacht, dass mir die Richtlinien des Nabels einmal helfen würden. Meine Güte war ich damals als sechzehnjähriges Mädchen unmotiviert das Kleingedruckte zu lesen, aber ich hatte mir doch die Mühe gemacht. In den Richtlinien war klar formuliert, dass die frühere Vergangenheit keine Rolle mehr spielt und der ursprüngliche Name abgelegt und durch einen neuen, selbst gewählten, ersetzt wird. Kurz vor dem Unfall hatte ich mich wohl, so wurde es mir zumindest erzählt, für den Namen Lilly Anders entschieden. Der alte Name wiederum sollte nirgends auftauchen, um mögliche Rückschlüsse nicht zuzulassen. Ohne die echten Namen konnten andere Behörden mit unseren Akten nichts anfangen. Sollten sie überhaupt jemals in die Hände von Fremden fallen.

Die Augen meines Gegenübers verengten sich minimal. »Es wäre für Sie besser, wenn Sie kooperieren würden. Es ist sehr vorbildlich von Ihnen, dass Sie unsere Richtlinien so gut kennen und auch umsetzen, aber … ein gegenwärtiger … Vorfall, zwingt uns zu diesen Schritten. Ich wiederhole mich also: Würden Sie mir bitte Ihren alten Namen mitteilen?«

Ich lehnte mich leicht nach vorne und kopierte die Position von Dr. Martins verschränkten Händen. »Auch ich wiederhole mich sehr gerne für Sie. Ich werde Ihnen meinen Namen nicht verraten. Ihnen nicht und auch nicht denjenigen, die uns gerade durch diesen hübschen Spiegel beobachten. Ich vermute mal, dass dort Edward Parker steht? Hat er Sie beauftragt, diese Fragen zu stellen?«

Wieder erschien dieses unechte Lächeln auf den Lippen von Dr. Martin. Er schwieg.

»Dr. Martin, wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, würde ich mich nun gerne verabschieden.«

Er widersprach nicht, also stand ich auf. Ich hatte bereits die Türklinke in der Hand, drehte mich aber noch einmal um. Ich warf einen Blick in den Spiegel und suchte dann die Augen von Dr. Martin.

»Das Gespräch mit Leander Lehmann wird Ihnen nicht weiterhelfen. Auch er kennt meinen alten Namen nicht. Da haben Sie wohl ein paar Minuten Ihres Lebens verschwendet. Einen schönen Tag noch.«

Ich schloss die Türe hinter mir, griff nach meiner einsamen Sporttasche und machte mich auf den Weg nach draußen. Die Lust auf Sport war mir gehörig vergangen.

Die Beine über der Mauer baumeln lassend, die Hände hinter mir abgestützt, schielte ich über meine Schulter auf Hausnummer 14 des Johann-Dryander Platzes. Das Gebäude des Nabels war kubisch im Bauhausstil errichtet worden und die Glasvorhangfassade gab das Gefühl von Transparenz und Freiheit. Doch das war, im wahrsten Sinne des Wortes, nur eine Fassade. Der Nabel war eine geschlossene Institution, bei der so gut wie nichts nach außen getragen wurde. Die oberirischen vier Stockwerke, die von der Disposition besetzt wurden, waren vielleicht noch vorzeigbar und nicht sonderlich anders als die Nachbargebäude, doch die richtigen Geschäfte liefen in den Räumen unterhalb des Erdgeschosses ab. Und genau dort saß immer noch Leander.

Während ich nach wenigen Minuten draußen war, wartete ich jetzt schon eine dreiviertel Stunde auf meinen Freund. Was fragten sie ihn? War Dr. Martin nach unserem Gespräch zu Leander gegangen und hatte ihn ausgefragt? Über mich? Was machten sie mit ihm?

Ich richtete den Blick wieder nach vorne auf den Fluss. Auch ein Fluss verursachte einen gleichmäßigen Klang, aber das Geräusch eines Sees war sehr viel entspannender.

Würden sie es wagen auch zu körperlichen Bestrafungen zu greifen, um ihn zum Reden zu bringen? Ich hatte noch von keinem Sammler gehört, dass der Nabel solche Maßnahmen tolerierte, aber andererseits, wer würde denn offen darüber sprechen? Was wusste ich eigentlich über die Menschen, die im Inneren Kreis saßen? Was sie sich dachten, wie sie uns Sammler, und vor allem die Ziele, aussuchten? Ich legte einen imaginären Notizzettel an. Wer führte den Nabel? Nach welchem Muster wurden die Ziele ausgesucht? Was passierte danach mit den Zielen und wer war das Ziel heute Vormittag? Wieso gab es nun dieses Interesse an meiner Vergangenheit, insbesondere meinem Namen?

Mir kam eine Aussage von Dr. Martin in den Kopf. Um auszuschließen, dass sich mittlerweile neue Erinnerungen ergeben haben, müssen wir diese Fragen stellen. Nun, jetzt würde ich beginnen, meinerseits Fragen zu stellen. Und ich würde Antworten bekommen. Ich wollte anfangen, aktiv nach Erinnerungen zu suchen. Und da er mich geradewegs auf das Kinderheim angesprochen hatte, würde ich genau dort ansetzen. Mein nächstes Ziel hieß nun Emille Lillan Falk. Ich war mein eigenes Ziel und würde nun alles über mein altes Leben herausfinden.

Hochmotiviert griff ich nach meiner Sporttasche und wollte bereits aufstehen, als ich Schritte auf dem Kies hinter mir vernahm. Doch entgegen meiner Erwartung, dass es Leander sein müsse, war es Ric.

»Ciao, Vite. Gut, dass ich dich noch hier sehe. Dachte, du wärst schon weg«, entgegnete Ric mit seiner rauchigen Stimme.

Ich stand auf. »Ich bin so gut wie weg.«

»Nein, du bleibst noch ein bisschen. Setz dich wieder«, forderte er mich auf, doch ich blieb stehen.

»Was willst du von mir? Ich möchte nach Hause.«

Er ignorierte meine Ablehnung und setzte sich seinerseits auf die Mauer.

»Dann stehst du eben, während ich mit dir spreche.«

Oder ich gehe einfach, dachte ich mir, aber ich blieb stehen. Er war schließlich mein direkter Vorgesetzter. Konnte er mich eigentlich kündigen, wenn ich nicht gehorchte? Was passierte mit uns Sammlern, wenn wir nicht mehr funktionierten? Noch mehr Fragen für meinen Notizzettel.

»Du hattest gerade ein Gespräch mit Dr. Martin. Was wollte er von dir?«

»Dass ich vollständig und ehrlich seine Fragen beantworte.«

Ric reagierte gereizter als gedacht. »Anders, was zur Hölle hat er von dir gewollt? Mit Dr. Martin ist nicht zu spaßen. Ich versuche dir hier gerade wirklich nur zu helfen. Was hat er dich gefragt?«

»Nichts von Belang. Das waren nur allgemeine Fragen. Die Antworten stehen eigentlich alle in meiner Akte. Ist wohl zu faul zum Lesen.«

Ric musterte mich misstrauisch. »Jetzt setz dich gefälligst hin, wenn du nicht möchtest, dass ich einen steifen Hals bekomme.«

Ich überlegte kurz. Es war äußerst verlockend, gerade deswegen jetzt stehen zu bleiben. Mein Chef schien meine Gedanken zu erraten, denn er seufzte und fügte ein Bitte hinzu. Das erwärmte mich wenigstens etwas und ich setzte mich wieder auf die Mauer und stellte meine Sporttasche zwischen uns. Eine Art Sicherheitsabstand konnte nicht schaden.

»Was für allgemeine Fragen hat er gestellt?«

»Okay, in Ordnung, Ric. Ich beantworte dir deine Frage und im Gegenzug bist du mir auch eine Antwort schuldig.«

»Kommt drauf an.«

Ich schüttelte meinen Kopf. »Nein, es kommt nicht drauf an. Irgendetwas sagt mir, dass du dich nicht aus reiner Nächstenliebe um mein Gespräch mit Dr. Martin kümmerst. Du willst unbedingt eine Antwort von mir, auch wenn ich dein Interesse daran eigenartig finde. Wenn du etwas von mir willst, verurteile mich nicht dafür, dass ich meine Vorteile daraus ziehe. Du würdest es genauso handhaben, wie ich es gerade tue.«

Er hob die Augenbrauen. Es war eine Mischung aus Überraschung und Stolz. Er konnte seinen Schützling nicht für etwas verurteilen, was er ihm selbst beigebracht hatte.

»Alles hat seine Grenzen. Ich werde im Rahmen meiner Möglichkeiten deine Frage beantworten. Eine Frage, Vite. Wir wollen nicht übertreiben.«

Damit war ich eigentlich schon zufrieden, aber ich hatte Lust zu pokern.

»Du hast recht, wir wollen nicht übertreiben. Deswegen werde ich dir auch einfach nur eine Antwort geben. Ist nur fair. Es gab zwar zahlreiche Fragen von Dr. Martin, aber …« Ich beendete meinen unvollständigen Satz mit einem Schulterzucken.

»Alle Fragen«, entgegnete Ric hartnäckig und fügte eilig versprechend hinzu, dass ich dafür zwei Fragen stellen konnte, die er beantworten müsse. Zufrieden mit meinem Verhandlungsgeschick wollte ich gerade meine erste Frage stellen, als Riccardo mich mit einer Handbewegung unterbrach.

»Erst bekomme ich die Hälfte der Fragen von Dr. Martin«, insistierte mein Chef.

In meinem Kopf ging ich die Fragen von Dr. Martin durch. Die erste Hälfte war nicht interessant. Ich konnte Ric ruhig den Vorrang lassen.

»Gut, ich nenne dir die ersten vier von insgesamt acht Fragen. Er fragte mich nach meinem Namen, meinem Alter, meinem Geburtsdatum und Geburtsort.«

Die erwartete Reaktion von Unzufriedenheit, da dies sicher nicht die Fragen waren, die Ric erwartet hatte, blieb von meinem Gegenüber aus.

»Okay und was hast du auf diese vier Fragen geantwortet?«

Ich war in der Laune, ihm den gleichen Satz ins Gesicht zu werfen, den auch schon Dr. Martin von mir gehört hatte. Dass er gefälligst in der Akte lesen solle. Aber ich hatte mir für heute schon genug bei Ric herausgenommen und sollte vernünftig sein.

»Dass ich Lilly Anders heiße und 25 Jahre alt bin. Dass ich am 5. Mai 1996 geboren bin, aber nicht weiß wo.«

Rics Gesicht zeigte keinerlei Regung und da er still blieb, ging ich davon aus, dass ich nun am Zug war. Was wollte ich wissen? Die Liste war lang, über meine Prioritäten war ich mir noch nicht sicher. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, einfach mit der ersten Frage meiner Liste zu beginnen, aber meinem Mund entwich dann doch eine andere Frage.

»Was passiert mit den Zielen nach ihrem Transport?«

Die Antwort dieser Frage interessierte mich schon seit neun Jahren. Keiner im Nabel konnte oder wollte mir die Frage je beantworten. Auch Moretti hatte mir damals in der Ausbildung keine vernünftige Antwort geben können. Dass er aber überhaupt nicht wusste, was der Nabel mit den Zielen machte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Doch heute war es eine andere Situation. Ric hatte mir eine Antwort versprochen. Trotzdem blieb mein Chef eine Weile still. Es war also definitiv eine der Fragen, von denen wir Sammler keine Antwort kennen sollten. Das war nicht mehr unser Gebiet. Es ging uns nichts an. Ohne es zu wollen, hatte ich Ric verraten, dass ich auf der Suche nach Antworten war. Antworten, die nicht für meine Ohren bestimmt waren.

»Sie werden an einen sicheren Ort gebracht und medizinisch durchgecheckt. Die Ziele kommen nicht zu Schaden. Mehr kann ich nicht sagen. Du bist wieder an der Reihe.«

Ich brauchte einen kleinen Augenblick, bevor ich seiner Aufforderung Folge leisten konnte. Erst mussten die neuen Informationen abgespeichert werden. Sicherer Ort, darüber musste ich in einem ruhigen Moment nachdenken. Gab es einen sichereren Ort als den Nabel? Waren die Ziele hinter uns irgendwo hinter Mauern und Türen? Medizinischer Check, den hatten wir Sammler auch alle durchlaufen müssen. Der Nabel wollte Krankheiten ausschließen und wissen, auf welchem sportlichen Niveau wir uns befanden, um uns entsprechend fördern zu können. Das war der erste Schritt der Ausbildung gewesen. Kaum war ich aus dem Krankenhaus entlassen worden, musste ich mich im Nabel vorstellen und weitere medizinische Checks durchlaufen. Hier schloss sich also die Frage an, ob auch die Ziele eine Art Ausbildung bekamen. Die Ziele kommen nicht zu Schaden. Wieso musste Ric das explizit sagen? Kamen andere Gruppen aus dem Nabel zu Schaden? Oder wollte er mich einfach nur beruhigen? Viel zu viele Fragen für den Augenblick. Ich kehrte ins Hier und Jetzt zurück.

»Dr. Martin hat mich gefragt, wo ich aufgewachsen bin. Nachdem ich die Frage nicht beantworten konnte, hat er sie umformuliert und gefragt, wie ich aufgewachsen bin. Auf meine Antwort, ich sei in einem Kinderheim aufgewachsen, folgte die Frage, ob ich noch einmal in besagtem Kinderheim war. Auch das musste ich verneinen.«

Hier legte ich eine Pause ein. Eine Frage fehlte nun noch und zu meinem Bedauern fiel dies auch Ric auf. Er forderte mich höflich, aber nachdrücklich, auf, weiterzusprechen.

»Er wollte meinen alten Namen erfahren.«

Ric sah mich erst entgeistert an und sprang dann auf.

»Was zur Hölle erlaubt er sich? Das kann er nicht! Das darf er nicht! Scheiße, Anders, sag mir, dass du ihm nicht deinen alten Namen verraten hast!«

»Es widerspricht den Richtlinien, also nein, ich habe ihm diesen Gefallen nicht getan.«

Das beruhigte den Italiener ein wenig. »Wenigstens etwas. Dann hast du den Papierkram damals wohl doch gelesen. Weiß irgendjemand hier im Nabel deinen Kindernamen?«

Ich schüttelte den Kopf und musste dabei an Leander denken. »Niemand, aber sie haben auch Lehmann nach unten in den Keller bestellt. Drei Räume weiter.«

Jetzt wurde aus dem roten wütenden Gesicht meines Chefs ein bleiches. »Sicher? Woher weißt du das?«

Ich überlegte kurz, entschied mich dann aber für die Wahrheit. »Wir haben uns zufälligerweise getroffen, als wir beide die Nachrichten auf unsere Uhren bekommen haben.«

»Und wo ist Lehmann jetzt?«

Nun würde ich einen steifen Hals bekommen, wenn ich nicht aufstehen würde, also rappelte ich mich auf und schulterte meine Sporttasche. »Er ist noch nicht herausgekommen. Ich warte hier jetzt schon fast eine Stunde.«

Riccardo fluchte etwas Unverständliches auf Italienisch und wandte sich dann wieder an mich.

»Du gehst ohne Umwege sofort zu mir nach Hause. So wie ich dich kenne, weißt du wo ich wohne und Zugang findest du bestimmt auch. Ich meine es ernst, Lilly. Keine Widerworte. Nicht jetzt. Ich hole Lehmann da jetzt raus.«

Geschockt starrte ich Ric hinterher, wie er mit eiligen Schritten zum Nabel lief. Seine Anweisung war mehr als deutlich und natürlich wusste ich, wo Ric wohnte. Mein siebzehnjähriges Ich war damals auf der Suche nach neuen Verstecken für Assistenzen gewesen, als ich plötzlich auf dem Balkon von Rics Dachgeschosswohnung stand.

Wenn mein Freund gerade in Gefahr war, dann würde ich einen Teufel tun und einfach verschwinden, um mich in dieser stickigen, nach Zigaretten stinkenden Wohnung zu verstecken. Ich versuchte Ric unauffällig zu folgen, doch ich kam nicht weit. Als ich laute Stimmen aus dem Eingangsbereich vernahm, ging ich hinter den Mülltonnen in Deckung.

»Ich wusste davon nichts, Moretti. Du kannst dir sicher sein, dass ich die Angelegenheit selbst untersuchen werde«, sagte eine Stimme, die ich erst heute Morgen zuletzt gehört hatte. Edward Parker.

Ich vernahm von Ric ein verächtliches Schnauben. »Verarschen kann ich mich selbst. Dr. Martin sitzt direkt unter dir. Lilly Anders zu neuen Erinnerungen zu befragen ist das eine, aber wieso werden andere Sammler auch noch in die Sache verwickelt? Wieso sollte Lehmann irgendetwas dazu wissen? Wenn er jetzt nicht mehr im Nabel ist, wo ist er dann? Ich kann mit Sicherheit sagen, dass er nicht aus dem Haupteingang raus ist.«

Ich schielte zwischen den Tonnen hindurch und sah, wie die beiden Männer wenige Meter vor dem Eingang stehen blieben.

»Von einer Befragung wusste ich nichts. Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich hier nicht nur so übertrieben aufregen würdest, sondern mir auch noch ein paar Details verrätst. Sonst kann ich in der Sache auch nichts unternehmen. Was hat Lilly Anders dir erzählt?«

»Übertrieben aufregen? Wenn du wüsstest, was für Fragen gestellt wurden! Vollkommen unangebracht!«, redete sich Ric in Rage. »Kümmere dich lieber darum herauszufinden, wo Lehmann ist. Ich verliere keinen meiner Sammler. Und glaube ja nicht, dass ich den Vorfall so stehen lasse. Ich werde nun selbst Nachforschungen betreiben. Wenn ich Leander Lehmann nicht bis Ende der Woche wiedergesehen habe, betrachte ich meine Verschwiegenheits-erklärung als nichtig an.«

Der letzte Satz schien einen wunden Punkt ausgelöst zu haben, denn Parker schien nun in der Tat nervös.

»Du weißt, dass du dann dem Nabel verwiesen wirst.«

»Sì, das ist mir aber gerade ziemlich egal. Wenn es um meine Sammler geht, verstehe ich keinen Spaß. Bis Ende der Woche sehe ich Lehmann wieder. Man sieht sich.«

Ich duckte mich tiefer, als sich Ric von Parker abwendete und in meine Richtung kam. Aufmerksam achtete ich darauf, nicht von ihm gesehen zu werden. Der Richtung nach zu urteilen, war er auf dem direkten Weg nach Hause. Um dann herauszufinden, dass ich dort nicht war. Ich drehte mich wieder um, doch Parker war bereits weg.

Bewegungslos blieb ich einige Minuten hocken und überlegte, was ich nun machen sollte. Edward Parker hatte entweder gut gelogen oder er wusste wirklich nichts. Es bestand auch die Möglichkeit, dass es das Ziel selbst war, das ein weiteres Mal nach mir gefragt hatte. Das wiederum hatte zur Folge, dass entweder Dr. Martin direkten Kontakt zu den Zielen hatte oder es einen Mittelsmann gab, der die Informationen weitergeleitet hatte. Aber Moretti wusste mehr, als er zugab. Ich war mir sicher, dass es irgendeine bisher unbekannte Verbindung zwischen ihm und Leander gab. Ric hatte einen Beschützerinstinkt gegenüber seinen Sammlern, die er vor Jahren – als er selbst noch Ausbilder war – selbst herangebildet hatte. Für Leander jedoch würde er seine Verschwiegenheitserklärung ignorieren und sich aus dem Nabel schmeißen lassen. Aber wieso?

Ich stand auf und fiel in einen leichten Laufschritt. In dem Tempo müsste ich es vor Riccardo zu seiner Wohnung schaffen. Er sollte schließlich nicht wissen, dass ich ihn belauscht hatte. Meine zweite Frage würde ich nicht einfach so verfallen lassen. Eigentlich wollte ich ihn fragen, aus welchem Kinderheim mich der Nabel abgeholt hatte, denn mit dieser Information wäre ich einen großen Schritt weiter auf der Suche nach mir selbst. Stattdessen würde ich Moretti fragen, was er über Leander Lehmann wusste. Und danach, mit dem hoffentlich ergiebigen neuen Wissen, würde ich meinen Freund unversehrt finden. Das Ziel von heute früh und auch mein altes Ich, beides musste warten. Meine Priorität hieß nun Leander.

Das Ziada Projekt

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