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ZWEITES KAPITEL

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Wenn die Vergangenheit aus heitren Büchern lacht,

wird uns das Heute hell.

Welch eine Lust, zu leben. Martha und Emil kannten das Wort Ulrich von Huttens, und wären sie gefragt worden, sie hätten geantwortet, es drücke ihr jetziges Lebensgefühl aus. Zwar ist dies der übliche Zustand von Verliebten, doch es gab einiges, das nicht gerade lustig genannt werden konnte. Martha hatte es vor den Eltern nicht verheimlicht, dass sie "mit Emil ging". Julius und Luise begannen einen gezielten Kleinkrieg dagegen, und - erreichten das Gegenteil. Zwei fortschrittlich zu nennende Leute, verfielen sie dennoch demselben Fehler, den vor ihnen unzählige Eltern machten. Es wollte nicht in ihren Kopf, dass ein angeschwärzter Geliebter für die Liebende nur um so heller glänzt. Warum hätte es bei -Martha Saupt anders sein sollen? Wie würde sie, Martha, reagiert haben, hätte Emil ihr eines Tages Lebewohl gesagt mit der Begründung, sie sei seinen Eltern nicht genehm? Sie fand die Gründe ihrer Eltern nicht stichhaltig. Zu deutlich war deren Enttäuschung, dass ihre Älteste sich "dem erstbesten an den Hals geworfen" hatte. So bastelten sich die alten Saupts aus übertriebener Vorsorge eine prächtige Sorge, die sich auswuchs zur heftigen Abneigung und später wandelte zum Hass.

Ein derartiger Hass musste dem um zwei Lebensalter jüngeren Rudolf unverständlich sein. Wir erfuhren schon, dass er die Großeltern in den Mittzwanziger Jahren besuchte, und sehen nun, warum es ihm die Lust zu weiteren Begegnungen auf Jahre hinaus verdarb. Die anfangs stockende und konventionelle Unterhaltung geriet bald in ein unschönes Fahrwasser. Großmutter Luise begann mit Episödchen und Stückchen über Emil Treulich, dessen Name nicht über ihre Lippen kam, und sie beendete ihren hämischen Bericht: "Das war der feine Herr, der leider dein Vater geworden ist." Als er die heftige Abwehr in Rudolfs Gesicht sah, nahm der Großvater das Wort. Emil Treulich sei ein zügelloser Ichmensch gewesen, mit einem Wort, ein gewissenloser Lump, der ihnen nicht nur die Tochter gestohlen habe, er sei auch schuld an ihrem Tod. Rudolf war empört. Des Vaters Sterbestunde stand wieder vor ihm, eine tiefe Narbe war aufgerissen worden. Er schrie es den beiden Alten in die Ohren. Ich kenne meinen Papa besser, ich habe mit ihm gelebt, er ist der beste Vater der Welt gewesen. Als Rudolf die Tür hinter sich zuwarf, hatte er Tränen in den Augen.

Es wurde Martha bald zur Gewissheit, dass sie sich entscheiden musste. Das war nach einer heftigen Auseinandersetzung, in der die Älteste den Eltern vorgeworfen hatte: "Ihr seid ungerecht! Gegen Erna, gegen Emil, gegen mich!"

Die verblüfften Gesichter erzürnten sie erst recht. "Eure Hoffnungen habt ihr immer an mich gehängt, immer nur Martha, Martha, Martha. Ist Erna weniger wert, weil sie fünf Jahre jünger ist?"

Die abwiegelnde Geste des Vaters stimmte sie nicht versöhnlicher. "Ihr kennt Emil nur als Kneipenbesucher. Wisst ihr, was er im Beruf leistet? Was er für den Verband tut? Welche Begabungen in ihm stecken? Woher nehmt ihr das Recht, ihn zu verurteilen?"

Die Mutter öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Martha kam ihr zuvor. "Ist das denn wahre Elternliebe, wenn ihr tut, als sei ich ein unreifer Backfisch? Traut ihr mir überhaupt nichts zu, keinen guten Einfluss auf einen Mann, der mich liebt?"

Martha rannte aus dem Zimmer, sie kannte die Antworten bis zum Überdruss, und sie fühlte sich im Recht. Jede Zeit hat ihre Jugend-Rebellion. Überzeugt stritt Martha für sich und ihre Liebe, doch ihr Aufbegehren war auch Teil des allgemeinen Aufbegehrens der Jungen, das seit der Jahrhundertwende in vielfältigen Formen rumorte, im "Wandervogel", der Gemeinschaft aufmüpfiger Kinder des Groß- und Kleinbürgertums, oder in den Jugendbildungsvereinen der Arbeiterschaft.

Martha hätte gelächelt über solche Gedanken. Politik und Herzensangelegenheiten, was hatten die miteinander zu tun? Sie gehörte keinem Jugendbildungsverein an, obwohl einmal wöchentlich im kleineren Vereinszimmer einer tagte. Von dessen Vorhandensein wusste Martha so gut wie nichts, keiner hatte gewagt, die Wirtstochter für den Beitritt zu gewinnen. Anders dagegen die Klassenkameradinnen Marthas aus dem Lyzeum, Ilse und Olga, die irgendeinem Bund wandernder Mädel angehörten. Sie hatten Martha aufgefordert, an einer Fahrt ins Schlaubetal teilzunehmen. Der Schar munterer Mädchen mit Wimpelspeer, Lauten und Geigen fiel es nicht schwer, ihrem Gast die Wanderung zum Erlebnis zu machen. Junisonne lachte, die Gegend war romantisch in ihrer grünen Wildnishaftigkeit. An einem einsam gelegenen Waldsee wurde beschlossen, Mittagsrast zu machen und zu baden. Martha sagte, dass sie keinen Badeanzug mithabe, und die Mädchen Emmi und Isolde sagten es auch. Dagegen schauten die andern sieben kampfentschlossen, besonders die Wortführerin Ilse. Hier sei man vor unbefugten Augen sicher, ihr Körper lechze danach, endlich einmal wieder unbekleidet in die silberne Flut zu tauchen. Schließlich hätten sie es bisher öfter so gehalten. Während dieser energischen Darlegung löste Ilse das schwarze Samtmieder, stieg aus dem buntbestickten Bauernrock und befreite sich flink auch vom übrigen "Zivilisationsplunder". Martha schaute woanders hin. Sie sah trotzdem, Ilse war bildschön, und das besiegte keineswegs ihren Widerstand. Ilse belehrte sie, nur Spießerheuchelei könne der Grund sein, wenn eine Evastochter es ablehne, sich frei dem Sonnenlicht darzubieten. Gern hätte Martha etwas Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob sie ein Spießer sei, aber da wateten schon die ersten Mädchen lachend, kreischend und spritzend ins klare Nass. Sie zögerte noch immer, obwohl sich inzwischen auch Emmi und Isolde den Badenden zugesellt hatten. Ilse steckte ihre langen, schweren Zöpfe zum Kranz und bemerkte gnädig, natürlich würde niemand gezwungen, etwas zu tun, was er verachte.

Unsinn, dachte Martha ärgerlich, weshalb sollte ich verachten, was man in der Badewanne als selbstverständlich betrachtet. Schnell wie selten war sie aus den Sachen und mitten unter den Schwimmenden.

Es war mehr als ein kühner Sprung ins kalte Wasser, es war jugendliches Aufbegehren gegen dumpfe Ängste vergangener Zeiten, die Mädchen empfanden es als ein Stück Befreiung. Martha gab ihnen recht, und es beunruhigte sie, dass zugleich auch Beklemmung in ihr war.

Die Angelegenheit machte Martha auch noch auf andere Art zu schaffen. Sie gestand sich ein, dass sie Ilse um ihre Überlegenheit beneidete. Es ist eine Erklärung, aber kein Trost, fand sie, dass Ilses Eltern schwerreiche Leute sind. Aber was macht einer, der arm ist? Da gibt es nur eins, Mangel an Geld und Gut wettmachen durch Geist und Gaben. Emil bewies es, einer kann sich Achtung erringen, ohne Macht und Reichtum zu besitzen. Emil hatte sich nicht durchgeboxt zu jenen, die im Wohlstand leben, indem sie ihre lieben Mitmenschen ausnutzen. Selbst bezahlter Angestellter der Kollegenschaft zu sein, war seiner Selbstachtung zuwider gewesen. Martha glaubte ihm, dass er mehrmals Gelegenheit gehabt hätte, von seiner ehrenamtlichen Funktion in eine hauptamtliche zu wechseln. Natürlich musste die Verbandsarbeit getan und also auch honoriert werden. Die "Bonzen" besaßen sein Mitleid. Was für ein Opfer, vom interessanten Beruf überzuwechseln zu öder Büroarbeit. Das Argument, dass dafür Existenzsicherheit und Lebensstellung winkten, belächelte Emil. Produktive Arbeit brauche er als Lebenselement. Mit Hand und Kopf zu wirken, nur das schenke ihm Schaffenslust.

Martha sah dies so wie Emil, und es brachte sie einander noch näher.

Einige Monate nach der Osterfeier der "Typographia" verlobten sie sich. Da war weder Leichtfertigkeit von der einen noch raffinierte Verführungskunst von der anderen Seite im Spiel. Martha war überzeugt, irgend wann müsse eine Frau ihre Liebe auch körperlich beweisen. Sie besuchte Emil in seinem Logis, wissend, wie taktvoll dessen Zimmerwirtin war. Das war auch nötig, Martha hatte genug andere Hemmnisse zu überwinden, und es sei gesagt, nach fraulichem Versteckspiel, gekrampften Scherzen und geglückten Zärtlichkeiten geschah dann, was sich beide gewünscht hatten.

Von nun an versuchten sie die Ursachen aufzuspüren für Eigenschaften, die dem andern nicht gefielen. Da gab es Emils noble Art, mit Geld umzugehen, die Martha von Anfang an kritisch vermerkt hatte. Sie war der Meinung, wer nicht über Millionen verfüge, habe Grund, mit seinen Groschen hauszuhalten. Geld bedeutet vergegenständlichte Anstrengung, die Achtung davor heißt Sparsamkeit. Wenn Emil von seiner Kindheit und Jugend erzählte, fanden sich unschwer auch Ursachen seiner Generosität. Not als nackte Existenzbedrohung hatte er nicht kennengelernt. Sein Vater Fritz Treulich war in früher Jugend aus Ostpreußen nach Berlin gekommen und hatte hier Mathilde gefunden, die, aus derselben Provinz stammend, genau wie der Fritz nur die Herrschaften getauscht hatte. Draußen hatte sie als Magd gedient, hier war sie Dienstmädchen; Fritz, vorher Kutscher eines adligen Herrn, war nun Kutscher bei einem Rollfuhrunternehmen. Wie Tausende mit ihnen, fühlten sie sich anfangs verlassen in der lauten, verrückten Stadt - und gingen dennoch nicht zurück. Fritz und Mathilde heirateten, bester Schutz gegen das Einsamsein, und nun fühlten sie sich schon ein kleines bisschen als Berliner. Der erste Junge kam. Als er sprechen gelernt hatte, sprach er fließend Berlinisch, die Eltern lernten es von ihm und fühlten sich noch ein bisschen mehr als Berliner. Das ging viermal so, in etwa Zweijahresabständen wurden die Treulichs mit Knaben beschenkt, bis dann der Gott der Fruchtbarkeit Einsehen zeigte und endlich ein Mädchen durchgehen ließ, die Mathilde, die zum Unterschied von der Mutter Tilla gerufen wurde. Tillas Eltern benahmen sich nun schon, als seien sie uralte Berliner. Der Ostpreußenton, unverkennbar in seinem gemächlichen Singsang, war fast völlig abgeschliffen vom schnell-frechen Berlinisch.

Die Siegermilliarden nach dem Deutsch-französischen Krieg schwemmten eine Woge hektischer Rührigkeit in die nüchterne Hauptstadt, und selbst für den letzten Dienstmann fielen noch Brosamen vom Tisch der behänden Wundertäter, die das französische Gold zum allmächtigen Zauberstab werden ließen. Es wurde gebaut wie nie zuvor. Die Maurer, Zimmerleute, Putzer, Hucker und Klempner schufteten nun im Akkord, und sie brauchten nicht mehr anschreiben zu lassen und zahlten ihre Schulden bei den Bäckern, Schlächtern, Grünkramhändlern, Schneidern und Schuhmachern. Das Ganze nannte sich Handel und Wandel, das große Geld heckte Mehrwert, und der Mehrwert heckte neue Verdienstmöglichkeiten. Auch für Fritz Treulich. Er sagte dem Rollfuhrunternehmen Valet und wurde Kutscher für Ziegel, Sand und Kalk. Weil sich jetzt der Arbeitstag lohnte, wurde er verdoppelt und zählte nun sechzehn Stunden. Da blieben immerhin noch acht Stunden zum Schlafen. Manchmal brachte der älteste Sohn Wilhelm das Mittagessen, manchmal Mutter Mathilde. Wenn sie den Überstundenkutscher Fritz trösten wollte, wehrte er ab. Beim Herrn von Wenzendorff sei er auch meist sechzehn Stunden auf den Beinen gewesen, für noch nicht mal ein Dankeschön. Jetzt müsse er zwar meist hurtiger dran, doch dafür bekomme er vom Chef einen Lohn, von dem er in Ostpreußen nicht einmal zu träumen gewagt hätte.

Die Treulichs wurden direkt großkotzig und zogen von der Kellerwohnung ins Hochparterre. Die neue Wohnung hatte drei Zimmer, Innentoilette mit Wasserspülung, eine richtige Korridortür mit Zugklingel sowie Gasanschluss für Zimmerlampen nebst Gaskocher. Die Portiersverpflichtung war für Mathilde gedacht, denn eine Mutter mit nur fünf Kindern und im besten Alter, wird die sich etwa auf die faule Haut legen? Die Treulichs verließen sich da mehr auf sich als auf den lieben Gott, obwohl sie beim Grafen stets pünktlich hatten zum Kirchgang antreten müssen. In Berlin besuchten sie dann keine Kirche mehr, obschon es nicht wenig Gotteshäuser gab, evangelische, katholische, jüdische, die Schrippenkirche der Heilsarmee und den Barackentempel der Guttempler. Fritz Treulichs Motto lautete: Ich wünsche nichts vom lieben Gott, also schulde ich ihm nichts. Dies nun war ein Irrtum, denn jedes Jahr kassierte der Staat die Kirchensteuer. Auf die harte Frage, weshalb Fritz aus dem Verein nicht austrete, gestand er: "Vor der letzten Konsequenz hat man eben Schiss." Das -nackte Selbstbekenntnis suchte er dann zu bemänteln mit dem Scherz: "Man weeß eben nich, wat wir nich wissen, und villeicht is 'n Juthaben an höchster Stelle ooch nich schlecht." Wie auch immer, nachweisbar war in keiner der offiziellen Kirchen gebetet worden, der Herr möge dieses neue Sodom und Gomorrha Berlin züchtigen. Trotzdem fuhr Gott mit Feuer und Schwefel - bildlich gesehen - unter die Sippschaft der Jobber, Wechselfälscher, Zinsprofiteure, Bankrottspezialisten und Luftschlossarchitekten. Da gab es groß Geschrei und Wehklagen, manch Neureicher ward wieder arm, Leute aus Villen und Prachtbauten kamen über Nacht an den Bettelstab, und die kiebigsten Hasardeure schossen sich eine Kugel in den schlauen Kopf.

Etliche Großkopfete waren wirklich klein geworden, stellte Fritz Treulich fest, etliche aber noch größer. Vielleicht war es ein Trost, dass die Armen nichts verloren hatten, denn wer kein Geld hat, kann es nicht verlieren. Die Kleinen guckten trotzdem in die Röhre, obwohl die Gründerzeit Berlin groß gemacht hatte, räumlich gesehen. Einst kleine Stadtbezirke waren angeschwollen wie Kürbisse auf Mistbeeten. Häuserzeilen um Häuserzeilen waren emporgeschossen, die Straßenzüge ähnelten Schluchten und die Höfe Verliesen. Denn die Mietskasernen waren weniger zum Wohnen gebaut worden, sondern mehr als Kapitalanlage. Dieses neue, größere Berlin war mit blanken Händen hochgemauert worden, im forschen Rhythmus, "een Steen - een Kalk". Die Randbezirke, wie Rixdorf oder Wedding, waren nun Stadt, richtige Großstadt, die Wohnhöllen, die Wohnhöhlen und die erträglichen Wohnungen bevölkerten sich, und haste nich jesehn, war Berlin zur größten Proletarierstadt des Deutschen Reiches, Fritz Treulich aber arbeitslos geworden. Tausende neben ihm zogen das gleiche Los. Über Nacht entstand die berühmte Reservearmee, den Unternehmern wie vom Himmel gefallen, den preußisch-deutschen Behörden ein Gräuel, da es eine Minderheit von Widerborsten in dieser Armee gab. Die Mehrheit bestand aus Leuten wie Fritz Treulich. Sie wussten noch gar nicht, dass sie Proletarier waren, träumten den Traum, mit Fleiß und Spucke könne man sich einen bescheidenen Wohlstand schaffen. Fritz Treulich hätte es nicht wahrhaben wollen, dass in ihm noch immer ein Stück Untertan steckte, weil es keineswegs genügt, dem gnädigen Herrn nur mit den Beinen davonzulaufen. Warum träumten er und unzählige Soldaten jener Reservearmee nicht den größeren Traum: Appell an alle Beschäftigungslosen zur großen Parade auf dem Tempelhofer Feld! Sie dachten an keinen Appell, und das schenkte ihnen ruhigen Schlaf. Nicht aber dem Herrn von Bismarck. Krautjunker und Schlotbarone wussten nur zu gut, ihr "Eiserner Kanzler" war ihnen beim Blick in die Zukunft immer drei Nasenlängen voraus. Dem Fürsten mit der untrüglichen Witterung für eigene und Klassenvorteile war keinesfalls entgangen, dass nicht alle Angehörigen jener Armee schliefen, auch nicht alle, die zufällig noch eine Arbeitsstelle hatten. Auch bei denen wurde aufgemuckt. Wahlen zeigten es, die Demonstrationen und die Streiks. Darum bescherte der Fürst 1878 dem Deutschen Volk das Sozialistengesetz, und im gleichen Jahr bescherte das Schicksal den Treulichs einen Sohn. Die Eltern gaben dem Nachkömmling den Namen Emil. Die Geschwister Treulich waren anfangs betroffen von der späten Ankunft eines Brüderchens, doch wie es meist zu gehen pflegt, um so höher schoss dann die Geschwisterliebe ins Kraut. Emil gedieh zum aufgeweckten Knaben, der unbewusst von den Vorteilen des Spätgekommenen profitierte. Er begriff schnell und lernte viel, denn mit keinem andern der Treulichjungen hatte man sich so viel abgegeben wie mit ihm. In reichlichem Maße genoss er Nestwärme, ein damals ungebräuchliches, dabei so treffendes Wort. Die Großen befassten sich mit ihm weniger aus Pflichtgefühl, eher weil er ihnen Spaß machte. Gar manches wurde dem Kleinen zugesteckt, was sich die Geschwister vom Munde abgespart hatten. Das Familienbudget erholte sich recht langsam von den Auswirkungen der Gründerzeitskandale, und Fritz Treulich stöhnte manches Mal, vier Stunden auf Arbeitssuche zu gehen sei schlimmer, als sechzehn Stunden zu schuften. Er hatte dann immer öfter Aushilfskutscher spielen dürfen, meist bei einem Fuhrunternehmen für Umzüge, bis er dort fest eingestellt wurde. Der gemächliche, aber doch spürbare Umschwung schien den bescheidenen Traum Fritz Treulichs vom bescheidenen Wohlstand zu rechtfertigen, zumal er bald merkte, einem Kutscher konnte nichts Besseres passieren, als bei einer Umzugsfirma beschäftigt zu sein, die hauptsächlich Aufträge von den "feinen Leuten" aus dem Westen der Stadt bekam. Die Gutsituierten entdeckten fast immer, dass sie mancher Dinge längst überdrüssig waren, und sie gaben meist noch ein Trinkgeld dazu, verpflichtete sich der Fuhrmann, das Überflüssige auf den Müll zu expedieren. Fritz Treulich aber hatte Abnehmer unter Trödlern, Pfandleihern, Antiquitätenhändlern und Antiquariaten, rettete manches auch für Freunde, Verwandte und Bekannte. Es war ein warmer Regen, ein dünner zwar, doch ließ sich davon etwas besser leben. Ein freundlicher Kutscher und sorgsamer Möbelverstauer musste man sein, dann blieb, wenn der Möbelwagen voll war, genau übrig, worauf man bei Besichtigung der Wohnung ein Auge geworfen hatte. Das konnte eine Stechpalme sein, ein blühender Oleander oder irgendeine andere Topfpflanze, die meist schon vom kooperierenden Gärtner bei Fritz Treulich bestellt worden war. Bedauernd wies dann der brave Kutscher auf das übrig gebliebene gute Stück und fragte treuherzig, ob es die Firma mit dem Handwagen zur neuen Wohnung nachbringen solle. Da war plötzlich den Eigentümern der bisher liebevoll gehegte Zimmerschmuck lästig, und wenig später tauchte einer der vier flüggen Söhne mit dem Handwagen auf und karrte das schnöde Zurückgelassene zu jenem Gärtner.

Einer nach dem andern entwuchsen die älteren Brüder den Schuljungenhosen, und der Vater gab sie in eine Lehre, getreu dem alten Spruch: Handwerk hat goldenen Boden. Emil wuchs zu einem hellen Jungen heran, und nicht selten wurde er jetzt zum Handwagenschieben mitgenommen. Eifrig bemühten sich die Brüder, dem jüngsten die nötigen Schliche beizubringen, doch Emil fand diese Gaunerkomödien unwürdig. Die Brüder tippten sich gegen die Stirn. "Wer so penibel is, der kommt zu nischt." Emil widersprach, auch wer ehrlich bleibe, müsse nicht verhungern. Max, Emil um fünf Jahre voraus, ärgerte sich. "Ach, du Klugscheißer, hast denn du schon mal Kohldampf jeschoben?"

Eindringlich berichtete er, was es heißt, mit knurrendem Magen in den Abfällen der Markthalle nach Essbarem zu stöbern, einen Apfel vom Obststand zu klauen oder eine Schrippe aus dem Brötchenkorb eines Bäckers. Emil hörte es nicht zum ersten Mal, war aber weniger von der Darstellung des Hungers beeindruckt als davon, wie der die Moral ins Wanken zu bringen vermochte. Er fand es scheußlich, dass ein knurrender Magen einen Menschen verändert. Um so verstockter schwor er sich, lieber verhungern zu wollen, als andern etwas wegzunehmen. Die Brüder fanden sich mit dieser sonderbaren Denkart irgendwann ab und meinten, wer gute Zensuren nach Hause bringe und in vielen andern Dingen ein fixer Junge sei, dem müsse man schon eine Narrheit nachsehen. Weniger leicht nahm es Vater Fritz. Er liebte besonders seinen Jüngsten, und gerade deshalb befürchtete er, der müsse mit solcher Pingeligkeit unter die Räder kommen. Manchmal ereiferte er sich so, dass Mutter Mathilde dazwischen ging, ein Junge wie Emil habe krumme Touren nicht nötig. Das sei es ja eben, begehrte der Vater auf, je fixer einer ist, desto leichter müsste es ihm fallen, das Glück ein bisschen zu korrigieren. Natürlich nur, wenn das Auge des Gesetzes gerade woanders hinschaut.

Mutter Mathilde machte auf solche Weisheiten hin eine abschätzige Geste, zog Emil ins andere Zimmer und sprach begütigend auf ihn ein. Leider sehe der Vater viel Unrechtes bei den Leuten mit Geld, und das mache auf die Dauer konfus. Trotzdem solle Emil sich von seinen redlichen Grundsätzen nicht abbringen lassen. Ein verschwundener silberner Löffel habe schon manchen ins Gefängnis gebracht. Wer dort lande, sei gezeichnet, und aus dieser Bredouille komme keiner mehr raus. Das war mehr zweckmäßig als moralisch gedacht, vielleicht aber half es trotzdem etwas. Das eigentliche Geheimnis, warum Emil so beharrlich das Steckenpferd der Rechtschaffenheit ritt, kannte niemand. Man hätte ihn eine Leseratte nennen können, wenn darunter nicht ein Kind verstanden würde, das ständig hinter dem Ofen hockt und in die Bücher starrt. Er war das Gegenteil, ein Hansdampf, einer der Anführer im Kietz bei allen Spielen und Streichen. Trotzdem las er viel. Ob es nun die stilleren, bedächtigeren Romane waren oder aufregende Abenteuergeschichten, immer gab es Helden, die für das Gute kämpften. Ihre Redlichkeit machte sie stark, und wenn sie unterlagen, dann gingen sie mit Anstand unter. Emils Fantasie machte sie zu lebenden Vorbildern, ihre Grundsätze brannten sich ihm ein, und daraus erwuchsen eigensinnige Auffassungen wie: Was mir nicht gehört, darf keinerlei Erwägungen zulassen, was man damit anfangen könnte. Wie frei und überlegen machte dagegen das Nachsinnen darüber, was man sich selbst schaffen, erwerben oder erobern kann. Anfangs waren es Knabenwünsche, wie die Kommandogewalt über die Straßenclique. Das raue Klima ringsum sorgte bald für die Erkenntnis, dass Träume nur der Anfang sind. Sollen sie Wahrheit werden, muss man etwas tun. Da gab es den Cliquenpfiff auf fünf Fingern, wer den nicht beherrschte, kam nicht in die Clique. Emil übte wochenlang, sogar das Lesen kam darüber zu kurz, doch er ließ nicht locker, bis er auf einem, zwei, drei, vier und fünf Fingern pfeifen konnte.

Ehe sich's die Familie versah, befand sich der Emil im letzten Schuljahr und ward zum Problem: Wer weiß eine Lehrstelle?

Dreißig Jahre später sah es für Emils Sohn Rudolf nicht anders aus, obwohl sich das Firmenschild des Staates geändert hatte. Es hieß noch immer: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Dass es manchmal hilfreiche Leute gibt, macht die Sache weniger trostlos. Im Fall des Emil war es der älteste Bruder Wilhelm, der bei der Suche nach einer Lehrstelle fündig wurde. Wilhelm hatte in Friedrichshagen auf einer Bootswerft gelernt und war bald ein gesuchter Mann. Als Besitzer einer Segeljolle trat er einem Segelklub bei, dessen Mitglieder zu den "besseren Leuten" gehörten, wie der Volksmund verallgemeinernd die besser Verdienenden nennt. Wilhelm war der einzige Arbeiter, aber auch der einzige Fachmann im Klub und gern gelitten, getreu dem Spruch: Der Zimmermann im Haus erspart die Axt. Es ist bequem, am Sonntagabend um eine Instandsetzung bitten zu können, von der man weiß, dass sie am kommenden Wochenende ausgeführt sein wird. Einer der "Stammkunden" Wilhelms im Klub war der Prokurist Herr Muser, von der Schriftgießerei Gursch im Südwesten Berlins. Von ihm erfuhr Wilhelm Treulich, was die Schriftgießerei bedeutet, was ein Schriftgießer verdient und dass die Firma Überdurchschnittliches fordere, wenn sie Lehrlinge einstelle. Wie nebenhin erzählte Wilhelm dem Bruder, was er von Herrn Muser alles über die Schriftgießerei erfahren habe. Dass ein angehender Schriftgießer ein aufgeweckter Kopf und belesener Mensch sein müsse. Diese geschickt geworfenen Haken setzten sich in der Seele des Jüngsten fest, und bald wagte er die Frage, ob Wilhelm nicht ein gutes Wort für ihn bei Herrn Muser ...

Wie jeder normale Junge hatte Emil schon frühzeitig verkündet, welchen Beruf er einst auszuüben gedenke. Zuerst hatte er Straßenfeger werden wollen. Die Männer hantierten mit so herrlich breiten Besen, schoben praktische Handkarren, und alle Leute waren freundlich zu ihnen, weil sie Rinnsteine säuberten, sowie die Bürgersteige von Papier reinigten und von Hundekot, in Berlin Apothekerscheiße genannt, weil von Drogisten und Apothekern in weißtrockenem Zustand gefragt und gesammelt.

Als Emil dann die Indianerbücher von Cooper verschlang, von Gerstäcker und auch das Zeug des Vielschreibers Karl May, da stand für ihn fest, dass er als Trapper in den Wilden Westen gehen, vielleicht auch einer der Regulatoren von Arkansas sein würde.

Die ersten Bilder und Beschreibungen von elektrischen Straßenbahnen erschienen in den Zeitungen, und Emil durchzuckte die Erkenntnis, nichts anderes als Straßenbahnkondukteur komme für ihn in Frage. So einer musste immer wissen, wohin die Bahn zu fahren sei, schließlich kannte Emil Berlin an allen Enden, in allen Ecken. Den Traum vom Dompteur träumte er am längsten. Den schwarzen Kater Quitsch hatte er abgerichtet, durch einen Reifen zu springen und eine Leiter hinauf- und hinunterzuklettern; den weißen Spitz Fatzke ließ er auf den Hinterbeinen tanzen, einen Salto schlagen und sich, auf dem Rücken liegend, totstellen. Fatzke und Quitsch waren die beiden Hauptattraktionen der Zirkusvorstellungen. Der Hinterhof wimmelte dann von Kindern. Sie begeisterten sich aber auch an Emils Vorträgen. Mit der Ballade "John Maynard" rührte er sie zu Tränen, der "Erlkönig" verschaffte ihnen angenehmes Gruseln. Freigebiger Beifall beschwingte Emil, und der Hof wollte sich auch dann nicht leeren, wenn er das Programm wiederholt hatte. Dann halfen ihm Erwachsene, die in nicht geringer Zahl Zaungast spielten. Mit drastischen Drohungen säuberten sie den Hof von allen Gören und prophezeiten dem jugendlichen Alleinunterhalter eine große Zukunft. Einmal schaute auch Vater Fritz zu. Er war nicht wenig stolz, wie es dem Jüngsten gelang, mit seinen Schnurrpfeifereien sogar Erwachsene anzulocken. Nachdem er Mutter Mathilde vom Hofzirkus berichtet hatte, lautete sein Resümee: "Wenn der dusslige Bengel in sein Zylinder sammeln würde, könnte er 'ne Menge Jeld machen."

Die Mutter sprach mit Emil darüber, doch der erklärte, würde er es für Geld machen, hätte er keine Freude mehr daran.

Irgendwann verdrängten andere Interessen das Zirkusspiel, bis Bruder Wilhelm dann die Neugier Emils geweckt und mit Herrn Muser gesprochen hatte. Emil musste sich bei der Firma Gursch vorstellen, seine Zeugnisse fanden Gnade vor den gestrengen Augen des Geschäftsführers, und bald war er Schriftgießerlehrling, der verbissen die schwere Anfangszeit durchstand, um sich langsam zum Gehilfen zu mausern.

Vater Fritz dagegen mauserte sich zum Unternehmer.

Sein Chef hatte sich totgesoffen, und die trauernde Witwe war froh, als sich Fritz Treulich bereit erklärte, das Fuhrgeschäft mit Vorkaufsrecht in Pacht zu nehmen. Das hieß Umzug in die Markusgasse, eine Sackgasse, die von der Markusstraße abging und die abends vermittels zweier riesiger Eisengittertorflügel zugesperrt wurde. Zum Fuhrgeschäft gehörte eine weitläufige Wohnung mit großen Zimmern und ein langer Hinterhof voller Stallungen und Remisen. Dieses Stück ziemlich alten Berlins war eine Art Gewerbezentrum. Markthallengroßhändler, Stellmacher, Möbeltischlereien, Klempner, Bauschlossereien hatten in den weiträumigen Höfen mit den vielen Schuppen ihre Werkstätten und Lagerräume. Aus einer gemeinsamen Kasse bezahlten sie einen Privatwächter, der abends das Tor zu schließen, morgens zu öffnen, des Nachts mit Laterne und Tutehorn in der Markusgasse hin und her zu gehen hatte, um ausbrechendes Feuer zu melden, vor allem aber lüsterne Diebe abzuhalten. Als die Wächterstelle vakant wurde, nahm Vater Fritz sie an, das brachte zusätzliches Geld. Auf dem Kutscherbock saßen jetzt seine drei Kutscher, er musste am Tage den Schreibkram erledigen, und das war nicht so arg viel, als dass er nicht noch seinen notwendigen Schlaf gefunden hätte. Das Tor zu schließen und zu öffnen erledigte er auf die Minute, einen nächtlichen Gassenrundgang machte er alle zwei Stunden. In der Zwischenzeit schlief er auf weichen Säcken den Schlaf des Ungerechten ohne Gewissensbisse, denn der Spitz Fatzke war stets bei ihm, und der gab beim geringsten Verdachtsmoment Laut.

Die fünf Treulich-Brüder schliefen im größten Zimmer, wogegen Tilla, die geheiratet hatte, ein Wohn- und ein Schlafzimmer bekam, dazu das Parterrezimmer nach vorn, in welchem ihr Schuhmachergatte eine Besohlanstalt errichtete.

Emil fand die neue Situation famos. In dem riesigen Zimmer war Platz genug, und abends saßen die Treulich-Söhne allesamt um den großen Tisch in der Mitte. Es gab viel Spaß; nicht zuletzt durch den Schwager Egon, den sie den "verrückten Schuster" nannten. Dessen Besohlanstalt gedieh nicht, das aber machte seinem Naturell keinen Kummer. Er arbeitete wenig und schlief viel. Allerdings sprang er morgens aus dem Pfühl, riss die Fenster seiner Werkstatt auf und begann pünktlich um sieben Uhr mit dem Schusterhammer laut aufs eiserne Dreibein zu hämmern. Leise kroch er dann wieder ins Bett und glaubte beim Einschlafen die Leute loben zu hören: Welch ein tüchtiger Mensch, Punkt sieben jeden Morgen macht er sich fröhlich ans Werk!

Des Kaisers Waisenknabe

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