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DRITTES KAPITEL

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Erbstreitigkeiten?

Eltern, hinterlasst euren Kindern

anstatt Geld und Gut

seelische und geistige Reichtümer.

Martha Saupt heiratete ihren Emil ohne den "Segen der Eltern". Auch als bald darauf der kleine Rudolf geboren wurde, gab es keinen Weg zwischen Schöneberg und der Jahnstraße. So betrachtet, hatte die Ehe der Treulichs einen unglücklichen Start, aber man höre und staune, sie war glücklich. Bildete nicht schon allein das Dasein des Jungen eine Quelle ständigen Gedankenaustauschs? Martha und Emil meinten, es sei leichtfertig, Nachkommen zu zeugen, ohne sich Gedanken über Kindererziehung zu machen. Sie wussten, die Formung des jungen Menschen beginnt nach dem ersten Schrei, wesentliche Prinzipien jeder Erziehung sind Konsequenz und Beharrlichkeit. Die Zeiten des Nährens, Schlafens und Trockenlegens wurden prompt eingehalten, es gab keine Extrawürste. Schreien stärkt die Lungen, sagte Frau Martha, und wenn er merkt, dass er damit nicht durchkommt, hört er schon auf.

Schlauberger von heute dürften die beiden Treulichs als Rabeneltern einstufen. Beim kleinen Rudolf werden wir sehen, wie frühes Training spätere Wegstrecken leichter macht. Die Eltern meinten, wenn er schon zu den Unterprivilegierten gehört, soll er auf keinen Fall aufwachsen wie ein Unterentwickelter. Da andere Arbeitereltern ähnlich dachten, wuchs sich das aus zu praktischen Vorstellungen, die dann zu den Triebkräften gehörten, die auch die Arbeiterbaugenossenschaften entstehen ließen. Heraus aus den Kellerlöchern, wir bauen sonnige Wohnungen! So lautete der Schlachtruf, und Architekten wie Bruno Taut unterstützten diese Sehnsüchte durch Pläne für menschenwürdige Behausungen.

Emil Treulich war Mitbegründer der Arbeiterbaugenossenschaft "Paradies". Über den Namen gab es Kopfschütteln. Die Gründer erklärten, der Name Paradies sei als Herausforderung gedacht, im Sinne eines gewissen Heinrich Heine, der den Himmel gern den Spatzen überlassen wollte, unserer Erde aber die Zuckererbsen wünschte. Sie sagten sich, ehe der Kuchen des Sozialismus nicht fertig gebacken ist, kann er nicht verteilt werden. Deshalb backen wir uns mit unserer Genossenschaft einen kleinen Vorauskuchen. Und dabei gingen sie durchaus geschickt zu Werke. Für eine amtlich besiegelte eingetragene Genossenschaft musste zumindest ein bescheidenes Stammkapital nachgewiesen werden. Das war aus den Gründerportemonnaies nicht herauszuschütteln. Also verkauften sie Anteile, warben Verbündete, suchten nach Darlehen und hatten Erfolg, nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich um die erste Arbeiterorganisation dieser Art im norddeutschen Raum handelte. Kaum einer der angesprochenen links eingestellten Intellektuellen, Wissenschaftler, Verleger, Redakteure und Autoren zeigte den Sonnensuchern die kalte Schulter. Die Paradies-Väter waren nicht wenig stolz, dass sich auch Käthe Kollwitz und Karl Liebknecht mit ansehnlichen Darlehen beteiligten.

Da nun Vorschriften und Gesetze erfüllt waren, suchten die Gründerväter eine Lücke in der Mauer konservativ-bäuerlicher Ablehnung rings um das Sündenbabel Berlin. Die fanden sie in Bahnsdorf, einer Ortsgründung aus der Zeit des sogenannten großen Friedrich. Da gab es einige Bauern, die lockte das schnelle Geld. In den Jahren der Gründerzeit war erstmals eine Fläche Bahnsdorfer Landes an die "Chemische Fabrik Riedel" verkauft worden. Kassandra-Naturen des Dorfes hatten zwar die Nasen gerümpft und geunkt, bald würden sie sich dieselben zuhalten müssen. Dagegen erklärten die verkaufenden Bauern, das abgestoßene Gelände sei eine Wüstenei, auf deren märkischem Streusand ohnehin nichts anderes gedeihe als Unkraut.

Glücklicherweise behielten die Warner unrecht. Anfangs stank es zwar, und der Pflanzenwuchs der Umgegend begann zu kränkeln, doch mehr noch kränkelte das Unternehmen. Die Riedel AG ging pleite, der Gelddurst einiger Bauern aber gedieh. Gerade da winkten die Genossenschafter aus Berlin mit akzeptablen Kaufangeboten, und man wurde handelseins.

In seinen Anfängen stand "Paradies" wahrlich unter einem günstigen Stern. Chemiegestank gab es nicht mehr, dafür aber eine schmucke Chaussee mit hohen Bäumen und kostbarem Granitpflaster, die vom Bahnhof Grünau bis hin zum Dorf führte. Der malerische Ort hatte immerhin zwei Bäckereien, zwei Schlächtereien und zwei Milchhändler zu bieten, ferner eine Schmiede, eine Stellmacherei, eine Windmühle und eine Schuhmacherei, deren Meister zugleich den Postdienst in Bahnsdorf versah. So existierten für die Licht-und-Luft-Pioniere keine wesentlichen Handels- und Dienstleistungsprobleme, und sie setzten ihre ersten drei Genossenschaftshäuser an den Eingang des Dorfes, längsseits der Chaussee, Buntzelstraße benannt nach dem reichen Herrn Buntzel, der Ländereien in dieser Gegend besaß und auf den Buntzelberg ein Schlösschen hingesetzt hatte, das an Neuschwanstein erinnerte, pompöser Lieblingssitz des verrückten Bayernkönigs Ludwig II. Imposant überragte es alles ringsum, und von seinen Zinnen konnte man ins Berliner Urstromtal spucken. Einige Steinwürfe entfernt floss die Dahme, und in besagtem Urstromtal glänzten - wenn die Sonne schien - die Gleise der Bahnlinie nach Görlitz.

Kurze Zeit später wurden abermals drei Genossenschaftshäuser in die Bahnsdorfer Landschaft gestellt, rechtwinklig zu den drei ersten, und damit begann die Geschichte der Hauptstraße von Paradies, der Paradiesstraße. Durch neue Bauten verlängerte sie sich bald bis zum Siebweg, lange Zeit Scheidelinie zwischen Stadt und Land, denn an der Südseite des Siebweges wogten sommers die Kornfelder des Großbauern Lohmert, der in Grünau mehrere Mietshäuser besaß.

Das rechteckige Areal zwischen Buntzel-, Paradiesstraße und Siebweg, nach Westen begrenzt vom Friedhof, bebauten die Genossenschafter mit Reihenhäuschen. Das nach Plan gänzlich unplanmäßig wirkende umfangreiche Wohngeviert - das alte Paradies - mit seinen Vorgärtchen und kleinen Mietgärten, mit den Halbhöfen, Winkeln und Treppchen, Nischen und kurzen Sackgassen, war das Kernstück der Genossenschaft, die im Lauf der Jahre durch Neubauten erweitert wurde.

In dem dreistockigen Etagenhaus, das die Ecke Paradiesstraße-Siebweg bildete, gab es die Aufgänge Nummer zehn, elf, zwölf, dreizehn. Martha und Emil Treulich durften wählen und zogen in die Wohnung im oberen Stock des Aufgangs Nummer elf. Sie lag nach Süden zum Siebweg und bot eine einmalige Aussicht. Grüne und gelbe Felder, in der Ferne begrenzt vom dunklen Saum des Waldes, der sich als Teil der Grünauer Forsten bis zur Waltersdorfer Flur erstreckte. Im Frühsommer 1912 bezogen Treulichs die Zweizimmerwohnung mit der geräumigen Küche. Dazu gehörten Bad, Korridor und Speisekammer, damals staunenswerte Errungenschaften für Arbeiter.

Noch vor der Geburt seines Knaben hatte Emil im Ortsteil Falkenhorst, in der Elsterstraße, eine Parzelle gekauft, um sich mit der Familie an Sommertagen in der freien Natur "aalen" zu können, wie die Berliner das Ausspannen nach einer sauren Arbeitswoche nannten. Hier konnte das Söhnchen im heißen Zuckersand buddeln, im Sonnenlicht und in der Regentonne baden. Der Kollege Karge machte einmal ein Foto von ihm, wie er dort meist herumtollte. Er steht auf einem über die Tonne gelegten Brett, mit nichts anderem bekleidet als einem Tirolerhütchen nebst riesiger Fasanenfeder, und mit beiden Händen hält er seinen Buddeleimer vors Bäuchlein.

Die andere Seite der Elsterstraße war unbebaut, dort begann ein durch Kies- und Sandentnahmen zerfurchtes Gelände, das sich zwischen den beiden Magistralen Falkenhorsts, der Waltersdorfer und der Schulzendorfer Straße, erstreckte. Diese Mondkrateridylle war für Treulichs Jüngsten tabu. Es hieß, vor Jahren sei dort in einem Kiesloch ein Kind verschüttet worden.

Sehnsüchtig schaute der Kleine oft durch den Gartenzaun, wenn die andern Kinder drüben in den Klüften und Gräben herumwuselten. An einem Sonntagnachmittag spielte sich dort, einen Steinwurf vom Grundstück der Treulichs entfernt, etwas äußerst Aufregendes ab. Ein Kreis von Kindern umstand eine etwas tiefere Kute, auf deren Grund sich irgendeine Abscheulichkeit befinden musste. Die Kinder warfen mit Steinen danach und stoben dann schreiend davon. Nach geraumer Zeit begann das Spiel von Neuem. Der kleine Rudolf zerschnitt sich fast die Nase am Maschendraht. Die Neugier plagte wie Schmerz. Der Geplagte stapfte zur Gartentür, an deren Klinke er gerade mit Ach und Krach heranreichte.

Überwältigt stand der Knirps vor der großen, weiten Welt. Drüben jagten die Kinder eben wieder schreiend davon, einige schlugen und kratzten sich, als hätten sie Läuse. Jetzt würde ihn niemand von der Kute vertreiben. Eilends watschelte er zum Rand des Lochs. Nichts war zu sehen als Mäuseklee und Queckengras. Wo er doch mindestens mit einer Ratte gerechnet hatte oder mit einem kleinen Krokodil. Die ersten Halbwüchsigen kamen vorsichtig näher. "Was is denn da?" heischte der Kleine Auskunft. "Na, die Biester, die wilden Biester!" - "Seh keine!" verkündete der hosenlose Hosenmatz. - "Musst schmeißen, immer feste schmeißen!" Rudolf warf Sandkrümel und Kieselsteinchen ins Loch. Ein Junge fand einen faustgroßen Feldstein. "Hier, kiek mal, die Klamotte is det richtje!" Mit aller Kraft schleuderte er den Stein gegen die grünüberwucherte Grubenwand, aus der plötzlich eine braungelbe Wolke hochwimmelte. "Sie kommen, sie kommen!" brüllte er und rannte davon wie ein Besessener. Auch alle anderen Kinder waren plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.

Allein und nackt, sozusagen am Kraterrand des Verderbens stand der kleine Rudolf und wunderte sich, wie einsam es plötzlich auf der Welt sein kann. Zwar sah er die Wolke, aber er wusste noch nichts von der Wut gereizter Erdwespen. Deren Vorhut hatte ihn eben erreicht, und die erste setzte ihm eine Quaddel in den Babyspeck. Da schrie er so, dass gleich mehrere Erwachsene angerannt kamen. Vorneweg der Papa, der den Ausreißer in die Arme riss, zurückraste und ihn in die Regentonne tauchte, währenddessen die Mama den nackten Oberkörper des Gatten in ein Badetuch hüllte und jene Biester zerrieb, die sich auf die Haut des Retters gekrallt hatten. Vater und Sohn sahen danach aus, als hätten sie ein bisschen die Beulenpest.

Während der Aussprache der Eltern lag der tragische Held des Tages eingesalbt und getröstet bereits im Bett und schlief sich das Schrecknis von der Seele: Dies muss ihm so gut gelungen sein, dass davon nichts auf der Tafel seines Gedächtnisses stehen blieb. Erst die Zweitschrift, der Bericht der Eltern, kratzte sich ein, denn es war so schön gruselig, von der Lebensgefahr zu hören und sich dabei an die Brust der Mutter zu kuscheln.

Das nächste gravierende Erlebnis, das sich kein Jahr später ereignete, blieb in Rudolfs Erinnerung. Bald nach dem Umzug in die ersehnte neue Wohnung erlaubte ihm die Mama - die Sonne schien so schön - nach unten spielen zu gehen. Was für ein Spaß, die neue Heimat zu erforschen. Allein die vielen Wege zwischen den Gärten der Häuser. Die geheimnisvollen Kellereingänge, welche hinunterlockten ins Halbdunkel. Herzklopfend ging man ihnen nach und fand eine andere Kellertreppe, die man neugierig hoch stapfte, um neben einem fremden Hauseingang wieder ans Tageslicht zu gelangen. In den Kellern roch es nach Kartoffeln, Presskohlen, Körnerfutter und vielem Andern, doch nicht dumpf, denn die Keller waren knochentrocken. Es war für den tapferen Kundschafter aufregend, durch die daumenbreiten Bretterspalten in die fremden Kellergelasse zu lugen. Durch Vorhängeschlösser gesichert, gewährten sie dennoch einen Blick ins Private, was Wohnungstüren nicht gestatten.

Auf seinem Pirschgang gelangte der Kleine zum Haus mit den Eingängen Nummer sechs, sieben, acht und neun, ein Pendant zum Haus der Treulichs, mit dem Unterschied, dass sich im Parterre, zur Paradiesstraße hin, die Konsumverkaufsstelle befand. Der Lagerraum war im Keller der Nummer acht, an deren Rückfront mehrere Müllkästen standen, die an jenem Tag überquollen. Deshalb wohl waren die beiden verblichenen Mäuse auf einem Müllkastendeckel hinterlegt worden, denn es gibt selten einen Lagerraum ohne Mäuse. Rudolfs Augen begannen zu glänzen. Wie waren die Tierchen niedlich. Samtige Fellchen, wunderschöne lange Schwänzchen und rosige Öhrchen. Die musste er der Mama zeigen. Vorsichtig nahm er sie bei den Schwänzen und trug sie glückselig vor sich her. Da begegneten ihm einige große Mädchen, die eben aus der Schule kamen. Sie blieben erschrocken stehen und verzogen die Gesichter. Das verblüffte den Mäusefreund, denn er empfand die Elfjährigen nicht nur als groß, sondern auch als klug und hübsch, mit den langen Zöpfen bis zum Popo und den bunten Haarschleifen.

"Pfui Teufel", schalt Elsbeth Akel, "wirf mal sofort die ekligen Viecher weg!"

Der Kleine war tief enttäuscht. Wie konnte man die niedlichen Tierchen eklige Viecher nennen? Zutraulich trat er auf die Mädchen zu und hob freundlich die beiden Mäuslein hoch. Entsetzt schrien die Langbezopften auf und rannten davon. So schnell ihn seine kurzen Beine trugen, rannte er den Mädchen nach, und als sie ihn kommen sahen, ergriffen sie wiederum die Flucht. Der Mädchenjäger steigerte sich in einen Rausch, machtselig trieb er das Mädchenquartett die Paradiesstraße entlang und dann in die Quaritzer Straße.

Frau Hohmann erwischte den Knirps und schimpfte, er solle die abscheulichen Biester wegwerfen. Der Knirps weigerte sich. Else Hohmann nahm ihn beim Schlafittchen und brachte ihn zu seiner Mama. Frau Martha bekam jenes strenge Gesicht, bei dem der Sohn immer dachte, lieber soll sie mir eine tachteln. Streng fragte sie, ob er sich nicht schäme, die armen Mädchen derart zu quälen. Für diese böse Tat dürfe er morgen nicht aus der Wohnung. "Wirf sofort die Mäuse in den Mülleimer!" gebot sie.

Die Samtpelzigen und ihre Zaubermacht hergeben? Halb widerspenstig, halb bittend, schaute er die Mama an.

"Also gut, dann sind es drei Tage Stubenarrest."

Hier geht's aber streng zu, dachte Else Hohmann, und sie versuchte, abzuwiegeln. "Er tut sie schon weg. Wird doch nicht tagelang in der Wohnung hocken wollen bei dem schönen Wetter."

Das wollte Rudolf wirklich nicht, und todtraurigen Gesichts ließ er die Mäuslein in den Abfalleimer fallen.

Martha Treulich sprach den ganzen Tag kein Wort mit dem Spross. Es war ihm so unerträglich, dass er sich sofort beim Papa darüber beklagte, als der des Abends in die Wohnung trat. Die Mama sagte, sie fände es verwerflich, wenn ein Mensch andere Menschen jage, die sich nicht wehren können.

"Ist es so gewesen?" fragte der Papa.

Der Sohn schwieg.

"Willst du mir nicht die Wahrheit sagen?"

Es war schwierig mit der Wahrheit. Zugegeben, er hatte die Mädchen gejagt, aber dass die sich nicht wehren konnten?

"Warst du hinter ihnen her oder nicht?"

Dieses nun konnte man zugeben. Aufatmend nickte Rudolf.

"Na endlich." Der Vater war froh, es mit einer Ermahnung bewenden lassen zu können. "Du weißt, wie wir Lügen hassen. Und wenn du eine Scheibe eingeschlagen hast, komm zu mir und sage die Wahrheit, dann wird die Sache ohne Dresche geregelt."

"Ja, Papa." Rudolf nahm diesen Blankoscheck auf Straflosigkeit für eine zerdepperte Fensterscheibe mit innerer Begeisterung in Empfang. Er musste nun genau erzählen, was geschehen war.

Um der Mama nicht in den Rücken zu fallen, machte der Papa ernste Miene zum heiteren Spiel. Er selbst fand das Schelmenstück ergötzlich. Vier schreiende Kälber, die sich von einem halb so großen Knirps mit zwei toten Mäusen ins Bockshorn jagen lassen.

Die Mama gab zu bedenken, dass manches, was lachhaft ausschaut, einen traurigen Kern haben kann. Unterbinde man solche Eskapaden nicht, dann erschrecke der Sohn morgen womöglich seine Gespielen mit einer toten Katze oder treibe mit dem lebenden Striebold entsetzte Kinderscharen vor sich her.

Emil nickte zu den klugen Worten und schaute nachdenklich auf jenen lebenden Striebold, der, kleiner als die Dogge aus der Junggesellenzeit, einen leidlichen Ersatz für den Vorgänger darstellte. Dem kleinen Rudolf kam der Hund so groß vor wie ein Pferd, und er kannte kaum ein lustigeres Spiel, als zu versuchen, auf Striebold zu reiten.

Emil Treulich hatte den Sohn meist dabei, wenn er mit Striebold trainierte. An den Kunststückchen hatten alle drei ihren Spaß, besonders an der Walzernummer. Vater sang "humtata-humtata", Striebold, hochaufgerichtet, tanzte auf den Hinterläufen im Walzertakt, was Herrchen durch Taktieren mit einem Stück Wurst erreichte, während der Sohn die beiden umkreiste und kräftig das "Humtata" mitsang.

Attraktiver und mehr für Zuschauer gedacht war das Dressurstück: Klein Rudolf hält die Hand in die aufgesperrte Schnauze Striebolds.

Schon früh, kaum hatte der Kleine zu krabbeln begonnen und Freude an eigener Bewegung gezeigt, begann Vater Emil mit leichten Übungen. Diese Ringkämpfe, Boxspiele und Rangeleien jeden Sonntagmorgen im Bett gehörten zu den schönsten frühen Erinnerungen des großen Rudolf. Sein Vater rühmte sich, ihn mit diesen Übungen für Extremfälle trainiert zu haben. Der Sohnematz hatte so lange am hölzernen Schutzgitter seines Kinderbetts herumprobiert, bis es mitsamt dem Wagehals abkippte. Nun lag er in einer derart unglücklichen Lage, dass er sich bei der leisesten Bewegung das Genick angeknackst hätte. Aber er bewegte sich nicht, sondern schrie nur. Darauf kam die Mama angestürzt und befreite ihn aus der selbstgestellten Falle.

Rudolf brachte dem Vater unbegrenztes Vertrauen entgegen, Papa war der Wissende, Alleskönnende, war Gottvater, denn mit dem Papa war das einfacher, als es mit einem weißbärtigen Mann gewesen wäre, der unsichtbar im Himmel thront. Den Begriff Gott in seiner religiösen Bedeutung gab es für den kleinen Rudolf nicht. Er war nicht getauft, und die Eltern bemühten sich, ihn im Freidenkersinne zu erziehen. Sie fanden es unfair, von den Religionsgemeinschaften, mit der Taufe einen Unmündigen auf ihre Lehre festzulegen.

Der Papa war meist heiter, aber wenn er ernsthaft mit dem Sohn sprach, dann nahm der es ernst. Und sooft Emil Treulich betonte, dass ein guter Mensch die Wahrheit sagt, so oft machte er dem Knäblein Mut, mutig zu sein. Stets benutzte er dabei Anekdoten, Erlebnisse und Episoden aus dem eigenen Leben oder aus der Literatur. Die Bibel gehörte selbstverständlich dazu, und eine der ersten Parabeln, die der Kleine kennenlernte, war die von David und Goliath. Rudolf setzte den Vater in Verlegenheit mit der Frage, warum man ihm nicht den Namen David gegeben habe, von einem ähnlich mutigen Rudolf habe er noch nichts gehört. Hm, machte der Vater, wenn sie damals gewusst hätten, dass ihm David besser gefallen würde, hätten sie ihm sicherlich diesen Namen gegeben. Aber falls noch ein Brüderchen käme, das könnte man gern David nennen. Diese Aussicht verscheuchte den Kummer über den Namen, und noch eine Zeit lang erkundigte sich Rudolf bei der Mama des Öfteren, ob nicht bald ein kleiner David ankomme.

Der Spross war ein fleißiger Frager, und nie fand er den Papa faul im Antworten. Im Gegenteil, einer der Grundsätze Emil Treulichs lautete: "Frage, Junge, frage! - Nur ein dummer Mensch fragt nicht."

Die Mama war strenger als der Papa, machte selten Scherze und konnte auch nicht auf Fingern pfeifen.

Die beharrlichen Bemühungen Emil Treulichs, aus dem Sohn einen Menschen zu formen, waren manchmal erschreckend erfolgreich, denn alle ihm eingepflanzten ethischen Grundsätze nahm der Sohn als Gesetz. Ein guter Mensch lügt nicht; ein guter Mensch tritt für die Gerechtigkeit ein; ein guter Mensch ist mutig. Daran gab es nichts zu deuteln, Papa hatte es gesagt.

Gar manches Mal dachte der Vater, wie bringe ich solch einem Guckindiewelt bei, dass es außer Schwarz und Weiß auch Grau, und bei richtiger Weltbetrachtung, noch tausend andere Farbtöne gibt. Selbst bemüht um dialektisches Denken, glaubte Emil Treulich nicht von sich, ein Denkgenie in Dialektik zu sein, doch für den Kleinen gab es nur Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge. Die Hexe hat Böses getan, also muss sie im Backofen verbrannt werden. Die Leiden der Guten entlockten dem Kerlchen salzige Tränen, dagegen wünschte er die Bösen streng bestraft. Die Mama erlebte es, als sie dem Sohn die ersten Märchen vorlas. Prinzess Dornröschen gefiel ihm über die Maßen, und als er davon hörte, wie sie sich mit der Spindel gestochen hatte, bedauerte er, damals nicht gelebt zu haben. Er hätte keine hundert Jahre gewartet, das liebe Mägdelein zu erlösen. Unverzeihlich aber fand er, dass nichts über eine Bestrafung der dreizehnten bösen Frau gesagt wurde. Der hätten doch mindestens die Augen von weißen Täubchen herausgepickt werden müssen, ganz wie den bösen Schwestern des armen Aschenputtels.

Die Mama erschrak, dann sagte sie sich, dass die Moral der Märchen die Moral der Kinder ist. Niemand kann sagen, eine Kinderseele habe am Märchen Schaden genommen, sicher dagegen ist, Märchen schenken der Kinderzeit ursprüngliche Poesie.

Selbst Glossenhaftes in Märchenform konnte den Sprössling begeistern. Ein Lieblingslied Rudolfs war das von der bestraften Hexe, eine Ballade, die zum Repertoire von "Typographia" gehörte. Der Papa saß auf einem Stuhl, hob den Knirps in seine frei schwebende Fußbeuge und begann tiefernst die Parodie zu singen:

"In der Nähe von Meißen, am Rabenstein,

da huppt eene Hexe auf einem Bein.

Sie hatte verhext eines Grafen Kind,

schlecht, wie die Hexen merschtendeels sind."

Darauf hob sich die Stimme, wurde hell und schadenfroh bei dem Refrain: "Hupp, Alte, hupp-hupp, Alte, hupp-hupp, hupp-hupp, hei-hupp!" Fest musste sich der Kleine an Vaters Knie klammern, der das Bein im Takt schwenkte, und nachdem der Reiter beinahe Tränen um das verhexte Grafenkind vergossen hatte, jauchzte er nun in selbstvergessenem Vergnügen.

Weniger ums Mithuppen als ums Mitreisen ging es bei einer Begebenheit auf dem Buddelplatz. Der lag am Siebweg und war ein Teil des unbebauten Geländes auf der östlichen Seite der Paradiesstraße, den man allgemein als "die Wiese" bezeichnete. Auf dem Buddelplatz wurden Burgen gebaut und Murmelberge, Höhlen geschippt und Schlossgräben ausgehoben. Die Bauvorhaben der größeren Jungen waren ehrgeiziger. Als Meisterstück galt das Fährschiff des Max Zimmermann, nachempfunden dem Motorkahn, mit welchem man von Grünau über die Dahme nach Wendenschloß übersetzen konnte. Säuberlich ins Erdreich geschippt, war das Boot an die fünf Meter lang, ringsum mit Sitzplätzen und einem Kommandostand in der Mitte. Selbstverständlich war Max der Kapitän, mit einem defekten Leiterwagenrad als Steuer. Bei der Jungfernfahrt kassierte er pro Person einen Groschen Fahrgeld, das hieß zehn Kieselsteine. Der Andrang war groß, und sollte der Kahn nicht zertrampelt werden, musste man die Anzahl der Reiselustigen halbieren. Max ließ sie zu vieren antreten, teilte den Trupp, stellte sich an die Spitze des vorderen Teils und kommandierte: "Abteilung, marsch!" Wie brave Turner marschierten sie hinter ihm her. An der Ecke Siebweg-Paradiesstraße ließ er halten und fragte leise, ob sie schweigen könnten. Einstimmiges Ja antwortete. "Jut", befand der Kapitän, "denn verratet niemandem, det ihr morjen als Erste dran seid. Wer aber jetzt nich hier verschwindet, der kommt niemals uff mein Schiff."

Unter den Wartenden war inzwischen ein Streit wegen der Platzordnung ausgebrochen. Wie auf einem richtigen Boot wollten alle an der Spitze sitzen, und wieder drohte die Jungfernfahrt entweiht zu werden. Salomonisch entschied Max: "Wer zu Hause Arsch sagen darf, der setzt sich an die Spitze. Wer Hintern sagen muss, der kommt in die Mitte, und die bloß Popo sagen dürfen, nach hinten."

Selbstverständlich durften erst einmal alle zu Hause Arsch sagen. Mithilfe von Zeugenaussagen wurde dies geklärt, es blieb nur ein Häuflein für die Bootsspitze, die Mehrzahl musste sich bequemen, Plätze in der Mitte einzunehmen. Einsam und traurig stand der letzte Passagier auf der Landungsbrücke, der Knabe Rudolf.

"Wat stehste rum", schnauzte der Kapitän, "steig ein!"

"Ich möchte 'nen Platz in der Mitte."

"Wenn ick sage, du Popofatzke sitzt hinten, denn sitzte da, verstanden?"

"Ich zahle ebenso mein Fahrgeld wie die Andern." Stolz hielt Rudolf zehn niedliche Steinchen dem Kapitän vor die Nase.

"Die kannste dir sauer kochen!" höhnte der, schlug mit der Faust von unten gegen die flache Hand, und ein Kieselsteinregen prasselte auf Boot und Passagiere herab.

Der kleine Rudolf schlug ebenfalls. Mit der flachen Hand einmal die linke Wange des Max Zimmermann, dann die rechte und gleich noch einmal links und rechts.

Der Gemaßregelte war so verblüfft, dass er alles hatte geschehen lassen. Dann sah er rot. Dieser Wicht backpfeift einen Kapitän vor allen Passagieren? Er zerrte den Rebellen hinunter in den Kahn und drosch auf ihn ein. Rudolf dachte nicht an Kapitulation, er dachte an David und wehrte sich tapfer. Das war dem Halbwüchsigen so ärgerlich, dass er den Zwerg in den Schwitzkasten nahm. Der biss ihm in den Arm. "Aua!" brüllte Max, stieß den Widersacher von sich und versetzte ihm dabei einen Schwinger gegen die Nase. Die Nase begann rot zu triefen. Entsetzt schrien die Passagiere auf, und schnell wie die Ratten verließen sie das Schiff, obwohl es gar nicht am Sinken war. Rudolf wankte in Richtung Heimat, den Kopf weit nach hinten gelegt. Neben ihm ging Ilse, die Jüngste von Tieglers, die im selben Aufgang wie Treulichs wohnten. Sie sprach dem Spielgefährten Trost zu und führte ihn zur Bank auf der Paradiesstraße. Mit ihrem Taschentüchlein säuberte sie dem Helden Gesicht, Hals und Brust.

"Warum bist du denn nicht ausgerückt, nachdem du ihm die Ohrfeigen geschallert hast?" fragte Ilse.

"Dann hätte der noch gedacht, ich habe Angst."

"Mut ist ja ganz schön - aber nich 'ne blutende Nase."

"Wenn ich doch im Recht war."

Sie stellte sich ein Stück ab und betrachtete kritisch sein Aussehen. "Du, Rudi, erzählst du es meiner Mutti, dass ich vorhin geschwindelt habe?"

Rudolf war beinahe beleidigt. "Bin ich 'ne Petze?"

"Wenn du willst, zeige ich dir ein Nest in Lohmerts Korn."

"Kenne ich schon. Da habt ihr gestern Doktor gespielt!"

"Wenn du schwörst, dass du deiner Mama auch nichts sagst, kannst du morgen der Doktor sein."

Rudolf dachte, warum eigentlich Nein sagen? Zwar taten alle, als wenn Doktorspielen was Schlimmes ist, aber es gab ja auch das Spiel Vaterken und Mutterken, und wenn sie dabei Schlafengehen spielten, sahen sie sich ebenfalls ohne was an. Und die Jungen schauten unten herum so aus und die Mädchen anders. Aber das war ganz natürlich, hatte der Papa gesagt. Denn wenn die Mädchen nicht anders aussähen, wie sollte man sie von den Knaben unterscheiden.

Rudolf sah den Papa von der Arbeit kommen und rannte ihm entgegen. Emil Treulich nahm ihn hoch und schwenkte ihn herum. Dann stellte er ihn hin und betrachtete seinen Knaben genauer. "Hast du dich mit Mauersteinstaub eingerieben?"

Der Sohn berichtete von der Niederlage. Dabei befühlte er die Nase, sie war dick und schmerzte. Nun kamen ihm doch ein paar Tränen. Der Vater nahm ihn rasch hoch, setzte ihn sich auf die Schulter und tröstete: "Warst im Recht. Dabei kriegt man schon mal eins auf die Neese, wird dir noch öfter im Leben passieren."

Des Kaisers Waisenknabe

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