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FÜNFTES KAPITEL

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Selbst eine elende Kindheit hat noch Glanz,

der bis ins hohe Alter leuchtet.

Bevor die Flugzeugnotlandungen und -abstürze des ersten Kriegsjahres zu bleibenden Erlebnissen der Bahnsdorfer Kinder wurden, hatte Rudolf eine harte Prüfung zu bestehen. Der Tod der Mama kam schrecklich überraschend. Noch im Oktober hatte sie dem Söhnlein vier Lichter um den Geburtstagskuchen angezündet, im November lag sie bleich in dem schwarzen Sarg. An des Vaters Hand ging der Kleine zur schmucklosen Leichenhalle des Bahnsdorfer Friedhofs. Er stand eine Weile schweigend neben dem Papa, bis sein Unverständnis ihn bitten ließ: "Schlaf nicht mehr, Mama, wach doch auf." Als er Anstalten machte, die Tote zu küssen, hob ihn der Papa rasch hoch und verließ mit ihm die Stätte der Trostlosigkeit. Emil Treulich drückte seinen Jungen an die Brust, und der spürte, dass der Vater weinte, ohne Tränen weinte.

Keines Vierjährigen Fantasie reicht aus, sich vorzustellen, wie es sein wird, wenn der geliebte Mensch morgen nicht mehr da ist, übermorgen nicht und überhaupt nicht mehr. Der Augenblick des Abschieds vom Sarg verursachte dem Kleinen mehr beklemmende Verwunderung als Schmerz. Da die Erwachsenen ausweichend antworteten, fragte er immer seltener, und vorerst wuchs langsam Gras des Vergessens über all das Unverständliche. Wer auch hätte es vermocht, dem Knirps das Elend des mörderischen Abtreibungsparagrafen zu erklären.

Wie nicht wenig fortschrittliche Leute waren sich Martha und Emil Treulich eins in der Auffassung, ein Kind ist genug! Gerade jene, die vom Kindersegen als patriotische Pflicht redeten, hielten sich selbst gern zurück nach der Devise: Das niedere Volk ist gut dafür, die Gebärmaschinen zu stellen. Gegen diese "Arbeitsteilung" wehrten sich nicht nur die Sozialdemokraten, die hellhörig die außenpolitischen Prahlereien des Gottesgnadenkaisers vernahmen. Selbst nach Meinung des konservativ-strammen Kanzlers Bülow zertepperte die redselige Majestät nicht selten diplomatisches Porzellan und beschwor Kriegsgefahren herauf. Nicht zuletzt auch deshalb, meinten die Treulichs, im Sinne August Bebels, diesem Kaiser keinen Soldaten. Doch Verhütungsmittel gab es offiziell nicht zu kaufen, sie waren auch noch recht unzulänglich, und so kam es, dass es selbst aufgeklärten Eheleuten manchmal "passierte", dann blieb nur der Weg zur "Weisen Frau" oder zu einem Kurpfuscher. Auf die Art war die Mutter ums Leben gekommen, erfuhr Rudolf später und dass mit ihr viele Mütter im besten Alter diesen schlechten Tod starben.

Der Witwer Emil Treulich gab den Sohn bei guten Bekannten - den Jonders - in Verwahrung. Gute Bekannte - ein Begriff, der genauerer Prüfung oft nicht standhält. Gustav Jonder war manchmal der vierte Mann beim Skat. Die fünfköpfige Familie wohnte in dem Haus Paradies- Ecke Quaritzer Straße, und man kannte sich schon aus den Zeiten der Sommerwochenenden in der Elsterstraße, wo die Jonders ebenfalls ein Grundstück besaßen. Der Herrenschneider Jonder war angeblich Meister in einem Maßatelier Unter den Linden. Mit den pomadeglänzenden schwarzen Haaren, dem flotten Oberlippenbärtchen und der flinken Zunge wirkte er weltgewandt und jünger, als er war. Um seinen gehobenen Beruf zu unterstreichen, beendete er gern einen Satz mit "oui, Monsieur". Frau Jonder, zwei Jahre älter als ihr Mann, gefiel sich in der Rolle der unverstandenen Frau. Kam Emil Treulich in Sicht, blühte sie auf. Er hatte Spaß an der Verwandlung, spielte den Kavalier, machte galante Komplimente, und sie hauchte "merci", als bemerke sie nicht die Ironie des Mannes. Sie war es, die sich als Ziehmutter für Rudolf anbot, und der ratlose Vater war für das Anerbieten dankbar.

Dem Sohn verging bald die Dankbarkeit. Nie vorher hatte er tagsüber so sehnsüchtig auf des Vaters Heimkommen gewartet. Herausgenommen aus seinem sauberen Nest, befand er sich plötzlich in einer schmuddligen Welt. Jonders drei Mädchen liebten keinen außer sich selbst, manchmal noch den weißen Spitz Fiffi, wenn sie Lust hatten, ihn zu knuddeln.

Mit der Wahrheit hatten die Mädchen ständig Schwierigkeiten. Den Eltern ging es nicht anders. Forderte Frau Jonder Geld vom Gatten, entschuldigte sie sich mit Ausgaben, die erfunden waren. Herr Jonder kam abends manchmal später von der Arbeit und sprach dann von Überstunden. Selbst Rudolf spürte, dass auch das erfunden war.

Sehr früh und aus nächster Nähe lernte Rudolf so auch die Faulheit und ihre Schwester, die Drückebergerei, kennen. Lotti hatte des neuen Hausgenossen Gutmütigkeit erkannt und versuchte den drei Jahre Jüngeren zu ihrem Leibdiener zu machen. "Such mal meinen Murmelbeutel, bring mal meine Schulmappe, putz mir mal die Schuhe!" Hertha, neun Jahre alt, wollte nicht zurückstehen und bestand ebenfalls auf ständige Dienstleistungen. Weigerte sich der ewig Geplagte, dann ahndete sie es mit einer Ohrfeige. Lotti, wohl aus Angst vor dem stämmigen Kleinen, wagte dies nicht. Edith, die Vierzehnjährige, behandelte den Hosenmatz zuerst wie Luft, und schon dafür war der ihr dankbar. Später stellte sie sich sogar gegen die jüngeren Schwestern, wohl aus schlechtem Gewissen, weil Rudolf sie überrascht hatte an einem Ort, der hinter den drei zuerst gebauten Paradies-Häusern lag. Dort befand sich inmitten der Gärten das unterirdische Gewölbe mit der Wasserpumpstation für Paradies, oben abgedeckt von einem größeren Betongeviert mit einer eisernen Einstiegsklappe. Der Platz war auf Beschluss der Genossenschafter für Kinder tabu. Darum galt es als Heldentat, sich dort hinzuschleichen. Dieses nun tat an jenem Tag Rudolf, weniger von ihm als Mutprobe gedacht als aus Sehnsucht nach einem stillen Ort. Hier war es geheimnisvoll, denn unter dem Beton vernahm man leises Rumoren. Sicherlich stimmte es, was die Kinder sagten, dass dort unten ein Bergwerk der Zwerge sei, wo sie nach Gold pickten. Rudolf ließ seiner Fantasie die Zügel schießen, und das Träumen hatte nur den einen Haken, er durfte sich dabei nicht von Grujevater Schonfelder erwischen lassen. Ältere Männer mit Bart wurden von den Kindern Grujevater genannt. Der alte Schonfelder, freundlich meist und friedfertig, transportierte auf einem Spezialkarren die Müllkästen von Paradies zur Müllablage. Er hatte die Pumpstation zu beaufsichtigen und zu pflegen, und er besaß den Schlüssel zum Schloss an der Eisenklappe. Sich vergewissernd, schaute der Junge dorthin und erschrak. Das Schloss lag neben der Klappe. Grujevater war also unten, konnte jeden Augenblick auftauchen. Nischt wie weg, schrillte es im Kopf Rudolfs, aber zu spät. Die Eisenklappe wurde aufgestoßen, Oskar Dettrich tauchte auf, dicht hinter ihm Edith.

Oskar war arg verlegen. "Möönsch, wat - wat suchste denn hier?" stotterte der Vierzehnjährige.

"Habt ihr unten Zwerge gesehen?" Rudolfs Erschrockensein war schon überspült von brennender Neugier.

Oskar schaute leicht blöd, doch Edith, ausgestattet mit den sensitiveren Sinnen des Weibes, benutzte die goldene Brücke, die der Kleine ihr unbewusst gebaut hatte. "Natürlich haben wir die Zwerge gesehen, deshalb sind wir ja runter."

Rudolf nutzte die Gunst des Augenblicks. "Darf ich sie auch mal sehn?"

Edith gab dem Oskar einen heimlichen Knuff. "Wenn du keinem verrätst, dass wir unten gewesen sind."

"Ich schwör's." Rudolf hob die Schwurhand und zeigte ein Gesicht voll heiligen Ernstes. Höchst gespannt kletterte er hinter den beiden in die Tiefe.

Die Zwergenwelt zeigte sich wenig romantisch. Feuchter Zementboden, Betonwände, Röhren und Rohre und die ölige Dieselmotorpumpe, die den geheimnisvollen Lärm machte. Durch Glassteine fiel von oben grünliches Licht. Oskar schaute aufmerksam in die dunkle Nische hinter der Pumpe und schüttelte bedauernd den Kopf. "Keener mehr hier." - "Und vorhin waren da noch welche?" - "Zwei Stück haben drüben auf det dicke Rohr jesessen." Gnädig winkte Oskar den Zwergenfex näher. Der erblickte nur schmierigen Fußboden und fragte: "Wie groß waren sie denn?" Oskar deutete die Größe einer aufrecht stehenden Maus an.

"Ich dachte, es sind die Großen, wie der mit der Schubkarre in Siefferts Vorgarten."

"Ick sage dir, die flitzen durch jede Ritze." Oskar wies zur Eisenleiter. "Wir müssen machen - Grujevater versteht keen' Spaß."

Gehorsam stieg -Rudolf nach oben und fragte, ob Oskar ihm Bescheid sagen würde, sollte er wieder mal die Zwerge besuchen.

"Mal sehn." Oskar wusste, weshalb er einer klaren Absage auswich.

Rudolf suchte nun den geheimnisvollen Ort so oft wie möglich auf. Immer vergeblich, aber eines einsamen Tages vernahm er ein Geräusch, dem er fein leise nachging. Es kam aus Birnhardts Sommerlaube in dem lauschigen Winkel an der hohen Feldsteinmauer, welche den dahinterliegenden Bauernhof begrenzte. Rudolf fand keine Wichtel, sondern Edith und Oskar, die sich küssten. Rückwärts aufgestützt, hielt Edith sich an der Tischkante, da Oskar ihr Kopf und Oberkörper nach hinten bog. Rudolf sah, dass der Mittelfuß des Tisches, eingegraben im Lehmboden der Sommerlaube, fest stand wie ein Fels. Es beruhigte ihn, der Tisch konnte nicht umkippen. Mittlerweile aber fürchtete er, das zarte Kreuz Ediths könnte durchbrechen, falls Oskar sie noch weiter nach hinten bog. Ohne sich zu räuspern, fragte Rudolf: "Sucht ihr die Zwerge?"

Die beiden fuhren auseinander. Während Edith sich intensiv das Kleid glatt strich, als sei es mit Mehl bestäubt, fauchte Oskar: "Du dämlicher Affe spionierst uns nach." Er machte Miene, tätlich zu werden.

Edith bewies wieder diplomatisches Fingerspitzengefühl. "Lass ihn, Oskar. Er dachte wohl wunder was, als er gesehn hat, wie du mir was ins Ohr gesagt hast."

"Ins Ohr gesagt, haha." Rudolf triumphierte. "Werdet schon sehn, was ihr davon habt. Hertha hat gesagt, vom Knutschen gibt's Kinder."

Ediths Gesicht rötete sich. Sie versuchte auf den Busch zu klopfen. "Und nu wirst du Hertha alles petzen, nicht wahr?"

Rudolf fühlte sich wie vor die Tür gestellt. Keinen kümmerte es, wie ihm zumute war. Aber sowie sie etwas ausgefressen hatten, hieß es, nichts erzählen, nichts verraten. In aufsteigender Wut schrie er: "Bin ich 'ne Petze? Ich weiß mehr, als du denkst. Wenn ich sagen würde, dass Lotti dem Schornsteinfeger immer die Zunge raussteckt und Hertha mitgemacht hat beim Weitpinkeln, würde ihnen dein Papa ganz schön den Hintern versohln."

In einer mütterlichen Aufwallung zog Edith den Schluchzenden an sich und streichelte ihm das Haar. "Nu heul nich. Bist doch ein tapferer Junge."

Die plötzliche Zuwendung löste erst recht des Kleinen Tränen.

"Wenn Hertha mich wieder bufft, musst du es ihr verbieten."

Edith hockte sich hin und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. "Is schon gut, ich passe auf."

Bei einem Quäntchen Liebe ließ sich Rudolf um den Finger wickeln. Ihm war fast so, als habe die Mama ihn an die Hand genommen, da Edith dies jetzt tat und mit ihm der elterlichen Wohnung zustrebte.

Sie hielt Wort. Wann immer es galt, nahm sie Rudolf vor den Schwestern in Schutz. Doch rächten sich Hertha und Lotti, wenn Edith abwesend war. Dann hatte Rudolf nur noch Fiffi, dem er seinen Kummer erzählen konnte. Der weiße Spitz mit den Knopfaugen hörte mit verständnisvollem Ausdruck zu, wie Striebold es immer getan hatte, den der Papa fortgeben musste, gleich nach dem Tod der Mama. Fiffi war sehr anhänglich, denn Rudolf war der Einzige, der ihm manchen Happen zukommen ließ. Zwar gab es bei Jonders keine festen Essenszeiten, doch wer Hunger verspürte, schnitt sich eben eine Stulle ab.

Frau Jonder schlief jeden Tag bis in den späten Vormittag. Dann erfolgte eine zeitaufwendige Kosmetik. Hierauf kleidete sich die balsamisch Aufgemunterte an, und gemächlich stieg sie mit ihrem perlenbestickten Pompadour nach unten. Vor allem, um frische Luft zu genießen, wie sie gern betonte. Manchmal betrat sie auch einen Laden und erstand eine Schachtel Zündhölzer oder einen Gasglühstrumpf. Für derartige Artikelchen genügte allemal ein Pompadour. Letzten Geldes entblößt, kam sie nach Hause und räsonierte über das sündhaft teure Leben.

Einmal schenkte ihr die Nachbarin ein Glas grüne Bohnen, der Deckel habe sich gelöst, das Eingeweckte müsse rasch verbraucht werden.

Hocherfreut über das kostenlose Glück, machte sich Frau Jonder an das aufreibende Geschäft·der Zubereitung. Zuerst entdeckte sie, es fehle Salz. Bei den Nachbarn konnte sie nicht borgen gehen, die hatte sie reihum schon mehrmals angepumpt. Also schrieb sie auf ein Stück Papier: "1 Pfund Salz", wickelte drei Kupferpfennige in den Zettel und schickte Rudolf damit zum Kaufmann. Der Einholer kam bald zurück und bestellte einen schönen Gruß von Herrn Gonnemann, ein Pfund Salz koste vier Pfennig, aber weil Rudolf ein armer junge mit 'ner toten Mutter sei, habe er ihm das Pfund trotzdem gegeben.

Die drei Mädchen kamen aus der Schule, schnupperten verwundert den Essengeruch und kosteten dann mit langen Zähnen. Eine nach der andern erklärte, sie sei nicht hungrig, und wie vom Wunderwind fortgehoben, verschwanden sie. Rudolf wollte sich ebenfalls davonstehlen. Mit dem Rest ihrer Autorität verhinderte Eugenie Jonder das Fluchtvorhaben. "Du bleibst und isst deine Bohnen!" Rudolf tunkte die Löffelspitze ins Essen, führte sie zum Mund und kaute an dem Bissen, als esse er Radiergummi. Der beleidigten Köchin zersprang die Geduld. Sie holte den Staubwedel, der zu seinem eigentlichen Zweck nie benutzt worden war, dessen Stiel sich aber als Rohrstock gebrauchen ließ. Hart schlug sie damit auf den Tisch. "Wenn du jetzt nicht isst, bekommst du Dresche!"

Der Beschimpfte klemmte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu und begann das längst kalt gewordene in sich hineinzuschaufeln. Doch plötzlich machte sein Magen einen Hupfer und brachte alles auf den Teller zurück.

Frau und Junge starrten unbeweglich, als wollten sie es nicht glauben. Rudolf regte sich als Erster. Er nahm den Teller vom Tisch und stellte ihn auf den Fußboden. Mit einem Freudenlaut stürzte sich Fiffi darüber her, und in Windeseile war der Teller leer.

Aller Berechnung nach musste nun das Staubwedelrohr in Bewegung geraten. Doch die glücklose Köchin verschwand im Nebenzimmer, und der reuelose Sünder hörte sie grollen: "Das teure Essen! - Ich werde es seinem Vater erzählen."

Tu das nur, hoffte Rudolf, da wird der Papa endlich mal merken, was hier los ist. Schon mehrmals hatte er versucht, den Vater auf seine Kümmernisse aufmerksam zu machen, indem er fragte, wie lange seine Zeit als Ziehsohn bei den Jonders noch dauern würde. Dem Kleinen fehlt die Mutter, sagte sich der Vater, präziser wäre gewesen, die Mutterliebe. Von den Misshelligkeiten seines Sohnes ahnte Emil Treulich nichts, Jonders waren freundlicher denn je zu ihm, er zahlte ein generöses Kostgeld für Rudolf. Die Mädchen waren geradezu Musterkinder mit Höflichtun und Knicksen.

Am Papa hatte Rudolf nie zwei Gesichter bemerkt, an der Mama ebenfalls nicht. Zwar war sie streng gewesen, wenn er was ausgefressen hatte, aber in ihren Augen war immer zu lesen, es tue ihr leid, strafen zu müssen. Wenn sie lieb war, erinnerte es an den Himmel. Keiner strich ihm so über das Haar, über den Nacken, rubbelte so sanft die Nasenspitze an der seinen wie die Mama. Und wenn sie ihn auf den Schoß nahm und an sich zog, dann hatte ihm die Wärme und Weichheit der Mutterbrust immer ein Gefühl der Geborgenheit geschenkt, dass ihm vor Glück das Weinen ankam.

Rudolf dachte jetzt oft an die Mutter. Bestimmte Erlebnisse standen deutlich in seiner Erinnerung. Da war die Begebenheit mit dem Flurfenster. Willi, der zehnjährige Bruder von Ilse Tiegler im Parterre, besaß eine märchenhafte Eisenbahn, mit Kisten voller Schienen, für Tieglers ganzen Garten reichend, der sich zwischen Siebweg und Hauswand an die dreißig Meter lang hinzog. Eines warmen Sonnentags bat Rudolf den großen Freund, die Eisenbahn aufzubauen.

Willi zeigte wenig Lust dazu. "Diese Woche nich mehr, sonst schimpt mein Vadder."

"Der kann gar nich schimpfen, is doch taubstumm."

"Du hast 'ne Ahnung. Wenn mein Vadder schimpt, is et schlimmer, als wenn dein Vadder und noch zwee dazu schimpen."

"Bist ganz schön feige."

"Selber feije."

"Ich? Überhaupt nich!" Sie standen auf dem Treppenpodest über Tieglers Wohnung. Willi zog Rudolf hinter sich her zum nächsten Podest. Er sperrte das schmale Seitenfenster auf. "Wenn de so tapfer bist, denn mach runter."

Rudolf schaute ungläubig. "Ich soll aus 'm Fenster springen?"

"Quatsch - runterpinkeln."

Rudolf knöpfte das Hosentürle auf, hielt sich am Schließknebel des schmalen Fensterrahmens fest und presste, was die Knabenblase nur hergeben wollte.

Willi war inzwischen hinuntergeeilt und genoss vom Hof aus das Schauspiel.

Anna Sahr, zwei Jahre älter als Willi, kam mit einem leeren Sack unter dem Arm und einer Sichel, um Kaninchenfutter zu holen.

"Vorsicht", sagte Willi, "da oben looft wat aus."

Anna schaute verständnislos. "Bist ja bescheuert", sagte sie zu Willi und ging erhobenen Hauptes weiter.

Willi raste nach oben und schimpfte im Flüsterton.

"Hättste noch 'n bissken jedrückt, hätte Sahrs Anna wat abjekriegt."

Rudolf entrüstete sich. "Leuten auf den Kopf pinkeln war nich ausjemacht."

"Wat denn sonst, du Dussel. Bloß einfach so, da hat doch keener wat von."

"Wir hol'n jetzt die Eisenbahn in den Garten, ja?"

"Leck mir de Boll'n." Willi gab dem Kleinen einen Stoß vor die Brust und verschwand nach unten. Nicht alle Tage bot sich ihm die Möglichkeit, der Mutter zu berichten, wie schweinisch sich Treulichs Rudi benommen habe.

Ohne sich die Schürze abzubinden, stapfte Frau Tiegler nach oben. Mit einem gehör- und sprachlosen Mann sowie zwei Kindern gesegnet, war die kleine, schmächtige Frau Neunundneunzigmal zum Keifen aufgelegt und einmal zum Freundlichsein. Grämlichkeit war zu ihrem normalen Gesichtsausdruck geworden. Auf dem obersten Podest stieß sie auf Rudolf. Der saß auf einer Stufe und grübelte über das Unerklärliche an manchen Freunden.

"Ach, da bist du ja, du kleines Ferkel."

Der Beschimpfte konnte nicht recht begreifen, warum Frau Tiegler so giftgeladen sprach. Resolut packte sie den Übeltäter beim Handgelenk, zog ihn bis vor die Wohnungstür der Treulichs und setzte die Klingel in Bewegung.

Als die Tür aufging, stand die Mama mit vor Erstaunen hochgezogenen Augenbrauen, und ehe sie eine Frage hervorbringen konnte, setzte sich Frau Tieglers Mundwerk in Bewegung. "Da haben Sie Ihren Schmutzfink!" Im Keifton haspelte sie den Hergang des Verbrechens ab.

Die Mama ignorierte den rhetorischen Aufwand, ihr Ärger konzentrierte sich auf das Ärgernis. "Stimmt das, Rudi, hast du das getan?"

Rudolf musste erleben, wie sich aus einer Lappalie ein Drama machen lässt. Zugegeben, er hatte aus dem Fenster gepinkelt. Aber nicht anständigen Leuten beinahe auf den Kopf. Und nicht er hatte den Willi Tiegler verführen wollen, es war umgekehrt gewesen.

Die Mama bekam eine senkrechte Falte zwischen den Augen. "Zum letzten Mal, hast du es getan?"

Rudolf entschloss sich, lieber als Bekenner dazustehen denn als lächerlicher Wenn-und-aber-Schwätzer. "Ja", sagte er laut und deutlich.

Frau Tiegler sagte mit genugtuungsgeschwellter Brust - obwohl eine solche nicht vorhanden - "Da sehen Sie es!"

Die Mama gab dem Sünder drei Klapse und zog die Wohnungstür hinter sich zu.

Rudolf war verstört, noch nie hatte er von der Mama Schläge bekommen. Sie ging mit ihm in die Stube, setzte sich, stellte den trotzig Schweigenden vor sich hin und sagte, er solle sie anschauen. "Die Klapse hast du für deine Dummheit bekommen, dich von diesem - diesem unehrlichen Bengel - anstiften zu lassen. Nun erzähle mal, wie es wirklich gewesen ist."

Dass die Mama angedeutet hatte, was sie von dem falschen Freund hielt, löste die Zunge des fast verlorenen Sohnes. Er berichtete, bis die Knabenseele sich frei fühlte. Die Welt war beinahe schöner als zuvor, da die Mama ihn an sich drückte und ihm einen Kuss gab, genau in die Mitte des Haarponys auf seiner breiten, bäuerischen Stirn.

Dachte Rudolf an dieses Begebnis, dann fühlte er es jedes Mal im Hals eng werden. Was für eine Mama hatte er doch gehabt.

Gern hätte er dem Papa erzählt, wie es wirklich bei den Jonders zuging, aber er hatte doch lauthals erklärt, er sei keine Petze. Einmal versuchte er es auf eine Art, von der er meinte, es sei keine Petzerei. "Zu dir ist Lotti immer nett, Papa - zu mir nie."

Der Vater fand es begreiflich und versuchte das Verständnis des Sohnes zu wecken. Die Lotti müsse doch nun vieles mit Rudolf teilen, die Mutterliebe, überhaupt alles, was es so gibt in einer Familie. Und wenn sie da manchmal ruppig werde, solle er als der Klügere tun, als merke er es nicht. Ob er ihm das versprechen wolle. Der Papa drückte den Sohn, boxte mit ihm und ging mit ihm die vielen schönen Übungen durch, die seit dem Tod der Mama fast vergessen waren. Rudolf juchzte, schrie und lachte, sie waren endlich wieder ein Herz und eine Seele, und diese Harmonie mochte der ach so verständige kleine große Sohn keinesfalls zerstören.

Doch immer häufiger sehnte sich Rudolf nach der Mama und nährte die stille Hoffnung, eines Tages würde sie wieder da sein. Äußerte er diese Hoffnung, dann reagierten die Älteren mit verlegenem Lachen oder unverständlichen Zurechtweisungen. Nur Edith, die meist vernünftig mit ihm sprach, aber immer zu wenig Zeit für ihn hatte, antwortete ernsthaft auf die Frage, warum wohl die Mama so lange fortbleibe. "Hör mal, Rudi. Du bist doch bald ein großer Junge, und da musst du wissen, dass deine Mama tot ist und gar nicht wiederkommen kann. Bitte das Schicksal, dass dein Papa sich eine neue Frau nimmt, dann hast du wieder eine Mama."

Des Kaisers Waisenknabe

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