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SECHSTES KAPITEL

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Je mehr die Freiheit eines Kindes

beschnitten wird, desto mehr Freiheiten

versucht es sich herauszunehmen.

Emil Treulich, den Sohn an der Hand, war auf dem Weg zu den Kötschers, sie fuhren mit der Vorortbahn von Grünau bis Warschauer Straße. Der frühe Sonntag zeigte ein verschlafenes Berlin. Rudolf genoss es, den Papa über alles Auffällige und Seltsame auf der Stelle befragen zu können. Sie gingen über die Warschauer Brücke zum Hochbahnhof, von unten warf eine Lokomotive Wirbel weißlichen Dampfs durch das Geländer. Bewundernd bemerkte der Sohn, das sei viel mehr Qualm, als neulich im Kasperstück der Teufel in seiner Hölle gemacht habe. Der Vater hob ihn hoch, und Rudolf konnte sich nicht sattsehen an der schnaufenden Maschine, die eine nicht enden wollende Kette von Güterwaggons hinter sich herzog.

Die Landpomeranze - so nannte ihn der Vater neckend - fuhr zum ersten Mal mit der Hochbahn. Schnell entdeckte Rudolf die Reklamesprüche, und der Papa las vor:

"Feuer breitet sich nicht aus - hast du Minimax im Haus." Nach der Erklärung, was ein Handfeuerlöschgerät bewirke, fragte der aufmerksame Zuhörer: "Aber wenn keiner zu Hause ist zum Spritzen?"

Gar nicht so dumm, meinte der Vater, auf diesen Pferdefuß sei nicht einmal er gekommen. Des Sohnes Blicke waren schon auf den nächsten Zweizeiler gerichtet. "Bei jedem Brand die Feuerwehr - bei Sodbrenn' aber Bullrich her!"

Der Senior erklärte, es gebe halt Leute, die zu fett äßen, und das bekomme ihnen nicht. Schluckt man nun einen Löffel Natron, hört das Sodbrennen auf. Der Herr Bullrich lasse das Natron in Päckchen tun und in Drogerien und Apotheken verkaufen. Auf den Päckchen steht Bullrich-Salz, es ist teurer als Natron, und von dem Mehrpreis ist der Herr Bullrich Millionär geworden.

Rudolf zog die Stirn kraus. Warum denn die Leute das kauften, wenn es teurer sei?

"Weil sie denken, was teurer ist, muss besser sein", bekam er Auskunft. Vor Nachdenklichkeit vergaß Rudolf die Blicke schweifen zu lassen, beunruhigt fragte er: "Papa, warum sind die Menschen so dumm?"

Betroffen nach einer Antwort suchend, drehte Emil Treulich seinen dicken Spazierstock aus fremdländischem Holz, der zu Rudolfs immer neuer Verwunderung fast so leicht wie aus Papier war. "Die Menschen sind dumm, weil sie dumm gemacht werden", sagte der Papa und wusste, das war eher eine Behauptung als die Erklärung eines Systems.

"Und wer macht die Menschen dumm?"

"Alle diejenigen, die davon reich werden."

"Wie der Herr Bullrich?"

"Du hast es erfasst."

"Aber warum hören die Menschen nicht auf ihre Papas?"

Emil Treulich wies darauf hin, dass nicht alle einen Vater hätten und nicht alle Väter klug genug zum Erklären seien, manche auch keine Lust hätten, weil die Söhne nicht fragten.

Aber Millionär wolle er schon gern sein, Rudolf wechselte das Thema, dann müsste er keine grünen Bohnen essen und würde sich eine neue Mama kaufen. Sollte das eine böse Stiefmutter sein, würde er sie in den Backofen schieben, wie es Hänsel und Gretel gemacht hatten, und Lotti und Hertha gleich noch hinterher.

Ernsthaft erschrocken, forschte der Vater: "Warum denn Lotti und Hertha?"

"Weil sie böse sind. Mehr verrate ich nicht, bin keine Petze." Rudolf presste die Lippen zusammen, und der Papa hütete sich, weiter in ihn zu dringen. Er legte den Arm um den Sohn. "Deshalb fahren wir doch zu den Kötschers, da ist keiner ein böser Mensch. Es sind Freunde von mir. Wirst sehen, wir finden auch eine Mama."

Vom Hochbahnhof Möckernbrücke fuhren sie noch ein Stück mit der Straßenbahn. Vor einem riesigen Haus mit Eingängen in der Großbeeren- und in der Kreuzbergstraße blieb Emil Treulich stehen und hielt Musterung. Er rückte am Matrosenhütchen des Sohnes und zog ihm die Falten aus den Strümpfen. Rudolf hatte dabei Zeit, sich umzuschauen. Auf der andern Straßenseite stand ein Gebirge mit einem Wasserfall. Der Papa sagte, das sei der Kreuzberg, und so bald wie möglich würden sie dessen Gipfel ersteigen. Auf dem Teich, in welchem der Wasserfall endete, schwammen Enten. Rudolf wäre am liebsten hingerannt, um sie zu streicheln. Doch dem Papa war Pünktlichkeit wichtiger als die Enten. "Wer unpünktlich ist, ist auch unzuverlässig", bemerkte er, als er prüfend auf die Uhr schaute. Mit der dem Sohn vertrauten Gebärde drückte er den Sprungdeckel zu und schob das gute Stück wieder in die Westentasche. Hätte es der Papa nicht so eilig gehabt, Rudolf hätte ihn gern nach der piekfeinen Uhr gefragt. Er kannte zwar deren Geschichte schon, aber sie erinnerte so schön an ein Märchen. Nach fünfzig Jahren als Leibkutscher beim Gutsherrn von Wenzensdorff sei der Großvater des Papas ans Sterbebett des Grafen geholt und von dem mit der Uhr beschenkt worden. Sie vererbte sich auf den Sohn, der wiederum Kutscher bei den Wenzensdorffs war. Des Papas Vater, Fritz Treulich, hatte das Erbstück später in Berlin schätzen lassen, und der Uhrmacher fand, das Schönste an dem Chronometer sei der eingravierte Spruch: "Treue gegen Treue". Ansonsten bestehe das Schmuckstück aus vergoldetem Tombak. Aus Rache gegen den falschherzigen Grafen brachte Großvater Fritz die Scheingoldene zum Pfandleiher und gedachte sie nie wieder zurückzuholen. Weil ihm die Geschichte mehr wert war als das goldene Andenken aus Tombak, hatte der Papa dann die Uhr eingelöst.

Auf Emil Treulichs Klingeln öffnete eine ältere Frau mit braunen Sanftaugen. Freudig drückte sie den Papa, als sei er ihr Sohn. Dann wandte sie sich dem Söhnchen zu. "Das ist also der Rudi." Sie half ihm aus dem Kinderpaletot und fuhr ihm übers Haar. "Ein großer Junge für sein Alter." Sie beugte sich mütterlich zu ihm nieder. "Sag Oma zu mir, Rudi."

Der grauhaarige Mann hinter ihr betrachtete aufmerksam den Jungen und forderte forsch: "Und zu mir sagst du Opa."

Brav erwiderte Rudolf: "Ja, Großpapa." Dabei dachte er, es riecht wunderbar nach Rouladen und Rotkohl.

Sie wurden in die gute Stube geführt, und dort erhoben sich vier Personen. Es waren Tante Gretchen, Tante Hedwig, Tante Hannchen und Onkel Otto. Der Onkel war athletisch gebaut, hatte blondes krauses Haar und blaue Augen, die wie sein frisches, rötliches Gesicht immer zu lachen schienen.

Dagegen hatte Tante Gretchens Gesicht fahle, großporige Haut, es wirkte ein wenig streng, wohl durch die klugen grauen Augen. Obwohl die Kleinste der Schwestern, weil etwas verwachsen, strahlte sie das meiste Selbstbewusstsein aus.

Tante Hannchen war unzweifelhaft die schönste. Dunkelhaarig, mit großen braunen Augen, hatte ihre leichte Üppigkeit etwas sehr Lebendiges. Sie gab ihm besonders freundlich die Hand und sagte mit wohllautender Stimme: "Nun, Rudi, wir werden uns gut verstehen, nicht wahr?"

Rudolf war ohnehin immer darauf aus, sich mit den Menschen zu verstehen, und ihn wunderte, warum Tante Hannchen dies extra betonte. Er kam nicht weiter dazu, darüber nachzudenken, denn Tante Hedwig trat näher und goss Lob über ihn. "Welch artiger Junge, wie feine Diener er macht." Sie beugte sich zu ihm nieder und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Wenn du mal Kummer hast, komm zu deiner Tante Hedwig."

Darauf blickte die Familie sie verweisend an. Zu seinem Glück sah es Rudolf nicht, denn Tante Hedwig gefiel ihm. Sie war aschblond wie die Mama, aber zierlicher als sie und hatte ein schmaleres Gesicht. Rudolf mochte solche Gesichter, wahrscheinlich, weil er selbst mit einem runden Bauernschädel und dementsprechenden Antlitz gesegnet war. Vor allem aber gefielen ihm die Augen Tante Hedwigs, sie waren grünbläulich. Nichts an ihr aber fand er so beeindruckend wie die Art, in der sie ihn begrüßt hatte.

Die Mama und der Papa hatten nie geduldet, dass Rudolf berlinerte, trotzdem fiel ihm auf, welch sauberes Deutsch bei Kötschers gesprochen wurde. Die Rouladen rochen immer aufregender, sein Magen knurrte immer lästiger, aber die Erwachsenen unterhielten sich, als ob man auch ohne Mittagessen leben könnte. Am liebsten hätte er Tante Hedwig um eine Stulle vorab gebeten, doch die scherzte mit dem Papa. Wiederum sah er die stechenden Blicke der anderen nicht, und damit er nicht noch draufkomme, nahm sich Tante Gretchen seiner an und führte ihn durch die Wohnung. Die Länge des Korridors erinnerte an die Fünfzigmeterbahn auf dem Spielplatz. Man konnte vorn hinausgehen und gelangte auf die Kreuzbergstraße. Ging man durch die hintere Wohnungstür, landete man auf der Großbeerenstraße. An die sechs, sieben Kleiderschränke standen den Korridor entlang, dazwischen gab es geheimnisvolle Nischen mit Vorhängen, auf den Schränken türmten sich Reisekörbe, kleinere Tiegel, größere Zuber, und auf einem fristete ein Schaukelpferd sein lichtloses Dasein. Angesichts der großen Wohnung kam Rudolf das eigene Zuhause plötzlich klein vor. Man trat dort in einen viereckigen Korridor, von dem fünf Türen abgingen; und sozusagen mit einem Schritt war man jeweils in der guten Stube, im Schlafzimmer, in der Küche, in der Badestube oder auf dem Treppenflur. Aber wenigstens ist unsere Wohnung heller, tröstete er sich, denn die meisten Zimmer der Kötschers lagen nach hinten hinaus, und schaute man die drei Stockwerke hinab in den Hof, dann konnte einem gruseln.

Tante Gretchen sah die begehrlichen Blicke des Jungen zum Schaukelpferd, sie nahm ihn rasch mit in ihr Zimmer und schlug vor, etwas zu spielen. Kein Erwachsener hatte ihm das jemals angeboten, vor Begeisterung vergaß er sein Magenknurren. Die Tante nahm die Schere und schnitt in einen Schuhkarton Fenster und einen Eingang, dessen Tür man ebenso auf- und zumachen konnte wie die Fensterläden. Das Haus hätten wir, meinte sie, nun brauchen wir noch die Leute dazu. Die schnippelte sie säuberlich aus einem Modeheft. Schnell war eine Familie mit Mutter und drei Töchtern vorhanden, es fehlte noch der Vater mit zwei Söhnen. Im Modeheft gab es nur Damen, also malte Tante Gretchen drei von ihnen um. Die eine bekam einen Vollbart, das war der Vater, die beiden andern wurden mit Stutzbärtchen versehen und konnten als Söhne gelten, nachdem durch gemalte Hosen und Strohhüte ihre Männlichkeit vervollständigt worden war. Sie spielten nun eine Art Familienstück, wobei Rudolf die Männerrollen zufielen. Die Tante sprach vor, wie man mit tiefer Stimme den Vater darzustellen habe. Die Töchter spielte sie mit hoher Stimme, die eine konnte ein Gedicht aufsagen, die andere ein lustiges Schnaderhüpferl singen. Vor Lachen musste Rudolf immer wieder das Spiel unterbrechen. Gern hätte er auch Jondersche Familieninterna vorgespielt, hätte nicht eine Tischglocke geläutet. Die Erwachsenen standen noch herum und plauderten, als sähen sie nicht, was an Appetitlichem von der Oma und Tante Hannchen hereingebracht wurde. Rudolf ahnte, dass ein solches Feiertagsmahl kein Zufall sein konnte, und er wusste noch nicht, dass Zeremonien sich weder um den Magen, die Seele noch andere Innerlichkeiten des Menschen kümmern und nur den Zweck haben, durchgeführt zu werden.

Endlich sagte die Oma: "So, meine Lieben ...!" Freundlich wies sie jedem den für ihn vorgesehenen Stuhl an.

Am oberen Ende der Tafel saß Emil Treulich mit seinem Söhnlein und daneben Tante Hannchen. Der Herr des Hauses residierte an der Stirnseite. Als alle sich hingesetzt hatten, klopfte er an sein Weinglas und wünschte laut "Guten Appetit!". Es wurde still, man war mit dem Auftun beschäftigt, Rudolf wurde gleich von zwei Seiten bedient. Der Papa tat ihm Kartoffeln auf den Teller, Tante Hannchen Rotkohl und Fleisch. Eben wollte Rudolf sich den ersten Happen einverleiben, als die Wohnungsklingel schrillte.

"Das ist Karl - wird seinen Schlüssel vergessen haben!" Die Oma eilte, um zu öffnen.

Der älteste Sohn trat ins Zimmer und wünschte allseits guten Appetit. Wohlgelaunt gab er Rudolf die Hand. "Da ist ja unser Steppke! Schmeckt es denn, mein Junge?"

"Weiß nicht", verkündete der Gefragte, "ich konnte doch noch nichts essen, weil du so spät gekommen bist." Allseits verlegenes Räuspern, am unbefangensten reagierte der Getadelte. "Tut mir leid, mein Kleiner, Sonntagsarbeit hat es in sich. Als ich schon gehen wollte, kam noch der Chef und hat mich mit seinem Gesums aufgehalten. Aber ein Meister hat zuzuhören und kann nicht sagen, das lässt sich auch morgen besprechen."

Das war an alle gerichtet, doch die Tischgesellschaft tat, als sei sie vollauf mit dem Essen beschäftigt. Rudolf würgte rasch seinen ersten Bissen hinunter und fragte: "Warum muss ein Meister zuhören, wenn ein Chef Gesums redet?"

Alles lachte, der Papa am lautesten. Onkel Karl legte Gabel und Messer hin und geriet ein wenig ins Dozieren. "Das, mein Jungchen, wirst du begreifen, wenn du zwanzig Jahre älter bist. Meisterstellen werden nämlich nicht angeboten wie Lakritzenstangen, weißt du?"

"Fragt sich nur, ob man unbedingt Meister sein muss."

Emil Treulich tat, als habe er nur laut gedacht, und säbelte genüsslich an seiner Roulade.

Karl Kötscher wischte sich langsam mit der Serviette über den Mund. "Du, lieber Emil, verdienst in deiner Spitzensparte ja genug, hast es nicht nötig, dich als Meister herumzuärgern."

"Ganz recht, Karl, an meiner Arbeit will ich Freude haben. Ich als fanatischer Gewerkschafter, wie du immer sagst, vergesse nicht den Spruch: Meister sind die Hofhunde des Kapitals."

Karl Kötscher warf seine Serviette auf den Tisch. "Phrasen, Emil. Mir genügt es, sozialdemokratisch zu wählen, und wenn man es geschickt anstellt, kann ein Meister manchmal mehr für die Kollegen herausholen als ein Radikalinski von der Gewerkschaft."

"Ich wollte nur daran erinnern, dass du als Feinmechaniker keinesfalls Hunger leiden musstest, Karl. Schon gar nicht jetzt, wo allenthalben frisch-fröhlich auf Kriegsproduktion hingearbeitet wird."

"Kriegsproduktion - Das ist doch der Propagandatrick von dem Hitzkopf Liebknecht. Ihr werdet mit euren Unkereien noch so lange machen, bis ihr den Krieg herbeigeredet habt." Karl Kötscher war beim letzten Satz laut geworden, sicherlich auch, um die eigenen Befürchtungen zu überschreien, die Emil Treulich ausgesprochen hatte.

Die Familie hatte dem Disput schweigend zugehört, denn das Familienoberhaupt, der kaisertreue Bahnbeamte Kötscher, hatte durch Blicke kundgetan, dass er keine allgemeine Diskussion wünsche. Er war fast immer anderer Meinung als Emil Treulich, doch sagte er nie etwas gegen ihn, denn seine Älteste, die Hanni, eine Hilfsarbeiterin im Packraum der Firma Gursch, könnte die eine bessere Partie machen? Solch einen Schwiegersohn in spe trieb man durch ständiges Widersprechen nicht aus dem Haus.

Rudolf war die Serviette aus dem Ausschnitt der Matrosenbluse gefallen. Er angelte sich das Tuch und breitete es sorgsam auf seinen Knien aus.

"Die Serviette gehört vor die Brust", bestimmte der Opa.

"Da rutscht sie immer weg", belehrte ihn der Kleine, "aber auf'm Schoß, da kann runterpurzeln, was will, nischt geht auf'n Teppich." Dem Lachen der Tafelrunde gebot der Hausherr mit einem angedeuteten Schlag auf die Tischplatte Einhalt. "Wenn ich sage vor die Brust, Bengel, dann gehört sie vor die Brust!"

Rudolf riss erschrocken die Augen auf, blickte Hilfe suchend zum Vater. Der reagierte lächelnd mit einem Augenzwinkern und schaute den Opa an. "Lassen wir es heute noch mal so, wie es ist, weil die Serviette nicht halten will und weil der Teppich geschont werden soll. Einverstanden?"

"Meinetwegen", brummte der so freundlich Entthronte.

Wunderbar, wenn das David-Goliath-Problem auch mal von einem Stärkeren gelöst wird. So ungefähr dachte Rudolf und aß voller Behagen weiter, obwohl die Erwachsenen bereits beim Nachtisch waren. Der Heißhunger war gestillt, er aß nun, weil es noch immer schmeckte und weil er sich sagte, wer weiß, wann du wieder einmal so etwas Feines aufgetischt bekommst.

Die Oma und Tante Hannchen begannen bereits abzuräumen, und Rudolf hatte plötzlich das Gefühl, er sei in ein enges Korsett gezwängt. Aber dort stand noch das Schälchen mit den süß-gelben Kürbisstückchen. Die hatte er das letzte Mal bei seiner Mama bekommen, sie schmeckten teuflisch gut. Hastig löffelte er das Kompott. Die Erwachsenen blieben noch im Zimmer, der Papa und Onkel Karl "dischkerierten" wieder, und Onkel Otto protestierte, "nun lasst endlich die Politik. Was sagt ihr zur letzten Zwei-zu-eins-Niederlage von Schalke 04?"

"Liebes Ottchen", tadelte Karl den jüngeren Bruder, "du bist doch kein Halbwüchsiger mehr. Worüber wir sprechen, sollte langsam auch dich interessieren."

"Als Bankangestellter braucht man Bewegung. Fußball ist nun mal mein Lieblingssport."

Emil Treulich sprang seinem Diskussionspartner bei. "Bis vor wenigen Jahren hat mir das Strampeln auf dem Veloziped die notwendige Bewegung verschafft. Dass man sich aber auch in Form halten kann, wenn man Fußballresultate durchhechelt, ist mir neu."

Otto wollte eben zu empörtem Widerspruch ansetzen, als Rudolf die Lage entspannte. "Papa - ich bin - so - so schwitzig" stammelte er. Taumelig ging er auf den Vater zu. Der bückte sich und packte ihn bei den Armen. Tatsächlich, der Spross hatte Schweißperlen auf der Stirn. "Was ist denn, Junge?" fragte er besorgt. Der Junge stotterte: "Mir is - so - so komisch." Er fiel dem Vater um den Hals und heulte verhalten.

"Um Gottes willen, der Junge hat doch nichts Falsches gegessen!" Oma kam aus der Küche gestürzt und trocknete sich hastig die Hände an der Schürze ab. Ihre sanfte Stimme wurde energisch. "Gretchen, du deckst Ottos Bett ab! Hedwig, hole Hingfong aus dem Medizinschrank! Du Hanni, ziehst den Jungen aus!"

Binnen Kurzem lag Rudolf in weißem Linnen. Noch nie hatten sich so viel Leute um ihn gesorgt. Tante Hedwig streichelte ihm die Wangen, Tante Hannchen rieb die kalten Hände und Füße, und Tante Gretchen kam mit dem Schuhkartonhaus. Sowie er wieder auf dem Damm sei, könne er es nach Bahnsdorf mitnehmen. Der Hingfong hatte erst in Hals und Magen gebrannt, dann aber eine wohltuende Wärme erzeugt.

Die Männer zogen sich zurück, nur die Tanten umflatterten noch die Lagerstatt des armen Kranken, der sehnsuchtsvoll dachte, wenn sich Tante Hedwig eine Weile neben mich legte, wäre es fast so, als wäre ich wieder bei der Mama. Leider war Tante Hedwig keine Gedankenleserin, dafür kam Tante Gretchen mit einer Mandoline und sagte, sie würde dem Jungchen ein Schlaflied singen. Während sie ihre Mandoline stimmte, hörte Rudolf die Männer draußen über ihn sprechen, und er hörte auch, wie der Opa sagte: "Macht nicht solch Theater mit dem Bengel. Der ist bloß fresskrank." Emil Treulich sagte etwas, was Rudolf nicht verstand, darauf fragte der Opa, ob der Junge immer so viel esse. Der habe ja eingefahren, dass einem Angst werden könne. Er hat was gegen mich, dachte Rudolf, er guckt mich immer an, als wenn er mich weghaben möchte. Zum Papa ist er nett. Aber er verstellt sich. Wie die Jonders.

Rudolf tat der Tante den Gefallen und spielte den sanft Eingeschlafenen. Nun lag er allein, und in seinem Magen rumorte es. Er musste an den Besuch beim Großvater Treulich letzte Weihnachten denken. Da waren die Eltern mit ihm bis Jannowitzbrücke gefahren. Zur Blumenstraße war es dann nicht weit. Großvater Fritz Treulich hatte sich nach dem Tod der Großmutter, einige Zeit vor Rudolfs Geburt, eine junge Frau genommen, mit einer kleinen Elfriede, die zwei Jahre älter war als ihr "Neffe" Rudi. Rudolf nannte Elfriedes Mutter Tante Mariechen. Zierlich und heiteren Gemüts, hatte sie Mühe, ihr Töchterlein im Zaum zu halten, denn Elfriede war "ein Ass uff de Jeije", wie sie stolz von sich selbst behauptete. Sie hatte das Weihnachtsgedicht der Kleinkinder auf berlinisch umgedichtet und es Rudolf eingetrichtert.

Die Lichter des Weihnachtsbaumes waren eben angezündet, als es auch schon die Treppe der Kellerwohnung heruntergepoltert kam. Knecht Ruprecht, in Schaftstiefeln, Pelzmantel und Zipfelmütze, einen Sack über der Schulter und eine Rute in der Hand fragte: "Seid ihr alle da?" Rudolf schrie am lautesten: "Jaaa!" Die Stimme des Weihnachtsmanns hörte sich bekannt an, auch hatte er einen genauso schönen Bart wie der Großvater. Und der hatte ausgerechnet zu dieser wichtigen Stunde dringlich weggemusst. Der Kleine witterte etwas, das stimmte ihn übermütig, und als er im Raubass gefragt wurde, ob er ein Gedicht aufsagen könne, deklamierte er Elfriedes Umdichtung:

"Lieber oller Weihnachtsmann

kiek mir nich so schofel an

pack die doofe Rute ein,

denn brauche ick nich artich sein!"

Knecht Ruprecht entrüstete sich. "Schämste dir nich, den lieben Weihnachtsmann zu veralbern? Dafür kriegste was auf den Hintern!" Scheinbar zornig legte er den Frechling übers Knie und holte mit der Rute aus. So war der Großvater nie mit ihm umgegangen, und Rudolf bekam einen Todesschreck. Also schien es ein echter Knecht Ruprecht zu sein. Wenn der das ins große Buch schrieb und alle Jahre die Quittung mit der Rute brachte! Der Delinquent schrie.

Die Erwachsenen sahen das Umkippen in die bleiche Angst und spielten nun ebenfalls Komödie. Onkel Wilhelm brüllte: "Hör mal, Weihnachtsmann, so böse is man doch nich zu kleene Jungs!" Sie fielen über Knecht Ruprecht her und raubten ihm Sack und Rute. Unter Hilferufen floh er die Treppe hinauf und ward nie mehr gesehen. Beim Ausschütten des Sacks kamen etliche Köstlichkeiten zutage, und Rudolf fragte, ob er wohl von dem rosigen Marzipanschwein kosten dürfe.

Der Großvater erschien, der Enkel erzählte und schloss: "Der is vielleicht rausgefeuert worden, Großvater, und mir hat er das Schwein mit'm Holzbein geben müssen." Rudolf hatte inzwischen das eine Hinterbein abgenagt, und da war ein Wurstspeil zum Vorschein gekommen. Wahrscheinlich sei das ein Veteran von Leipzig-Einundleipzig, vermutete der Großvater, nach solch erhebenden Kriegen liefen leider immer eine Menge armer Schweine mit einem Holzbein herum. Der Enkel verstand die Ironie des Alten nicht, verspeiste zielstrebig das Marzipanschwein, und es blieben lediglich vier sauber abgenagte Speile von ihm. Rudolf aber fühlte sich bald recht unbehaglich. Auch Elfriede schien bedrückt. Eine entfernte Patin hatte ihr wohlverpackt eine Puppe geschickt, die fast ebenso groß war wie der Neffe Rudolf. Sie trug ein weißes Kleid und Lackschuhe, klappte die Augen zu und quiekte "Mama", sofern man sie waagerecht legte. Statt zu jubeln, erklärte das gewitzte Mädchen: "Da darf ick ja doch nich mit spieln." Diese Prophezeiung entbehrte nicht der Realistik. Tante Mariechen, von armen Häuslern im pommerschen Dorf Katerbow abstammend, dachte nicht daran, das Geschenk, welches "ein klotziges Geld" gekostet haben musste, der Gefahr einer Beschädigung durch Kinderhände auszusetzen. So stand die Puppe all die Jahre als Prunkstück in der Ecke des Sofas mit dem Paneel, auf welchem sich allerhand Raritäten reihten: Andenken an Großvaters Kutscherzeit. Für den Enkel Rudolf immer wieder Anlass, Fragen zu stellen, um dann mit glänzenden Augen die Geschichten aus der Markusgasse anzuhören.

Nun lag Rudolf in einem fremden Bett und hatte ein schlechtes Gewissen. Das erste Mal zu Besuch und gleich der neuen Oma Scherereien gemacht. Sie war wirklich lieb, aber die Tanten hatten ihn alle ein bisschen wie ein Baby behandelt. Wo ihn der Papa doch in der letzten Zeit ein paar Mal seinen großen Jungen genannt hatte. Ob man der Oma beichtete, dass man schon lange kein solch herrliches Essen gesehen hatte. Hoffentlich gab sich bald das Magengrimmen, den lieben langen Sonntag im Bett, das wäre nicht auszudenken. Onkel Otto musste noch ausgefragt werden, denn auf dem Spielplatz in Bahnsdorf wurden alle möglichen Spiele gespielt, nur kein Fußball. Und richtig aufregend, was Tante Gretchen alles konnte. Eigentlich müsste man sich die zur Mama wünschen, wäre sie nicht so klein und gebrechlich. Derart geisterten Sorgen in Rudolfs Kopf, bis er davon müde wurde. Beim Einschlafen tröstete ihn, dass man auswählen könne. Sicherlich würde der Papa Tante Hedwig nehmen, sie war am meisten lieb gewesen.

Von der Fahrt und allem danach überfordert, hatte der vom Opa zu Unrecht als Fresssack Bezeichnete einen langen Schlaf. Als er des Morgens geweckt wurde, wollte er nicht glauben, es sei bereits Montag. Tante Hanni wusch ihn, es war gründlicher als die eigenhändige Wäsche unter Aufsicht des Papas, der längst nicht alle Jungentricks kannte. Mit Tante Hanni setzte er sich an den Frühstückstisch, der Papa sagte, er müsse zur Arbeit, werde aber zur üblichen Zeit zu Hause sein, inzwischen fahre Tante Hanni mit Rudolf nach Bahnsdorf.

"Tante Hanni?" entfuhr es dem Jungenmund.

"Selbstverständlich, Sohnematz, sie ist bald deine Mama und freut sich darauf, mit dir nach Bahnsdorf zu fahren. Du kannst ihr den Weg über den Kirchsteig zeigen und überhaupt alles, was sie kennen muss, zum Beispiel den Schlächter Schöler. Von dort bringt ihr Koteletts für das Mittagessen mit."

Das war ein fertiges Programm, unter dem Rudolfs Jungenwünsche schier begraben wurden, dennoch sagte er mit Zittern in der Stimme: "Ich wollte aber Tante Hedwig als Mama."

Tante Hanni bekam ein erschrockenes Gesicht, Emil Treulich jedoch lachte. "Der Papa hat nun einmal Tante Hanni lieb, und auf dem Standesamt kann er nicht sagen, ich bitte um zwei Frauen, weil mein Sohn die Tante Hedwig wünscht."

Das war freundlich gesprochen, es schmerzte den Betroffenen dennoch, Tränen rannen ihm die Wangen hinab. Er kämpfte dagegen an, doch um so schlimmer wurde es. Wenige Monate eines Waisenknaben lagen hinter ihm, doch die genügten, den Verlust der Mama nachträglich zu durchleiden, nun, da er zum zweiten Mal eine Mama verlor.

Des Kaisers Waisenknabe

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